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Wir hatten Ismail 2016 zu einem Vortrag auf dem Stiftungssymposium eingeladen. Da die USA seinen Pass einbehielten, konnte ihm kein Einreisevisum gewährt werden. Die deutsche Übersetzung des folgenden Vortrags haben wir deshalb in seiner Abwesenheit verlesen.
Hegel hat es zuerst gesagt. Er hatte das erste, er hat das letzte Wort: „Wie Europa überhaupt das Zentrum und das Ende der Alten Welt ist und absolut der Westen ist, so ist Asien absolut der Osten.“[1] Diese Erklärung, der erste Satz allen Eurozentrismus, erschafft Europa als den Westen und das Zentrum, das Zentrum und das Ende, den Zweck und das Ziel, als das Erste und das Letzte; das Letzte und deshalb das Erste.
Hätte ich die Wahl, dann würde ich diese Gabe – this offering – meinen ersten öffentlichen Vortrag in Deutschland – mit einer Anrufung des Türöffners Nietzsche eröffnen: schon deshalb, weil der leitende Begriff dieses Symposium der Begriff der „Weltoffenheit“ ist – openness to the world. Doch Hegel war vor mir da.
Hegels Europa. Einerseits: das Zentrum, der Dreh- und Angelpunkt, der Kern, die Grundlage, das Haupt, das gründende und das bestimmende Prinzip. Andererseits: das Ende, der Zweck, das Ziel, der Schluss, das Ultimative, das telos. Europa als das, was bleibt, das, was sich niederlässt. Um Frantz Fanon zu zitieren: „absoluter Beginn“ und „immerwährende Ursache.“[2]
Im Unterschied dazu – Asien: Europa richtet sich aus, indem es den anderen Kontinent beiseiteschiebt, den einzigen anderen Kontinent von Bedeutung: der nur als das Andere von Bedeutung ist. Ohne Asien gäbe es kein Europa. Die beiden hängen unauflöslich zusammen. Hegel unterscheidet die Kontinente, indem er sie aufeinander aufstuft; seine Philosophie der Geschichte suggeriert, dass sie sich gegenseitig prägen. Tatsächlich, ohne Europa gäbe es gar kein Asien, schon weil Letzteres nach einer griechischen Gottheit benannt wurde. Asien wurde von Europa abgestempelt. Unsere Waren und Güter mögen „made in Asia“ sein; doch Asien selbst ist „made in Europe“.
Auch Asien ist ein Erstes und Letztes, ist deshalb aber das Letzte, supervened, superseded, überkommen und abgelöst durch die Bewegung der Geschichte selbst. Räumt Hegel, ihr Übervater, ein, dass die Sonne auch über dem älteren Kontinent aufgeht, handelt es sich um eine mindere, um die bloß „äußerliche physische Sonne“: „In Asien (…) geht die äußerliche physische Sonne auf, und im Westen geht sie unter. Dafür aber steigt hier die innere Sonne des Selbstbewusstseins auf, die einen höheren Glanz verbreitet.“[3] Diese höhere Sonne, die Sonne auf die es ankommt, peeks exclusively at, peaks exclusively over Europe, sieht nur auf Europa, erreicht ihren höchsten Punkt über Europa. Muss ich Sie daran erinnern, wie uns Nietzsche in seiner Genealogie der Moral zeigt, dass die Begriffe der Moral, des Guten und des Wahren von den Noblen, von der Aristokratie geprägt wurden, die sich im Nachhinein erst (metaleptisch) an sie gebunden haben? In gleicher Weise, wie uns ein anderer Sohn, ein von einer reinen, vom Patriarchat unbefleckten Frau geborener Sohn in der Bibel versprochen hat, dass die Letzten die Ersten sein werden: jedenfalls im Himmel? Hegel hat das auf die Erde übertragen, an Europa übertragen, genauer noch: an Deutschland übertragen.
In unserer postkolonialen Zeit kann man sich nicht mit Europa befassen, ohne sich mit diesem autoritativen In-Szene-Setzen der Geschichte zu befassen, dieser Erhebung eines bestimmten Ortes zum Ort überhaupt, zu dem Ort, der andere autorisiert, indem er ihnen ihren Namen gibt. Eigentlich passé, dauert das fort, verlangt es noch immer eine Antwort. Doch sollte diese Antwort ein Aufruf zu größerer Offenheit sein? Kann Europa überhaupt offener sein?
