Vor zwei Jahren, am 15. August 2021, besetzten die Taliban in Kabul den Arg, den Palast des Präsidenten der Islamischen Republik Afghanistan. Die Bilder beherrschten weltweit die Nachrichtensendungen, sind auf YouTube noch immer zu sehen. Mit geschulterten Gewehren rollen die Kämpfer die Flagge der Republik ein, ihre Kommandanten setzen sich an den Tisch des geflohenen Präsidenten, brechen im Chor in den Ruf „Allahu akbar“ aus. Im gleichen Beitrag erklärt ihr Sprecher Mullah Bararda Akhund: „Wir gratulieren der ganzen afghanischen Nation zu ihrem großartigen Sieg.“ Heute ist das alles kaum mehr eine Meldung wert. Grund genug, sich über Afghanistan hinaus in dieser Welt umzusehen und ein paar Blicke zurückzuwerfen.
9/11
Die September-Anschläge 2001 stellten klar, dass das mit dem Ende der Blockkonfrontation ausgerufene Ende der Geschichte in einer zum grenzenlosen Weltmarkt gewordenen Welt schon wieder zu Ende war. Sie stellten klar, dass eine solche Weltordnung nie wirklich weltweit, sondern immer von Rändern umzogen sein würde, hinter denen wachsende Gefahren lauern würden. Zielte die tatsächlich besiegte „rote Gefahr“ zumindest im Anspruch auf eine zur kapitalistischen Weltordnung alternativen Ordnung, waren und sind diese Gefahren eher chaotischer Natur: drohen nicht mit einer anderen Ordnung, sondern mit deren Störung, mit dem Untergraben, dem Aussetzen schlechthin von Weltordnung und also Weltmarkt. Sie sind darin Kräfte, die noch in ihren Ungeheuerlichkeiten ambivalent bleiben. 2001 gaben sie den USA und ihren Verbündeten erst einmal den Grund, knapp zwei Monate nach dem Anschlag auf das World Trade Center auch mit eigenen Truppen in den afghanischen Krieg einzugreifen, der zunächst „nur“ das letzte Gefecht der abgeschlossenen Blockkonfrontation zu sein schien. Im Dezember 2001 legitimierte der UN-Sicherheitsrat nachträglich die Intervention, es kam zur Gründung der International Security Assistance Force (ISAF). Der Sturz der seit 1996 herrschenden Taliban schuf allerdings keinen Frieden – wie hätte er das in dem kriegszerrütteten und schon damals bitterarmen Land auch erreichen sollen? Als es 2004 offiziell zur Gründung der Islamischen Republik Afghanistan kam, hatten sich die Taliban bereits reorganisiert, gaben Zug um Zug den Takt des weiteren Geschehens an. Nur zwei Jahre später waren sie in der Hälfte aller Provinzen wieder maßgebende politische und militärische Kraft, kontrollierten mehrere Distrikthauptstädte, wichtige Straßen, Teile der Wirtschaft und der Energieversorgung. Dagegen weiteten die ISAF-Verbündeten ihre Aktivitäten aufs pakistanische Hinterland der Taliban aus, spürten dort den Kopf des al Qaida-Netzwerks auf, Osama bin Laden. Seine Tötung im pakistanischen Abbottabad am 2. Mai 2011 markiert wohl den symbolisch erfolgreichsten Moment der Intervention, weiter sind die Verbündeten nicht gekommen. Wenige Monate zuvor war ihre schleichende Resignation bereits ausdrücklich geworden, kaum verhüllt in dem Beschluss, die Bekämpfung der Taliban zuerst den afghanischen Streitkräften zu überlassen. Zum 10. Jahrestag der Intervention, am 7. Oktober 2011, erklärte der deutsche General Kujat, einer der Afghanistan-Strategen der NATO: „Wenn man aber das Ziel zum Maßstab nimmt, ein Land und eine Region zu stabilisieren, dann ist dieser Einsatz gescheitert.“ Er fuhr fort: „Wenn wir 2014 aus Afghanistan rausgegangen sind, dann werden die Taliban die Macht in wenigen Monaten wieder übernehmen.“ Heute wissen wir, dass das Scheitern sich zwar etwas länger hingezogen hat, der General aber Recht behalten hat. Mit dem bemerkenswerten Unterschied, dass der endgültige Rückzug der ISAF-Truppen und die Rückkehr der Taliban an die Macht nicht Monate, sondern nur ein paar Tage auseinanderlagen.
