Feminizide

Maschinerie der Gewalt

15.02.2024   Lesezeit: 10 min

Seit Jahrzehnten werden Frauen in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez brutal ermordet. Warum ändert sich nichts?

Von Jana Flörchinger und Moritz Krawinkel

An einer vielbefahrenen Kreuzung im Südosten von Ciudad Juárez, zwischen Neubauten, Hotels, Tankstellen und Gewerbeanlagen, betreten wir einen unwirklichen Ort: die Gedenkstätte „Campo Algodonero“. 2001, als hier noch Feld war, wurden zwischen Baumwollpflanzen acht Leichen gefunden, die Überreste von Mädchen und Frauen im Alter zwischen 15 und 20 Jahren. Viele Jahre später wurde hier ein Ort der Erinnerung geschaffen. Das Gelände ist von einer Mauer umgeben. Im Zentrum ist eine steinerne Gedenktafel in der Erde verankert, die an die ermordeten Frauen erinnert. Daneben gibt es weitere Tafeln, auch sie tragen weibliche Namen. Und überall vergilbte Plakate mit Suchaufrufen nach verschwundenen und nie gefundenen Mädchen und Frauen. Die Wände der Gedenkstätte sind überzogen mit feministischen Graffiti, aus denen Anklage, Wut und Trauer sprechen. Es ist ein merkwürdig unfertiger Ort, gleichzeitig offiziell und provisorisch. Auf rosafarbenen Holzkreuzen fordern drei Worte „Ni una más“: Keine mehr.

Seit drei Jahrzehnten ist die Grenzstadt im Norden Mexikos, eines der wichtigsten Wirtschaftszentren des Landes und nur einen Steinwurf von El Paso im US-amerikanischen Texas entfernt, berühmt-berüchtigt: Ciudad Juárez ist bekannt als eine der gefährlichsten Städte der Welt, von Drogenkartellen und Banden beherrscht und von einer mörderischen Gewalt gegen Frauen gezeichnet. Anfang der 1990er-Jahre machten Journalist:innen und Aktivist:innen erstmals eine Vielzahl von Morden an Frauen öffentlich, sogenannte Feminizide. Die Verbrechen waren zugleich brutal und systematisch: Die Täter inszenierten die entstellten Körper der Opfer gut sichtbar an vielbefahrenen Kreuzungen und anderen öffentlichen Orten. So ging es Jahr für Jahr weiter, hundertfach, tausendfach. Bei den meisten Opfern handelte es sich um junge Frauen, Heranwachsende und Mädchen aus wirtschaftlich prekären Verhältnissen.

Gewalt und Maquila

Wie ein Magnet zieht die hiesige Gewalt seither weltweit Aufmerksamkeit auf sich. Es gibt unzählige Veröffentlichungen über die „Stadt der Frauenmorde“, auch eine Netflix-Serie erzählt von der Gewalt in Ciudad Juárez. An der Situation geändert hat sich gleichwohl wenig. Auch in den vergangenen fünf Jahren wurden hier 800 Frauen ermordet, allein 2023 waren es über 150. Die Mordrate der Stadt ist 40 Mal so hoch wie die Berlins. Wie kommt es, dass sich die Gewalt so tief und scheinbar unabänderlich in die Stadt eingeschrieben hat?