Um es mit anderen Worten zu sagen: Der Eurozentrismus incites, excites die Postkolonialität – er stiftet sie an und er regt sie auf. Postkolonialität kommt deshalb gar nicht umhin, diese Herausforderung anzunehmen: Würde es, könnte es ohne den Eurozentrismus überhaupt so etwas wie Europa geben? Immerhin ist Europa ja keine unbezweifelbare geographische Tatsache, im Gegenteil: die Disziplin der Geographie selbst räumt ausdrücklich ein, dass Europa und Asien ihrer Namensgebung die Stirn bieten. Uns führt das auf die Frage nach der disziplinären Vernunft, einer in wissenschaftliche Disziplinen aufgespaltenen Vernunft: zwingt uns der Eurozentrismus (eine Struktur, die systematisch eine andere Struktur, die der modernen episteme, des modernen Wissens, beugt), zwingt uns also der Imperativ, Europa als das Haupt zu erschaffen, nicht den Begriff des Kontinents auf, und prägt er damit nicht die Disziplin der Geographie selbst? Und enthüllt uns der Begriff des Kontinents nicht die Abhängigkeit der disziplinären Vernunft von der Ideologie? Die georassische Linie schneidet Europa und Asien ein, incising, excising, sie schneidet Europa von Asien ab und separiert damit die weißen von den braunen und den gelben Rassen.
Lassen Sie mich noch einmal die Frage wiederholen, die mich beunruhigt und von der ich hoffe, dass auch sie von ihr beunruhigt werden: Würde es, könnte es ohne den Eurozentrismus Europa überhaupt geben? Und: Wenn Europa gleichbedeutend ist mit Eurozentrismus: sollte es Europa dann überhaupt geben, diese Tautologie, diesen maßlosen, unmäßigen Kontinent – this incontinent continent? War Europa nicht immer hemmungs- und zügellos – incontinent – und derart offen zur Welt, weltoffen? Offen, im Namen des Guten, um zu erobern, zu besiedeln, auszubeuten, zu zwingen, zu infizieren, zu belehren, zu patronieren, um abzuwerten, um alle anderen Kontinente zu terrorisieren, um über sie Bombenteppiche abzuwerfen? Europa hat die Menschenrechte entworfen, Europa hat das den Menschen Unrichtige entworfen: human rights and human wrongs. Seine Güter sind seine Übel. Wie kann deshalb die Postkolonialität offen sein für Europa, selbst wenn es ein anderes Europa wäre? Ist ein anderes Europa möglich, ist es überhaupt vorstellbar?
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In seinem Buch Die Verdammten dieser Erde fordert Frantz Fanon die Dritte Welt auf, Europa zu „verlassen“ und damit aufzuhören, es „nachzuäffen“.[4] In graphischen, nicht in geographischen Ausdrücken wirft er Europa vor, die Dritte Welt tiefgreifend geschwächt zu haben, zugleich physisch, psychisch und epistemisch, also auch dem Wissen nach und im Wissen. Und trotzdem kommt Fanon, der auf Französisch schreibt und weil er auf Französisch schreibt, gar nicht umhin, Europa zu wiederholen, die Bibel zu wiederholen, in einem Satz, der die Dekolonisierung selbst zusammenfasst: „Das geforderte Minimum ist, dass die Letzten die Ersten sein werden.“[5]
Der Text enthüllt, dass der Erste bleiben wird: „Das Argument, das der Kolonisierte gebraucht, hat ihm der Kolonialherr geliefert.“[6] Verdoppelnd, hin- und herpendelnd zwischen undoing and redoing, zwischen ungeschehen machen und wieder geschehen lassen, tritt die Dekolonisation bei Fanon als etwas hervor, das den antizipierten „Neuen Menschen“ vorab schon zur Mimesis nötigt, ihn dazu zwingt, nicht er selbst zu sein, sondern den Kolonialherrn, den Siedler zu imitieren.
