Nach 20 Jahren internationaler militärischer Intervention scheint es nun ein verlässliches Datum zu geben, an dem alle NATO-Truppen Afghanistan verlassen werden. Die Afghan:innen sollen ab dem 11. September 2021 ihre Entscheidungen selbst treffen, wie es US-Außenminister Blinken formuliert. Das Land gehöre den Afghan:innen, heißt es aus anderen NATO-Kreisen. Ein Bekenntnis, das nach 20 Jahren Krieg erschauern lässt. Denn man könnte es auch so formulieren: Es wurde nichts für die afghanische Bevölkerung erreicht, aber der Verantwortung für die sozialen und wirtschaftlichen Folgen eines 20 Jahre andauernden Krieges mit NATO-Beteiligung wird sich entzogen.
Das Erreichte – Frauenrechte, Zugang zu Bildung, Ansätze für ein auf Gerechtigkeit basierendes Miteinander nach dem Krieg – wurde einzig durch die afghanische Zivilgesellschaft selbst errungen, zwar militärisch abgesichert und über internationale Mittel der Entwicklungszusammenarbeit finanziert. Aber den Bedrohungen durch tägliche militärische Auseinandersetzungen, Selbstmordattentate und Sprengfallen in allen Provinzen haben sich in den letzten Jahren fast ausschließlich die Afghan:innen ausgesetzt. Der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) zufolge sind allein seit 2009 mehr als 100.000 Zivilist:innen getötet oder verwundet worden. Die internationalen Entwicklungshelfer:innen haben sich wegen der hohen Sicherheitsrisiken längst in abgesicherten, gepanzerten Büroräumen verschanzt oder steuern die Entwicklungszusammenarbeit aus anderen Teilen der Welt.
Das afghanische Dilemma
Die afghanische Zivilgesellschaft agiert seit über 10 Jahren in einem immer enger und gefährlicher werdenden Handlungsspielraum. Einerseits wird die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Zivilgesellschaft von der immer autoritärer agierenden afghanischen Regierung unter Präsident Ghani zunehmend eingeschränkt, unter anderem ist ein extrem restriktives NGO-Gesetz in Vorbereitung. Andererseits nehmen die Macht der Taliban, ihre gezielten Tötungen von Menschenrechtler*innen sowie der Einfluss ehemaliger regionaler Kriegsfürsten und ihr Anspruch auf Gewicht in dem Ringen um einen Friedensprozess zu.
Entweder militärischer Schutz aus dem Ausland oder Selbstbestimmung mit lebensgefährlichen Risiken, dieses Dilemma bestimmt das Leben der afghanischen Bevölkerung seit dem Einmarsch der NATO 2001. Entweder werden der internationale, militärische Schutz und die damit einhergehende Fremdbestimmung für den minimalen Raum zur Durchsetzung von ein paar Menschenrechten und einer gewissen politischen Gestaltungsmöglichkeit in Kauf genommen. Oder ein internationaler Truppenabzug ebnet den Weg für die nationale Souveränität Afghanistans, verbunden aber mit dem hohen Risiko, dass dieses Machtvakuum von Kräften gefüllt wird, die den ohnehin kleinen Spielraum der Zivilgesellschaft komplett zunichtemachen.
Allen internationalen Akteur:innen, auch der Bundesregierung, ist bewusst, dass die Zukunft, die sich nach einem internationalen Abzug der Streitkräfte abzeichnet, düsterer nicht sein kann. Denkbar sind drei Szenarien, wenn man davon ausgeht, dass sich die afghanische Regierung in ihrer aktuellen Form nicht lange halten wird: Der Ausbruch eines Bürgerkrieges, die militärische Machtübernahme der Taliban oder die Bildung eines fragilen Regierungsarrangements von Gewaltakteuren, das die Taliban mit einschließt. Um letzteres wird im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen den USA, den Taliban, der afghanischen Regierung und in innerafghanischen Gesprächen unter dem Begriff einer „Friedensübergangsregierung“ (Transitional Peace Government) gerungen. Eine solche Lösung verdient weder diesen harmlosen Namen, noch ist sie in irgendeiner Weise demokratisch legitimiert. Doch noch im April sind weitere Gespräche in Istanbul geplant. Nur die Taliban verweigern bislang wegen der andauernden US-Truppenpräsenz ihre Teilnahme.