Wir sind mit Leobardo Alvarado am Stadtrand von Ciudad Juárez unterwegs, wo Fabrik-Rohbauten, trostlose Siedlungen, Brachen und Abzweigungen ins Nichts in die Wüste übergehen. Alvarado ist Soziologe und Aktivist. Mit rauer Stimme erzählt er uns von der Entwicklung der Stadt. „Hier hat man sich schon immer eine goldene Nase damit verdient, was in den USA benötigt wird oder untersagt ist.“ Während der Prohibition wurde in Juárez massenhaft Whisky produziert. Die Stadt entwickelte sich zu einem Las Vegas im Schatten der Grenze und des Gesetzes, mit Bars, Casinos und Nachtclubs samt Schutzgeldgeschäften und Entführungen. Hinzu kam der grenzüberschreitende Handel – mit Drogen mit all seinen Begleiterscheinungen. Bis heute prägt er die Gewalt-Ökonomie der Stadt. Vor allem aber ist Ciudad Juárez zur verlängerten Werkbank der USA geworden. „In den 1960er- und 1970er-Jahren entstanden die Maquilas und transformierten die bis dahin bäuerlich geprägte Region grundlegend“, erklärt Alvarado. Maquilas sind Montagefabriken, in denen zunächst die Konsumgüter für die wachsende Nachfrage in den USA zusammengeschraubt wurden: Autos, Haushaltsgeräte, Kleidung. Das Modell nahm Fahrt auf, Ciudad Juárez florierte. Viele konnten sich erstmals ein eigenes Häuschen leisten oder ein Auto kaufen. Die prosperierende Stadt investierte in Infrastruktur und Kultur, baute moderne Museen und Theater. Dann kamen die 1980er- und 1990er-Jahre und mit ihnen die neoliberale Globalisierung und die Freihandelsabkommen mit den USA. In Ciudad Juárez hat das einen vollends deregulierten Kapitalismus entfesselt. Alvarado: „Das heutige Maquila-System ist eine Maschinerie der Armut.“

Von einer Anhöhe aus öffnet sich der Blick auf eine Landschaft schmuckloser Montagefabriken, aneinandergereiht wie eine Flotte Raumschiffe. Die meisten Betriebe gehören transnationalen Konzernen, die Produktionszweige hierher ausgelagert haben. Auf einer Industriehalle leuchten im Sonnenlicht rote Buchstaben: BOSCH. Entlang einer Ausfallstraße werden gerade Dutzende weitere Hallen hochgezogen, in wenigen Monaten werden auch hier Arbeiter:innen am Fließband stehen und 48 Stunden pro Woche Autoteile lackieren, Sitzpolster zusammennähen, medizinische Geräte fertigen und Kühlschränke verschrauben. 350.000 der rund 1,5 Millionen Bewohner:innen der Stadt arbeiten in solchen Hallen, weitere 400.000 Menschen sollen indirekt von der Industrie abhängig sein. Die Arbeitstage sind lang, die Löhne niedrig. Immer neue Migrationsbewegungen aus dem Süden des Landes und Zentralamerika machen die Arbeitskraft billig und ausbeutbar. Arbeitgeber haben angesichts der allgemeinen Straflosigkeit nur selten etwas zu befürchten, wenn sie den Gesundheitsschutz umgehen, gewerkschaftliche Organisierung unterbinden oder Umweltauflagen ignorieren.

Eine pulverisierte Stadt

Parallel zu dieser Entwicklung haben Stadt und Staat Investitionen in Infrastrukturen und Sozialpolitik auf ein Minimum reduziert. Ganze Siedlungen sind von der Wasserversorgung abgeschnitten, Straßen sind weder asphaltiert noch beleuchtet, Busse fahren selten. Das Leben der Arbeiter:innen ist auf das absolut Notwendige reduziert: Arbeit in der Fabrik , Reproduktion in trostlosen Siedlungen, dazwischen Konsum und ein wenig Freizeit in den Shopping-Malls. Einen öffentlichen Raum gibt es praktisch nicht mehr. Die Mauern, Zäune und Gated Communities der Bessergestellten verstärken die Spaltung. Der Sozialwissenschaftler Héctor Padilla von der Autonomen Universität Ciudad Juárez spricht von einer „pulverisierten, feudalen Stadt“. Wer kann sich sicher von hier nach da bewegen? Wer ist geschützt? Wer muss auf unbeleuchteten Wegen zur weit entfernten Bushaltestelle laufen? All das ist extrem ungleich verteilt. Die Dynamik der Stadt ist von schnellem Geld und Straflosigkeit geprägt. Laut Alvarado hat die Ökonomie der Montagefabriken die Spekulation mit Boden zum lukrativsten Geschäft für den Bausektor, transnationale Unternehmen der Maquilas und örtliche Drogenkartelle gemacht. Das, so Alvarado, sind die größten Kartelle der Stadt. Welche Rolle der Staat und seine Institutionen dabei spielen? Alvarado winkt ab. Diese seien tief durchdrungen von der organisierten Kriminalität. „Sie organisieren die Geschäfte“, die legalen wie die illegalen.