Wütend, außer sich gebracht durch Europa, schlägt sein Text Breschen in die Hürden, die dem Kolonisierten gesetzt worden sind, der eine „in zwei Abteile getrennte Welt“ bewohnt: „Die Stadt des Kolonialherren ist eine solide Stadt, ganz aus Stein und Eisen. (…) Die Stadt des Kolonisierten, (…) die Eingeborenenstadt, das Negerdorf, (…) ist eine Welt ohne Zwischenräume, die Menschen sitzen hier einer auf dem anderen, die Hütten eine auf der andern. (…) Die Stadt des Kolonisierten ist eine niederkauernde Stadt.“[7] Der Befehl des Kolonialherren lautet: „Du sollst nicht!“
Hat sich dieses Europa, das Europa des Kommandos, verändert?
In seinem eigenen Zuhause eingekerkert, bleibt dem Eingeborenen nur die Wahl zu träumen, Träume seiner Wahl zu träumen. Er träumt von unbeschränkter Bewegung, von sportlicher Gewandtheit, von der Übung seiner maskulinen Muskeln. Wie die Dekolonisierung, so besetzt Die Verdammten dieser Erde einen Ort der Rast, an dem der rastlose Eingeborene sich niederlassen könnte. An seinem eigenen Ort um seinen Ort gebracht, versucht der Eingeborene den Kolonialherren, den Siedler zu erbrechen: „Es gibt keine mögliche Versöhnung, eines der beiden Glieder ist zuviel.“[8] Er versucht, den Besatzer aus dem Blick zu bekommen, doch er scheitert.
Gebunden bei Tage, ungebunden in der Nacht, wird der Eingeborene – per Definition der Außenstehende – zum Eindringling in die europäischen Zone, die ihn noch nach Sonnenuntergang blendet. In die Intimsphäre eindringend, sie überschreitend, will auch er haben und behalten, „alle Arten von Besitz: sich an den Tisch des Kolonialherren setzen, im Bett des Kolonialherren schlafen, wenn möglich mit seiner Frau.“[9] Sich niederlassend am Ort des Anderen, eingebildeterweise, doch ohne jede Anteilnahme. Der Besatzer bleibt im Bild, er bleibt im Rahmen. Auf den Raub des Siedlers – purloining – antwortet der Eingeborene, indem er zum Dieb wird – loining –, er setzt der Gewalt – violence – den Missbrauch – violation – entgegen, einschließlich der Gewalt – violence – gegen die Frau, ein Objekt, das anderen leblosen Objekten gleicht, Möbel und Ausstattungsstück wie das Bett und der Tisch. Indem Die Verdammten dieser Erde den heteropatriarchalen Rahmen zu Tage bringt, in dem die Vergewaltigung als Rache erscheint, als ein Missbrauch des Menschen – a violation of the man, nicht der Frau, woman, verhöhnt das Buch Fanons den Kolonialherren: I will fuck you – and your wife.
Der Postkolonialität zeigt Die Verdammten dieser Erde die Grenzen einer zum Programm erhobenen Dekolonisierung auf, die Schwierigkeit, Europa zu verlassen. Wo die Dekolonisierung sich niederlässt und sich beruhigt – where decolonisation settles – stift Postkolonialität Unruhe – postcoloniality unsettles.
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Unruhe aber stiftet auch Fanons Text: „Die Ursache ist die Folge: man ist reich weil weiß, man ist weiß weil reich.“[10] Nietzsche näher als Hegel, macht diese Formulierung den Erfolg der Kolonialherren zu einem Effekt der Herrschaft, nicht eines Vermögens, das der Rasse einwohnen würde. Sie stülpt die Behauptung Edward Tylers um, des Begründers der britischen Sozialanthropologie. Tyler zufolge nimmt die Zivilisation in dem Maß zu wie die Pigmentation, die Masse der farbgebenden Substanzen, abnimmt: eine Behauptung, nach der die Geschichte für Tyler zu einem Geschehen wurde, in dem der Fortschritt farbigen Linien folgt, von der brauen über die gelbe zur weißen Rasse, der letzten, doch der ersten Rasse im Wettrennen der Zivilisation. Dabei folgt Tyler Hegel auch darin, dass er den Schwarzen ganz außerhalb der Geschichte verortet.
