Afghanistan

Ein Tag der Finsternis

14.08.2024   Lesezeit: 9 min

Vor drei Jahren haben die Taliban die Macht übernommen. Die Lage der medico-Partner:innen ist düster und bedrückend, ihre Stimmen alarmierend.

Die internationalen Truppen waren noch nicht vollständig aus Kabul abgezogen, als die Taliban bereits die Macht übernahmen und am Nachmittag des 15. August 2021 nach der Flucht des afghanischen Präsidenten Ghani in den Präsidentenpalast eindrangen. In schierer Angst vor der Rache der Taliban sammelten sich Hunderttausende am Rollfeld des Flughafens in Kabul, versuchten um jeden Preis mitgenommen zu werden. Manche klammerten sich schließlich verzweifelt an die Tragflächen abhebender Flugzeuge. Die deutsche Bundeswehr startete am nächsten Tag mit exakt 7 Personen für die Evakuierung in leeren, übergroßen Frachträumen. Der Rest war den Taliban gewissermaßen ausgeliefert worden.

"Der 15. August ist ein schwarzer Tag in der Geschichte Afghanistans. Der 15. August war nicht der Fall eines Staates, sondern der Fall der Hoffnungen." (Shaherzad Kawiani*)

"Heute haben die Taliban alle Straßen in Kabul mit ihren Flaggen geschmückt und feiern ihren Sieg über das Volk, während ich nichts tun kann, außer zu leiden." (Rahyab Joya*)

"Nennen wir es Übergabe an die Taliban, denn es war so einfach für die Taliban, dass wir es nicht Machtübernahme nennen sollten" (Abdul Ghafoor)

"Ich bin immer noch überrascht, wie schnell es ging, die Hoffnung für die Menschen in Afghanistan zu zerstören, wie einfach das war. Ich persönlich weiß nicht, wohin mich das führen wird. Zuerst dachte ich, es wird ein oder zwei Jahre dauern, bis ich darüber hinweg bin. Von der Sicherheitslage her bin ich jetzt in Deutschland sicher, aber von der anderen Seite her weiß ich jetzt, dass es Jahrzehnte dauern wird, um das persönlich zu verarbeiten." (Abdul Ghafoor)

"Als sie Kabul einnahmen, hofften viele, dass die internationale Gemeinschaft eingreifen würde. Wir hatten diese Hoffnung nicht. Was sollen wir von denen erwarten, die doch auch die Machtübernahme der Taliban ermöglicht haben?" (AVWSM)

Seitdem konnten die Taliban ihre theokratische Gewaltherrschaft festigen und ihr Repressions- und Kontrollregime ausweiten. Während der Großteil der Bevölkerung unter einer eskalierenden humanitären und ökonomischen Krise hungert, werden Oppositionelle gejagt, Frauen massiv unterdrückt und geschlechtliche sowie ethnisch-religiöse Minderheiten bedroht und nicht selten exekutiert. Die Gewalt der Taliban ist unbeschreiblich, die Verzweiflung der Menschen unermesslich.

"Die Lage der Minderheiten, insbesondere der Hazara, ist sehr schlecht, weil sie Angst vor Anschlägen durch ISIS haben. Erst vor wenigen Tagen gab es einen tödlichen Anschlag in West-Kabul." (Abdul Ghafoor)

"Viele Mädchen und Frauen begehen wegen tiefer Depressionen Selbstmord, weil sie keine Zukunft in Afghanistan für sich sehen." (Abdul Ghafoor)

"Die wirtschaftliche Situation der Menschen im Erdbebengebiet ist sehr schlecht, insbesondere die der Witwen, deren Ehemänner während des Krieges von den Taliban getötet wurden. Sie dürfen unter den Taliban nicht mehr arbeiten." (Ghulam Nabi Amini)

"Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan und ihre angeschlossenen Organisationen haben eine Rolle bei der Bereitstellung humanitärer Hilfe gespielt, einschließlich der Überwachung von Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban. Diese humanitäre Hilfe hat jedoch auch unbeabsichtigt dazu beigetragen, dass die Taliban ihre Macht aufrechterhalten konnten. Die Präsenz dieser internationalen Organisationen hat das Selbstbewusstsein der Taliban gestärkt und sie ermutigt, mit noch größerer Vehemenz zu agieren." (AHRDO)

"Seit August 2021 hat die US-Hilfe für Afghanistan dazu beigetragen, den vollständigen Zusammenbruch der afghanischen Wirtschaft zu verhindern, aber sie hat den dramatischen Anstieg der Armut nicht gestoppt. Stattdessen ist diese Hilfe unbeabsichtigt zu einem entscheidenden Faktor für das Überleben der Taliban geworden und ermöglicht deren anhaltende Dominanz und weit verbreitete Gewalt." (AHRDO)