Was hat all das mit der systematischen Gewalt gegen Frauen zu tun? Die feministische Forscherin Julia Monarréz, die seit den 1990er-Jahren zu geschlechtsspezifischer Gewalt an der Grenze forscht, sieht einen klaren Zusammenhang: Mit dem Maquila-System in seiner neoliberalen Form seien auch die Feminizide aufgekommen: „Eine Moral der Individualisierung braucht Gewalt, um politische Organisierung zu erschweren.“ Die Gewalt individualisiere die Gesellschaft und „eine Stadt von Individuen bringt ausbeutbare Subjekte hervor“. Und Monarréz zufolge verbinden sich diese ökonomischen Gewaltverhältnisse in Ciudad Juárez mit der tief in der Gesellschaft verankerten patriarchalen Tradition. Die Ökonomie der Maquilas hat ihre Rolle als „Ernährer“ und „Familienoberhaupt“ gleich doppelt untergraben: Sie sind in eine Prekarität gerutscht, die nur durch die Erwerbsarbeit der Frauen aufgefangen werden kann. Viele Männer deuten diese Infragestellung als doppelten Angriff auf ihre Männlichkeit. Auch die argentinisch-brasilianische Anthropologin Rita Segato hat sich intensiv mit den „Frauenmorden von Juárez“ auseinandergesetzt. Sie betont: Ein „Mandat der Männlichkeit“ fordere Männer dazu auf, sich beständig als solche zu beweisen. Die Feminizide mit der öffentlichen Inszenierung misshandelter Leichen sind die extremste Form dieser Wiederherstellung von Männlichkeit.

All das vermischt sich in Ciudad Juárez mit der Macht und den Kämpfen der Kartelle. Alvarado hat an einer Brache in der Wüste angehalten. In dem sandigen Boden steckt ein Holzkreuz mit einer verblichenen Schleife. „Hier wurde neulich eine Leiche gefunden“, erklärt er. Zufall sei das nicht. Der Körper und nun das Kreuz markieren ein Territorium: Hier beginnt das Einzugsgebiet eines Kartells. Dem mexikanischen Historiker Daniel Inclán zufolge hat diese scheinbar willkürliche Gewalt eine ordnende Funktion: Sie demonstriert Kontrolle. Der tote Körper einer Frau gut sichtbar auf einer Brache in der Wüste liegend – es ist die extremste Form einer männlichen Symbol- und Machtpolitik.

Feminismus-Dossier

In ihrem Einsatz für eine gerechtere Welt kämpfen viele medico-Partnerorganisationen auch gegen patriarchale Machtstrukturen. Rechte Kampagnen gegen „Gender“ treiben die maskuline Hegemonie weiter voran. Feministische Bewegungen begehren überall auf der Welt dagegen auf, auch medico-Partnerorganisationen – von kleinen Initiativen wie die Frauenorganisation Aman im Irak bis zu den großen Mobilisierungen der Marcha das Mulheres in Brasilien. In einem neuen Dossier auf der medico-Homepage sammeln wir Beiträge über ihre Arbeit und analytische Texte, die die Pluralität feministischer Kämpfe abbilden: www.medico.de/feminismus

Wir treffen Verónica Corchado im Stadtzentrum auf einen Kaffee. Vor zehn Jahren hat sie das Kommunale Fraueninstitut aufgebaut, um Maßnahmen zur Prävention von geschlechtsspezifischer Gewalt anzustoßen. In dem Institut begleitet ein Team aus Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen und Anwält:innen Betroffene familiärer Gewalt. Die Mitarbeiter:innen entwickeln Vorschläge für eine geschlechtsspezifische Untersuchung bei Gewaltverbrechen gegen Frauen und Kinder. Und sie initiieren Maßnahmen zur Verbesserung der öffentlichen Sicherheit. Im Stadtzentrum, wo die meisten Frauen und Mädchen verschwinden, ist auf Initiative des Instituts ein sogenannter Sicherheits-Korridor entstanden: An ausgeleuchteten Kreuzungen hängen Stadtpläne zur Orientierung. Sicherheitsnummern werden beworben, die Frauen in der Not anrufen können. Es sind kleine Verbesserungen. An den strukturellen Verhältnissen ändern sie nichts. Verónica stellt ihre Tasse ab und ringt kurz um Fassung. Dann berichtet sie von einem Angriff auf das Institut. Vor vier Jahren haben Schwerbewaffnete am helllichten Tag aus einem Pick-up mit Maschinengewehren auf das Gebäude geschossen. Warum das geschehen ist? Weil sich nichts ändern soll.