So legt Fanons Satz „Die Ursache ist die Folge: man ist reich weil weiß, man ist weiß weil reich“ Rechenschaft ab von der Rasse: Das Weißsein ist eine Folge und keine anthropologische oder sonst wie natürliche, also wissenschaftliche Tatsache. Fanons Satz verbindet den Begriff und die Macht, die disziplinäre Vernunft und die Ideologie. Damit erscheint die Rasse als der Komplize des Kolonialismus in der Erkenntnis: sie ist unverzichtbar für die Arbeit der Interpellation, der ideologischen Anrufung, der Erzeugung des Getrennten und des Ungleichen: white as right, black lack – das Weiße als das Rechte, das Schwarze als der Mangel. Dabei gilt auch das Umgekehrte: Das Schwarze ist die Quellkategorie des Weißen, des Eurozentrismus, und nicht das Zeichen, der Signifikant einer Selbstheit in sich. Ohne das Weiße gäbe es kein Schwarzes, ohne das Weiße hätte es das Schwarze nie gegeben. Wie Europa und Asien, so ist auch der Eingeborene immer schon vom Siedler zerklüftet, extim zum Weißen, nicht intim oder identisch mit sich selbst.
So, wie er komponiert wurde, dekomponiert Fanons Text sich selbst: „Jedesmal, wenn von westlichen Werten die Rede ist, zeigt sich beim Kolonisierten eine Art Anspannung, ein Starrkrampf der Muskeln. (…) Es geschieht, dass der Kolonisierte, wenn er eine Rede über die westliche Kultur hört, seine Machete zieht.“[11] Komplizenhaft, die Eroberung, den Raub und die brutale Gewalt autorisierend, lähmen die westlichen Werte den Eingeborenen, lähmen seinen Kinnladen, seinen Mund, das Organ des Sprechens. Wie verlockend die Gewalt da auch sein mag, gilt es doch mit allem Nachdruck darauf zu verweisen, dass Fanon selbst, von den westlichen Werten um seine Sprache gebracht, vom Westen als einem Wert an sich sprachlos gemacht, keine Machete zieht, sondern ein Buch schreibt: writes a book, doesn’t wright a knife.
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Im Rest dieses Vortrags wende ich mich jetzt der Schwierigkeit, wenn nicht der Unmöglichkeit zu, Europa zu verlassen, also der Notwendigkeit, den Eurozentrismus zu beunruhigen, zu ent-siedeln, to unsettle eurocentrism. Ich mache das im Bezug auf Texte, mit denen ich vertraut bin, Texten der modernen anglo-amerikanischen episteme. Deshalb wende ich mich nicht der von unserem Symposium hier an- und aufgerufenen Allgemeinen Erklärung der Rechte der Menschen und Bürger zu, sondern der Declaration of Independence des Jahres1776, der Unabhängigkeitserklärungder Vereinigten Staaten von Amerika, einem anderen universalistischen Dokument. Wir werden sehen, dass der Universalismus sein Versprechen nicht hält, weil er den Menschen immer in das Subjekt und dessen Anderes hierarchisieren wird. Darin, so behaupte ich, liegt das Problem, dem Postkolonialität konfrontiert ist: Es ist die disziplinäre Vernunft, das moderne Wissen selbst, dass diese Differänzierung (differanciation) autorisiert.
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Empört über Britannien, naturalisiert die Declaration of Independence die Emigranten aus Europa zu Einheimischen Amerikas und ruft den Siedler als den Eingeborenen an. Damit macht sie die Kolonie, ein abhängiges Gebilde, zum unabhängigen Staat. Sich von Britannien abspaltend, öffnet die Erklärung, indem sie schließt: „Wenn im Gange menschlicher Ereignisse es für ein Volk notwendig wird, die politischen Bande zu lösen, die sie mit einem anderen Volk verknüpft haben, und unter den Mächten der Erde den selbstständigen und gleichen Rang einzunehmen, zu dem die Gesetze der Natur und ihres Schöpfers es berechtigen, so erfordert eine geziemende Rücksicht auf die Meinung der Menschheit, dass es die Gründe darlegt, die es zu der Trennung veranlassen.“[12]
Die Formulierung rezitiert die britischen Philosophen John Locke und Thomas Hobbes und damit den Schnitt- und Kreuzungspunkt, den sie in der Heraufkunft der Modernität markieren, den Punkt, der die universale maskuline Gleichheit proklamiert – man: Mensch, man: Mann – und so den Menschen in zwei Bestimmungen differänziert, Natur und Gesellschaft, die erste von dem faulen Eingeborenen, dem wilden Amerikaner, verkörpert, und die zweite von dem fleißigen, dem zivilisierten Engländer.