"Doch während sich ihre Herrschaft weiter festigte, unterdrückten sie die Widerständigen mit äußerster Brutalität, inhaftierten, folterten, vergewaltigten und töteten Dutzende von protestierenden Frauen. Diese Gewalt, Folter und Unterdrückung traf alle politischen Gegner:innen und alle, die auch nur den geringsten Protest äußerten." (AVWSM)

Aus den Ruinen des 20-jährigen Kriegsregimes gingen die Taliban stärker hervor als je zuvor. Eine wichtige Rolle in der Ermöglichung ihrer Herrschaft spielten die Verhandlungen mit jenen internationalen Mächten, die sich ihre Zerschlagung – zusammen mit Demokratie, Menschenrechten und Geschlechtergerechtigkeit – auf die Fahnen geschrieben hatten und jahrelang in imperialer Hybris die Augen vor dessen Scheitern verschlossen. Das geopolitische Ziel war, die chaotische Gefahr durch Al-Qaeda und die Taliban an den Rändern der kapitalistischen Weltordnung einzuhegen. Die Mittel dazu waren Militärintervention, Regime-Change und State-Building unter westlicher Hegemonie und fortlaufender Besatzung. Freiheit wolle man bringen und Unterstützung leisten  – heute bleibt den Menschen in Afghanistan nichts als Unterdrückung und bitterster Verrat.

"In den letzten drei Jahren hat sich Afghanistan zunehmend zu einem territorialen Brennpunkt entwickelt, der an die Situation Ende der 1990er Jahre erinnert." (AHRDO)

"Die NATO-Truppen haben es so dargestellt, als ob sie "die afghanischen Frauen retten" würden, aber es war ein Angriff, ein Schock für die einheimische Bevölkerung, es war Gewalt gegen sie." (Zahra Mousawi)

„Trotz umfangreicher Dokumentationen von Menschenrechtsverletzungen durch verschiedene nationale und internationale Akteure haben internationale Gerechtigkeits- und Verantwortungsmechanismen versagt, die Taliban an der Begehung internationaler Verbrechen zu hindern oder ihre Mitglieder zur Rechenschaft zu ziehen.“ (AHRDO)

Das Bundesaufnahmeprogramm, ein Versprechen an all diejenigen, die aufgrund ihres Einsatzes für Demokratie und Menschenrechte oder aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung bis heute akut bedroht sind, wurde monatelang pausiert. Statt eine sichere Zuflucht zu bieten, hat es für Betroffene systematisch Hürden aufgebaut, Risiken geschürt und Unsicherheiten verstärkt. Bis heute bot es nur 581 Menschen eine Rettung. 581 statt 23.000 möglichen Aufnahmen. In den aktuellen Verhandlungen zum Bundeshaushalt ist bisher kein Budget zur Fortsetzung des Programms vorgesehen. Unterdessen hat ein zunehmend anti-muslimischer Diskurs Abschiebungen selbst nach Afghanistan sprechbar gemacht und entsprechende Rückführungsabkommen mit der Talibanregierung in den Raum gestellt.

"Wir sind unserer Heimat nicht überdrüssig, wir lieben Europa nicht. Aber die Taliban haben die Frauen gezwungen, ins Ausland zu flüchten. Alle Migranten verlassen aus Herzschmerz und Hoffnungslosigkeit ihre Heimat. Frauen sind weltweit nicht sicher; überall gibt es Diskriminierung auf verschiedenen Ebenen. Doch die Taliban haben uns alle Rechte genommen." (Azada Ozan*)

"Das Warten und die Ungewissheit haben mich um hundert Jahre altern lassen." (Aruzohaye Khakestar Shoda*).

"Die Nachricht vom potentiellen Ende des Bundesaufnahmeprogramms hat mich erreicht wie kaltes Wasser, das im Winter über den Körper gegossen wird. Es ist schwer zu atmen. Wenn das passiert, werde ich alle Hoffnung verlieren und mein Leben wird für immer dunkel werden" (Omid Faramosh*)

"Da es in Deutschland einen Anschlag gegeben hat und mit dem Aufstieg rechter und migrationsfeindlicher Kräfte an der Spitze der westlichen Regierungen waren wir besorgt und hatten diese Situation antizipiert. Die Regierungen ignorieren die Menschen und unterdrückt sie weiter. Leider sind die progressiven Kräfte der afghanischen Gesellschaft entweder inhaftiert und getötet worden, ihre Stimmen werden erstickt oder aufgrund von Armut oder Zwang von den Taliban eingekauft. Das ist unser Schicksal!" (Rahyab Joya*)

Das Scheitern des westlichen Interventionsphantasmas am Flughafen in Kabul im August 2021 findet seinen Widerhall in der Auflösung des Asylrechts und einer migrationsfeindlichen Politik. Es ist nicht weniger als ein Verrat an der afghanischen Zivilgesellschaft die man zu unterstützen und zu schützen vorgegeben und versprochen hatte.