Immerhin: Das Institut ist nicht allein. Auch andere Menschen und Bewegungen wehren sich und versuchen, den pulverisierten städtischen Raum für das Leben zurückzuerobern. Eine Initiative organisiert Flohmärkte auf einem als gefährlich geltenden Platz im Stadtzentrum, eine andere hat ein Haus gekauft und darin ein soziales Zentrum gegründet. Graffiti-Künstler:innen veranstalten Mal-Aktionen mit Konzert an der Grenze. Feministische Demonstrationen sorgen dafür, dass sich Frauen zumindest für einen Moment sicher bewegen können. Viele der Initiativen sind direkt oder indirekt mit Familien verbunden, deren Kinder entführt oder ermordet wurden. Für feministische Bewegungen in Mexiko und Lateinamerika sind die Kämpfe von Angehörigen ein wichtiger Bezugspunkt. Aus der Analyse der Gewalt in Ciudad Juárez haben sich Ansätze entwickelt, um patriarchale Gewalt zu verstehen und Gegenstrategien zu entwickeln. Vielleicht ist das das Hoffnungsvollste, was sich sagen lässt: Aus der Gewalt erwachsen immer auch Versuche zu verstehen, Widerstand zu leisten und für Veränderung zu streiten.

Ein wegweisendes Urteil

Zurück auf der Gedenkstätte „Campo Algodonero“. Die Anlage geht nicht auf eine Initiative der Stadtverwaltung von Ciudad Juárez, der Regierung von Chihuahua oder des mexikanischen Staates zurück. Angesichts der Ergebnislosigkeit der polizeilichen Ermittlungen und behördlicher Ignoranz hatten die Eltern von drei der hier getöteten Frauen Klage eingereicht. In einem wegweisenden Urteil stellte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte 2009 das frauenverachtende Vorgehen der Behörden gerichtlich fest und machte den Staat Mexiko mitverantwortlich für die Folter, die sexualisierte Gewalt und den Mord an Mädchen und Frauen. Der Fall wurde zum Referenzpunkt des Widerstands gegen Feminizide. Das Gericht verurteilte den mexikanischen Staat auch dazu, Maßnahmen gegen die fortgesetzte Gewalt zu ergreifen sowie eine Gedenkstätte zu errichten. Letzteres hat er getan, jenen unwirklichen Ort zwischen Neubauten, Hotels und Gewerbeanlagen. Die Forderung nach Veränderung hingegen ist bis heute, 15 Jahre später, unerfüllt geblieben.

Jana Flörchinger und Moritz Krawinkel bilden bei medico das Tandem für die Projektregionen Mexiko und Zentralamerika. Gemeinsam haben sie kürzlich Ciudad Juárez besucht und dortige Aktivist:innen getroffen.

Die allgegenwärtige Gewalt in Mexiko erstickt Initiativen und isoliert die Betroffenen. Seit vielen Jahren unterstützt medico Organisationen, die dem entgegenarbeiten – entlang der Fluchtrouten und beim Einsatz für Menschenrechte.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Jana Flörchinger

Jana Flörchinger ist Referentin für Mexiko und Zentralamerika in der Abteilung für transnationale Kooperation bei medico international.

Twitter: @jj_floerch

Moritz Krawinkel

Moritz Krawinkel leitet die Öffentlichkeitsarbeit bei medico international. Außerdem ist er in der Redaktion tätig und für die Kommunikation zu Zentralamerika und Mexiko zuständig.

Twitter: @mrtzkr
Bluesky: @mrtzkr


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