Während er ein eigenes politisches Gebilde erschafft, räumt der Text die Parteilichkeit der Auflösung ein. Hin- und herpendelnd zwischen undoing and redoing, zwischen ungeschehen machen und wieder geschehen lassen, scheitert sein Versuch, Britannien aus dem Bild zu schieben, außer Blick zu bringen. Obwohl sich die „guten Leute”, the good people of these colonies, die einen Kontinent besetzt haben, von den Leuten jenseits des Atlantiks unterscheiden wollen, bleiben die beiden eins, weil in der Lösung der Bande andere Bindungen bestehen bleiben und von der Erklärung auch gar nicht gelöst werden können. Denn obwohl „unsere britischen Brüder (…) der Stimme (…) der Blutsverwandtschaft gegenüber taub geblieben sind”, leihen die Vereinigten Staaten ihnen ihr Ohr, antworten sie mit tiefer Anteilnahme auf ihren Ruf, bleiben sie ihnen brüderlich verbunden, einem gemeinsamen Vater verpflichtet, einer fortdauernden Beziehung. Die Vereinigten Staaten verdoppeln ihren britischen Bruder und Anderen, ihren brother/other, bleiben von ihm und durch ihn gezeichnet. Nach einem Europäer benannt – dem Italiener Amerigo Vespucci –, können die Vereinigten Staaten Europa gar nicht den Rücken kehren: ohne Europa keine Vereinigten Staaten.
Die Kernformulierung der Unabhängigkeitserklärung erachtet „folgende Wahrheiten (…) als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.“ (a.a.O.) Damit wird das Subjekt erzeugt – engendered –, man: Mann/Mensch, als der von sich überzeugte Kunstgriff, die Mimikry Gottes, Träger zugleich von der Natur wie von der Theologie gewährter maskuliner Rechte, naturgegeben weil von der Theologie gegeben, eine göttliche Aussteuer, die als solche über jeden Beweis und jede Diskussion erhaben ist und nicht ent-fremdet werden kann. Die Erklärung eröffnet die Debatte, indem sie sie schließt.
Weil der Text seine Wahrheit und Bedeutung von der ultimativen transzendenten Macht bezieht, ist er kein säkularer Text. Der Vater des Sohnes, der Vater aller Söhne rahmt und durchstrahlt ihn. Während er die Gleichheit aller Menschen ausspricht, behauptet er zugleich, dass einige Menschen stärker unter der Tyrannei Georges III leiden mussten als andere. Die „lange Reihe von Missbräuchen und Übergriffen“, die die Erklärung „einer unparteiischen Welt“ gegenüber als Tatsachen schildert, beschuldigt den aus dem Haus Hannover stammenden britischen König unter anderem „des Auferlegens von Steuern ohne unsere Einwilligung“ und „des Entzuges der Vergünstigungen eines ordentlichen Gerichtsverfahrens.“ (a.a.O.) Tatsächlich trafen diese Verfehlungen nur eine Elite: diejenigen nämlich, die durch das Zahlen von Steuern und das Recht auf ein Gerichtsverfahren vor Anderen ausgezeichnet waren. Ist die Unabhängigkeitserklärung für uns ein Dokument der Gleichheit aller Menschen, das die Vereinigten Staaten, einzig unter allen anderen Nationen, auf eine Idee und ein Ideal und nicht auf eine besondere gesellschaftliche Gruppe gründet, zeigt sich das in ihrem Zentrum stehende Subjekt der Rechte als ein europäisches und christliches Subjekt, das männlich ist und der herrschenden Klasse angehört. Der Kapitalismus und das Patriarchat haben dieses Subjekt infiziert, von dem der Text deshalb auch sagen kann, dass es den Briten mit „männlicher Festigkeit“ entgegentritt, eine Formulierung, die Maskulinität mit Stetigkeit, Integrität und Sesshaftigkeit – settledness – gleichsetzt.