Verantwortung übernehmen
Die afghanische Feministin Laila Haidari, die sich seit vielen Jahren mutig für die Integration ausgegrenzter Suchtkranker einsetzt, twittert, die USA ließen die junge Generation der Afghan:innen ohne einen erfolgversprechenden Friedensprozess im Stich. medico-Partner Jawad Zawulistani von der Afghanistan Human Rights and Democracy Organization (AHRDO) erzählt mir im Gespräch von der Furcht seiner Kolleg:innen vor einem Bürgerkrieg und einer von Gewalt geprägten Zukunft ihrer Kinder. Dennoch sagt er, zwar zögerlich, aber unverdrossen, er wolle dazu beitragen, sich diesem Schicksal konstruktiv entgegenzustellen. Aber wie, unter diesen lebensgefährlichen Bedingungen? Und wie lange noch, wenn sich abzeichnet, dass es noch schlechter wird? Nimmt die Zivilgesellschaft nicht schon zu lange viel zu hohe Risiken auf sich?
Für uns ist klar: Die Menschenrechtsaktivist:innen in Afghanistan müssen weiter unterstützt und die (ehemaligen) Kriegsparteien an ihre politische Verantwortung erinnert werden. Dies wird solange nötig sein, bis die afghanische Gesellschaft wirtschaftlich, sozial und politisch so gestärkt ist, dass ein echter, nachhaltiger Frieden möglich ist. Dazu können nicht nur die Afghan:innen selbst beitragen, sagt Jawad. Die finanzielle und wirtschaftliche Unterstützung des Landes muss vor allem von denjenigen geleistet werden, die nun ihr Militär abziehen. Alle bei der Geberkonferenz in Genf im November 2020 eingegangenen Verpflichtungen für die nächsten vier Jahre müssen eingehalten werden. Dazu braucht es weitere finanzielle und wirtschaftliche Zusagen für Afghanistan. Denn ohne einen wirtschaftlichen Aufschwung in einem der ärmsten Länder der Welt werden die Menschen in ihrer Not in die Arme der Kriegstreiber gedrängt.
Komplizierter Frieden
Im Laufe der letzten 42 Jahren unterzeichneten verschiedene Konfliktparteien diverse Friedensabkommen. Dauerhaften Frieden brachte keines. Die afghanische Zivilgesellschaft macht mindestens drei Umstände für das bisherige Scheitern verantwortlich: Alle bisherigen Friedensabkommen waren top-down, es wurde jeweils mindestens eine ehemalige Konfliktpartei ausgegrenzt und es wurden keine den Frieden unterstützende Strukturen in der Breite der Gesellschaft verankert. Deshalb müssen internationale Akteur:innen ihren Einfluss geltend machen, um den afghanischen Friedensprozess inklusiv und repräsentativ zu gestalten. Das schließt unbedingt die Repräsentation insbesondere von Frauen und Opfer-Organisationen ein und die Unterstützung, jener afghanischer Strukturen, die in der Gesellschaft auf Frieden hinarbeiten. Denn große Teile der Zivilgesellschaft wünschen sich ein inklusives und demokratisches Afghanistan.
medico international unterstützt seit vielen Jahren die Arbeit der unabhängigen, afghanischen Nichtregierungsorganisation AHRDO, die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzt. Die Zusammenarbeit umfasst die Stärkung der Rolle von Opfer-Gruppen im Friedensprozess, die Förderung von Frauenrechten, die Unterstützung der Verständigung zwischen ethnischen und religiösen Gruppierungen sowie die Förderung des Bewusstseins über Gerechtigkeit und den Umgang mit Menschenrechtsverbrechen unter besonderer Berücksichtigung der Erinnerungsarbeit. AHRDO wirkt bereits seit vielen Jahren auf eine Friedens- und Erinnerungskultur hin, die 2019 mit Eröffnung des Zentrums für Erinnerung und Dialog in Kabul einen Ort gefunden hat, an dem weiter an einem echten Frieden von Unten gearbeitet wird.