Seit über einem Monat arbeitet das israelische Militär an einer groß angelegten Militäroperation im nördlichen Gazastreifen, die umgangssprachlich „Plan der Generäle“ genannt wird. Die Bezeichnung geht auf die Initiative einiger israelischer Generäle der Reserve zurück, die verschlugen, die gesamte Zivilbevölkerung zwangsweise aus dem Norden der Enklave zu vertreiben, um dann dort vermeintlich verbliebene palästinensische Kämpfer auszuhungern und endgültig besiegen zu können. Die laufende Operation mag sich in ihrem zeitlichen Ablauf nicht exakt an den Plan der Generäle halten, aber es ist augenfällig, wie sehr der dreistufige Ansatz, der hier offenkundig gegen die Zivilbevölkerung zur Anwendung kommt, den im Plan skizzierten Maßnahmen entspricht. Auch hat die Armee bereits selbst verlauten lassen, dass sie Teile des Plans umsetzt. Die erste Stufe beinhaltet den Befehl an die lokale Bevölkerung unter Gewaltandrohung nach Gaza-Stadt zu fliehen, das ebenfalls weitgehend zerstört und weiterhin Ziel von Angriffen ist. Rund 400.000 Menschen befanden sich vor Beginn der Operation im Norden von Gaza. Die zweite Stufe zielt auf die Blockade jeglicher Hilfslieferungen für einen Teil oder für den gesamten nördlichen Gazastreifen ab, um die Befolgung des Befehls zur Zwangsumsiedlung zu erzwingen. Die absehbare dritte Stufe ist schließlich die Zwangsevakuierung aller verbliebenen 400.000 Palästinenser:innen in die südliche Hälfte des Gazastreifens. Diejenigen, die trotz dieser stufenweisen Militäroperation zurückbleiben, werden zu legitimen Zielen erklärt und könnten getötet werden.
In der nördlichen Hälfte des nördlichen Gazastreifens, in den Ortschaften Jabalia, Beit Lahia und Beit Hanoun, hat das israelische Militär die ersten beiden Stufen dieses Plans bereits durchgeführt. Um die etwa 200.000 Menschen, die dort bis Ende September noch lebten, zur Flucht in Richtung Gaza-Stadt zu zwingen, hat die Armee in der Gegend Angriffe auf die Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur verübt und wird dies weiterhin tun. Schulen, Notunterkünfte und Krankenhäuser sind zu Schauplätzen von Massakern durch Luftangriffe, Raketen-, Drohnen- oder Artilleriebeschuss geworden. Wochenlang ließ die Armee keine Hilfslieferungen in dieses Gebiet durch, bis sie am 7. November einer symbolischen Lieferung von Medikamenten der Weltgesundheitsorganisation an das Krankenhaus Kamel Adwan zustimmte, welches sie zwei Tage später bombardierte.
Die wenigen palästinensischen Journalisten, die sich noch im nördlichen Gazastreifen aufhalten und im Zuge ihrer Berichterstattung permanent ihr Leben riskieren, gelten der israelischen Armee, die behauptet, sie seien Mitglieder militanter Organisationen, ebenfalls als militärische Ziele. Offensichtlich sind sie der israelischen Regierung ein Dorn im Auge, denn sie sind das einzige verbleibende Fenster nach Gaza, damit die Welt von den Bombardierungen von Zivilist:innen, der Blockade von Hilfsgütern, den Zwangsverhaftungen von Männern und männlichen Jugendlichen und den langen Gewaltmärschen von Frauen und Kindern durch den nördlichen Gazastreifen erfährt.
Da gegenwärtig kein westlicher Druck für einen Waffenstillstand ausgeübt oder ein politischer Aushandlungsprozess statt des militärischen Vorgehens verlangt wird, fordert Israel die Weltgemeinschaft offen heraus. „Es gibt keine Rückkehr in den Norden, und das wird es auch nicht“, äußerte erst kürzlich der Brigadegeneral, der die Operation in Nord-Gaza befehligt. Es werde auch keine Hilfsleistungen mehr geben für den Norden, „weil es dort keine Bewohner mehr gibt.“
Vor diesem Hintergrund warnte unlängst Philippe Lazzarini, der Generalkommissar des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA), dem größten humanitären Akteur in der Enklave, vor einer Hungersnot im nördlichen Gazastreifen: „Die Menschen werden ihrer Grundbedürfnisse beraubt, einschließlich der überlebenswichtigen Nahrungsmittel.“ Das unlängst von der Knesset verabschiedete Verbot der UNRWA und die damit einhergehende Kriminalisierung des Völkerrechts wird das Überleben der Menschen im Gazastreifen zusätzlich erschweren. Aktuell passieren im Schnitt 30-50 Lastwagen täglich die Grenze zu Gaza. Die humanitären Güter, die sie für den kompletten Gazastreifen transportieren, entsprechen lediglich sechs bis zehn Prozent des täglichen Bedarfs der palästinensischen Bevölkerung. Unter den Menschen grassiert Mangelernährung und eine akute Unterernährung droht sich auszubreiten. Essen muss rationiert werden und die mittel- bis längerfristig überlebensnotwendige Diversität an Nahrungsmitteln ist nicht vorhanden. Bereits vor einigen Monaten hat es Berichte gegeben, dass der Hunger Menschen dazu treibt, Tierfutter oder Gras als Nahrung zu sich zu nehmen.
Erst in dieser Gesamtschau der Situation wird ersichtlich, worauf der „Plan der Generäle“ abzielt. Im nördlichen Gazastreifen soll die palästinensische Existenz zerstört werden. Erforderlich ist dies, um die illegale Besiedlung durch rechtsextreme israelische Siedler:innen und eine mögliche Annexion durch den Staat Israel zu erleichtern. Jüngste Aussagen von Hagit Ofran von der Gruppe Peace Now, welche die Siedlungsbewegung beobachtet und analysiert, bestätigen diese Vermutung: „Ich sage voraus, dass wir schon in den nächsten Wochen eine Besiedlung des nördlichen Gazastreifens sehen werden.“ Dabei ist das Wiederbesiedlungsvorhaben keineswegs eine neue Idee. Mitglieder der rechtsextremen Regierungskoalition haben diesen Schritt schon lange vor dem Krieg gefordert. Der aktuelle Krieg ermutigt sie, in dieser Angelegenheit noch harscher zu sein. So wurden auf einer Jerusalemer Veranstaltung im Oktober des Nachala Settlement Movement, die von Knessetabgeordneten des Likud und anderer rechter Parteien besucht wurden, strategische Papiere zur Finanzierung erarbeitet, um die Kolonisierung auch tatsächlich umzusetzen. Währenddessen erfährt Israel weiterhin deutsche und US-amerikanische politische sowie militärische Unterstützung. Dank dieser Hilfe begeht der israelische Staat im nördlichen Gazastreifen Kriegsverbrechen und mögliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wenn die Bundesregierung dafür nicht weiter eine Mitverantwortung tragen will, sollte sie ihre Positionierung gegenüber ihren kriegführenden israelischen Partnern dringend überdenken und auf rechtskonforme Bahnen zurückführen.