Um mit der Auflistung der „langen Reihe von Missbräuchen und Übergriffen“ die Ursache zur Folge machen zu können, wirft die Erklärung George III vor, „den uns zugehörigen Teil der See geplündert, unsere Küsten verheert, unsere Städte niedergebrannt und das Leben unserer Leute vernichtet“ zu haben. Diese Untaten, die „ihresgleichen kaum in den barbarischsten Zeiten finden, und die des Oberhauptes einer zivilisierten Nation völlig unwürdig sind“, erheben das Haus Hannover zu weltgeschichtlicher Größe und erniedrigen es zugleich von der Höhe der Zivilisation auf den Stand der Barbarei. Die Verwandlung der Kolonie in einen Staat naturalisiert, ver-natürlicht die Eroberung und nutzt dazu das Possessivpronomen, mit dem sie das Land der Native Americans nachdrücklich zu „unserem“ Land und im selben Zug den Siedler, den Eroberer zum rechtmäßigen Besitzer erhebt, der den Native deshalb an die Grenze des Landes drängen darf. Diese Verwundung ent-ortet die Native Americans räumlich und zeitlich, beschreibt sie als „erbarmungslose indianische Wilde, deren Kriegführung bekanntlich in der Niedermetzelung jeglichen Alters, Geschlechtes und Standes ohne Unterschied besteht.“[13]
Belegten Hobbes und Locke die Natives mit dem Namen des kontinentalen Amerikaners, werden sie von der Unabhängigkeitserklärung zu Ausländern, zu „Indern“ umbenannt, ihres Landes beraubt und an dessen Grenzen vertrieben: Grenzen nicht zwischen zwei politischen Gebilden, sondern zwischen zwei ungleichen Bestimmungen, der Wildheit und der Zivilisation. Indem die Erklärung ihr Subjekt zum Objekt macht, zum Opfer – missbraucht und verfolgt von den Briten und von den Native Americans, liefert sie letztere ihrem Schicksal aus. Wie heute unsere Terroristen, überschreitet der Wilde die Regeln des Krieges, schlachtet unterschiedslos die Alten, die Kinder und die Frauen ab und entmenschlicht sich selbst durch die Ermordung der Schwachen. Als unzivilisierbarer Anderer des zivilisierten, christlichen, regelbefolgenden guten amerikanischen Mannes verliert der Wilde die Rechte des Menschen/Mannes und zuletzt sein Leben.
Für uns mag die Unabhängigkeitserklärung auf einen Anspruch auf universale menschliche Gleichheit gegründet sein. Doch sie erzeugt Andere, ihre Guten sind böse, sind Gift. Ihr Text enthüllt die Beziehung zwischen der Zivilisation und dem Genozid, zwischen human rights and wrongs. Sie ist eine Kriegserklärung an den Native, sie ist sein Todesurteil – autorisiert durch Gott und die Natur dieses Gottes.
Wird der Flüchtling unserer Tage strukturell anders aufgefasst, wird er strukturell anders behandelt?
An den Schnittstellen ihrer Entstehung werden die Geisteswissenschaften, die humanities, zu den Disziplinen, die den Menschen differänziell formatieren: als das Subjekt, den zivilisierten englischen Mann in der Gesellschaft, und, unter anderen, als den wilden Amerikaner in der Natur. Tatsächlich stiftet die Figur des Wilden, des Native American, gleich zwei Disziplinen, die der Transformation des Menschen wesentlich sein werden: die anglo-amerikanische Anthropologie, vertreten durch Edward Tyler, und die englische Literaturwissenschaft, vertreten durch Percey Shelley und Thomas Macauly. Die globalen Hierarchien unserer Tage haben in der disziplinären Vernunft bereits einen langen Weg zurückgelegt.