Auch in dieser sich stetig verschärfenden Lage ist medico nicht von der Seite unserer Partner:innen gewichen, die sich weiter unermüdlich mit ihrer Arbeit für Menschenrechte und gegen das Talibanregime einsetzen – in Afghanistan wie im Exil. Während die einen ihre Bemühungen zur Dokumentation und Aufarbeitung von Menschenrechts- und Kriegsverbrechen in Afghanistan aus dem Exil fortsetzen, kämpfen andere um Selbstbestimmung und Würde gegen die patriarchale Herrschaft der Taliban. Wieder andere leisten vor Ort humanitäre Hilfe für marginalisierte Gruppen, die in Folge der Klimakrise von Überschwemmungen bedroht sind.

Mit * markierte Personen haben aus Sicherheitsgründen einen geänderten Namen.

Afghanistan Human Rights and Democracy Organization (AHRDO)

Die Aktivist:innen von AHRDO arbeiteten viele Jahre mit den Methoden des „Theaters der Befreiung“ und luden im ganzen Land Menschen jedes ethnischen und religiösen Hintergrunds ein, die Gewalterfahrungen ihres Lebens schauspielerisch „durchzuarbeiten“. Die sinnlich erfahrene Einsicht, in kriegsdurchherrschter postkolonialer Geschichte zugleich zu Opfern und zu Täter:innen geworden zu sein, führte Menschen zusammen, die einen demokratischen Neuanfang wagen wollten. Nach der Rückkehr der Taliban an die Macht flohen sie über Pakistan bis nach Kanada. Von dort aus dokumentiert AHRDO fortlaufend die Gewalt, unter der die Menschen in Afghanistan leben müssen. Dokumentiert wird aber auch die Geschichte der Gewalt, in der sie seit Jahrzehnten – im Grunde seit Beginn der Versuche leben müssen, das Land zu kolonisieren. Der Ort und das Medium dieser Erinnerungs- und Überlieferungsarbeit ist das „Afghanistan Memory Home”, ein virtuelles Museum.

Reza Kar Herat

Das Freiwilligenteam „Reza Kar“ besteht aus acht Personen (vier Frauen und vier Männer). Sie selbst sind überwiegend arbeitslos oder ehemalige Studentinnen, denen nun der Zugang zur Universität verwehrt wird. Unmittelbar nach dem Erdbeben in der westafghanischen Provinz Herat im Oktober 2023 haben sie sich zusammengeschlossen, um vor Ort schnell humanitäre Hilfe zu leisten und unterstützen bis heute knapp 500 Familien. Bei den Betroffenen genießt das Team großen Respekt und Vertrauen, weshalb die Taliban aktuell von Angriffen oder Störungen ihrer Arbeit absehen. Unterstützt werden sie dabei von Amini, einem Menschenrechtsaktivisten und ehemaligen Freiwilligen unserer langjährigen Partnerorganisation AHRDO, der durch das Ortskräfteverfahren glücklicherweise mittlerweile in Berlin lebt. Er verbindet die Hilfe mit den Netzwerken der Diaspora, sammelt Spenden und unterstützt die Koordination.

AVWSM (Afghanistan Valorous Women’s Spontaneous Movement)

Die Bewegung der kämpfenden Frauen Afghanistans ist ein feministisches Netzwerk, das seit der Machtübernahme der Taliban unzählige Protestaktionen organisiert. In sicheren Räumen organisieren sie das Erlernen des Schneiderhandwerks für 36 Frauen und stellen Stoffe und Arbeitsmaterialien bereit. Neben der Möglichkeit zur Selbstversorgung schaffen sie so Räume für Bildung und gemeinsame Diskussion unter Frauen über die gesellschaftliche Situation und Grund- und Menschenrechte. Gemeinsam bilden sie sich zu Themen digitaler Sicherheit, Englisch und Feminismus weiter. Mit anderen setzen sie sich gegen die Normalisierung im Umgang mit der Taliban-Regierung in der internationalen Gemeinschaft ein.

AWSA (Afghanistan Women’s Studies Academy)

AWSA ist eine unabhängige Forschungseinrichtung in Deutschland, die sich auf die Entwicklung von Ansätzen und die Produktion von Wissen im Bereich der Geschlechterforschung in Afghanistan fokussiert. Die Initiative setzt sich aus afghanischen Menschenrechtsaktivist:innen zusammen, die im direkten Kontakt mit den in Afghanistan protestierenden Bewegungen, insbesondere für die Rechte von Frauen, stehen. Sie selbst haben nach der Machtübernahme der Taliban das Land verlassen müssen, weil sie wegen ihrer vorwiegend journalistischen Arbeit bedroht wurden. AWSA unterstützt die Kämpfe von Frauen und Mädchen für Zugang zu Wissen und Theorie in Afghanistan. Gleichzeitig erarbeiten sie das verloren gegangene Wissen über die schon vor dem Bürgerkrieg in den 70er Jahren begonnene lokale Frauenbewegung.

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