Tylor fixiert zwei Begriffe zwei bei Hobbes und Locke noch überflüssige Begriffe: Rasse, verstanden im Plural, als einen in sich aufgestuften, unveränderlichen Besitz, und Kultur, verstanden im Singular, als eine in sich aufgestufte veränderliche Bestimmung. Auf deren am wenigsten entwickelter Stufe verortet er die Wilde, zur Schwarzen rassifiziert, als Afrikanerin geographiert – und das, obwohl er am Beginn seines Buches Anthropology (1881) einen afrikanischen Seemann vorstellt – nicht im Dschungel, sondern in den Docks von London.[14]
Shelley’s Defense of Poetry (1840) theoretisiert die Literatur als Werk der Einbildungskraft, die Anteilnahme ermöglichen und eine exklusive Auszeichnung des modernen gesellschaftlichen Subjekts sein soll. Hobbes und Locke fortschreibend und kritisierend, sind es Shelleys Einbildungskraft und Anteilnahme und nicht die Vernunft, die die Institutionen der Zivilgesellschaft begeistern. Weil er kein Autor sein, sondern nur nachäffen kann, ist der Wilde in seinem unveränderlichen Naturzustand zu einem Leben ohne Literatur verurteilt. Obwohl Shelley zwischen dem Wilden und dem Kind eine Analogie herstellt, unterscheidet er ihn zugleich vom Kind wie vom Mann, verurteilt ihn zu einem unbestimmt alterslosen Leben in bloß biologischer Reproduktion.
Diese Texte dekonstituieren sich selbst, stellen erneut die Frage des Wissens. Wenn die Entstehung der modernen episteme an der Figur des Wilden hängt, was enthüllt uns das über ihre Mitte, das Subjekt, den Mann, über die Disziplinen, die den Menschen aufladen, die humanities, und über das weitverzweigte Netz der Begriffe, die den Menschen verkrusten: nicht bloß die weit vom unbestreitbar eurozentrischen Wilden, Barbaren, Primitiven abgesetzten Begriffe der Vernunft, des Rechts, der Gesellschaft, der Zivilisation, sondern auch scheinbar unverfängliche Begriffe wie die des Autors, der Einbildungskraft und der Anteilnahme, die nicht weniger differänziell wirken? Kann sich die Postkolonialität vom man abspalten, vom Menschen-Mann?
Macaulay’s Minute on Indian Education (1835) achtet und missachtet die Wilde als unzivilisierbar, unfähig zur Reform, spricht dafür dem Barbaren, einem anderen Inder/einem anderen Indianer, eine höhere Stufe der Entwicklung zu. Die Literatur wird ihm ermöglichen, sich selbst zu einem Engländer heranzubilden, sich zur Zivilisation up-zu-graden, obwohl er natürlich, für unser Verständnis, rassisch differänt bleiben wird. Not white, not quite, nicht weiß, nicht ganz.
Folgt die Forderung, mit der Deutschland „seine“ Immigrantinnen und Immigranten heute dazu verpflichtet, die deutschen Werte anzunehmen, einer strukturell anderen Logik? Muss ich hier an Deutschlands Bilanz in Namibia erinnern?
Dass englische Literaturwissenschaft ursprünglich gar nicht in Britannien, sondern im kolonialen Indien gelehrt wurde, erlaubt es der Postkolonialität, sie als ein Unternehmen zu verstehen, mit dem die barbarische Inderin zur Anerkennung der Überlegenheit der englischen Zivilisation aufgefordert wurde. Sofern sich die englische Literaturwissenschaft noch heute als Instanz der moralischen Bildung versteht, zeigt sich, dass diese Geschichte noch nicht zu Ende ist. Stellt die Postkolonialität die Disziplin grundsätzlich in Frage, dann ist das alles andere als die flehentliche Bitte einer Bettlerin.
Mit seiner (maßgeblich von Alice Fletscher und Franz Boas vorangetriebenen) Distanzierung vom Begriff der Rasse und dem Übergang vom Singular zum Plural, vom Universalismus zum Relativismus kehrt der Begriff der Kultur zur Figur des Native American zurück, den er unter dem Namen des Indianers bzw. Inders einst an seine Grenzen vertrieben hatte. Damit wird ein US-amerikanisches Problem gelöst, Amerika in ein modernes, urbanes, kulturelles Ganzes erhoben. Um das tun zu können, muss die in der Natur verortete Native American de-naturalisiert werden. Der auf die Setzung voneinander getrennter Kulturen gegründete Kulturrelativismus mag sich insoweit zwar beglückwünschen, in der zeitgenössischen Anthropologie Tylors eurozentrisch hierarchisierten Kulturbegriff demokratisiert zu haben. Doch reicht das nicht aus: es bleibt bei der Erzeugung der Anderen, es bleibt beim Trennen und Ver-un-gleichen. Der Relativismus erschöpft sich nicht in der Beschreibung evident vorgegebener Differenzen, sondern er ver-ordnet ihre Anerkennung, d.h. ihre Gefangennahme und Einkerkerung.
Die humanities wollen uns glauben lassen, dass es ihnen allein um unparteiliches Wissen gehe. Doch ihr eigener Text enthüllt ihre Komplizenschaft mit der Ideologie, mit der Transformation von Subjektivität, mit der Hierarchsierung des Menschen zum Subjekt und seinem Anderen. Eine Hierarchisierung, die – Sie wissen das – noch heute fortdauert. Um ihrem Anspruch auf Kritik des Eurozentrismus gerecht zu werden, muss sich die Postkolonialität den Disziplinen, der modernen episteme selbst entgegensetzen, einer Ordnung von Begriffen im Sinne Derridas, zu der nicht zuletzt auch die Namen der Kontinente gehören. Schon deshalb bin ich mit der Benennung, der Namensgebung noch nicht fertig
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Nehmen wir einfach meinen eigenen Namen, Mohamed Qadri Ismail, der nicht ganz mein eigener Name ist. Auf den ersten Blick scheint er schlicht einen muslimischen Mann aus Sri Lanka zu benennen: der Name des Propheten Mohamed geht dem Vornamen Qadri voraus, dem dann der Nachname Ismail folgt, der selbst wieder der Vorname eines meiner männlichen Vorfahren ist. Um mit den Komplikationen zu beginnen: In der Schule schon belehrten mich meine Klassenkameraden, dass zum Buchstaben „q“ im Englischen (wie im Deutschen) stets der Buchstabe „u“ gehört. Obwohl „Qadri“ gar kein englisches Wort ist, ließ ich mich – als ein Junge mit drei Vornamen – in der Schule deshalb „Quadri“ nennen, während ich zuhause weiter „Qadri“ genannt wurde. Dass mein Name und alle unsere Namen – unauffällig, doch umso gebieterischer – eurozentrisch geprägt sind, zeigt sich allerdings schon daran, dass sri-lankische Muslime vor der Ankunft der britischen Kolonialherren überhaupt keine Nachnamen trugen, dass mithin die Struktur der Benennung selbst einem kolonialen und zugleich patriarchalen Zwang, einer kolonialen und patriarchalen Anrufung folgt: Meine Urgroßeltern kamen noch ganz ohne einen Nachnamen aus. Was aber ist damit eigentlich gesagt, was ist damit eigentlich benannt? Nicht mehr und nicht weniger als die Unmöglichkeit, Europa verlassen zu können, belegt schon daran, dass der Eurozentrismus sich bereits in das scheinbar ganz persönliche, scheinbar ganz intime Faktum des eigenen Namens eingeschlichen hat, dass der Eurozentrismus unwiderruflich bestätigt und immer neu in Kraft gesetzt wird, wenn man ganz banal seinen eigenen Namen ausspricht, seinen eigenen Namen buchstabiert, mit seinem eigenen Namen unterzeichnet. Der Eurozentrismus dauert in meinem Namen fort, er hat meinen Namen zementiert. Ich könnte die ganze Dritte Welt durchqueren, ich könnte hierhin, dorthin, ich könnte überall hingehen: Europa hätte ich dabei niemals verlassen.
[1] Georg Willhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke in zwanzig Bänden, Band 12, Frankfurt 1970: 130
[2] Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von Jean-Paul Sartre, Frankfurt 1966: 39
[3] Hegel a.a.O.: 134
[4] Fanon a.a.O.: 239
[5] Ebd.: 35, vgl. auch 28
[6] Ebd.: 64
[7] Ebd.: 29f
[8] Ebd.: 30
[9] Ebd.
[10] Ebd.: 31
[11] Ebd.: 33
[12]Einstimmige Erklärung der dreizehn Vereinigten Staaten von Amerika, http://usa.usembassy.de/etexts/gov/unabhaengigkeit.pdf , Übersetzung nach dem Originaldokument modifiziert.
[13] a.a.O.,
[14] Edward Tyler, Anthropology: an introduction to the study of man an civilization (1881), auf dt. 1883