Das Scheitern der Republik
Der Titel, dem die USA ihre Intervention unterstellten, lautete „Operation Enduring Freedom“, Operation andauernde Freiheit. Bezogen war er nicht allein auf Afghanistan, sondern auch auf Nord- und Ostafrika sowie die Philippinen. Zu andauernder Freiheit kam es nirgendwo, natürlich auch in Afghanistan nicht. Damit ist nicht gesagt, dass die ISAF und ihre Republik gar nichts geändert hätten, nicht im Schlimmen und nicht im Guten. Einige Afghan:innen wurden mit Hilfe der ISAF reich und mächtig: der letzte Präsident der Republik, Ashraf Ghani, floh mit einem Hubschrauber voller Geld außer Landes. Nach unbestätigten Berichten aus den eigenen Reihen führte er 169 Millionen Dollar mit sich, eine weitere Million fanden die Taliban verstreut auf dem Boden des Präsidentenpalasts. Ein deutlich geringeres, wenn auch immerhin ein Auskommen fanden alle, die als Beamt:innen, Polizist:innen, Soldat:innen in den Dienst der Republik traten. Unter ihnen auch die Lehrenden der Schulen und Universitäten auch für Mädchen und Frauen, die es tatsächlich gab, samt ihren Schüler:innen und Studierenden. Nicht nur, doch auch und gerade aus ihren Reihen bildeten sich dann tatsächlich Kerne der vielbeschworenen „Zivilgesellschaft“, auf die eine tatsächlich andauernde Freiheit ja dauerhaft angewiesen sein wird. Zu ihnen gehörten die Aktivist:innen des landesweit tätigen medico-Partners Afghanistan Human Rights and Development Organisation (AHRDO). Sie führten noch 2017 eine den wirklichen Bedingungen dauerhafter Freiheit gewidmete „Universität im Untergrund“ durch, zu deren Veranstaltungen insgesamt 700 Menschen zusammenkamen. Haben sich diese und andere Aufbrüche auch nicht halten können – wie sollten sie das auch? – bleiben sie doch heute noch Vorgriffe immerhin auf Möglichkeiten einer Freiheit, über die das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Gerade deshalb aber verdichtet sich gerade hier das Scheitern der Republik und der ISAF im August 2021. Es verdichtet und besiegelt sich in dem wortwörtlich gnadenlosen Verrat der Menschen, die sie schutz- und rechtlos den Taliban auslieferten. Nur einem Bruchteil gelang die Flucht, auf abenteuerlichem Weg auch den medico-Partner:innen, die heute in Kanada leben und dort versuchen, an ihrer Freiheit festzuhalten.
Millionen aber blieben zurück und müssen jetzt versuchen, mit der allgegenwärtigen Gewalt und mit der aussichtslosen Armut zurechtzukommen. Kaum angelaufen, wurde das „Bundesaufnahmeprogramm“ für Afghanistan-Flüchtlinge im Frühling dieses Jahres erst einmal ausgesetzt. Aktuell weiß niemand, wie, wann und ob überhaupt die über 14000 Menschen das Land verlassen können, denen die Prüfung ihres Gesuchs immerhin zugesichert wurde.
Strategien der NATO 1999 und 2010
In ihrem Entwurf sollte die Operation Enduring Freedom realisieren, was das damals jüngste „Strategische Konzept“ der NATO seit dem Jahr 1999 vorsah. Das Konzept ist neben dem NATO-Vertrag das wichtigste Dokument des Bündnisses, jeweils für die Dauer von 10 Jahren gibt es ihm Weg und Ziel vor. Das Konzept von 1999 sah das Bündnis der freien Welt einer Vielzahl von Gefahren ausgesetzt: „Ungewissheit und Instabilität im und um den euro-atlantischen Raum sowie die mögliche Entstehung regionaler Krisen an der Peripherie des Bündnisses (...), ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten, (...) Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen“ und „die unkontrollierte Bewegung einer großen Zahl von Menschen, insbesondere als Folge bewaffneter Konflikte.“
Es sind dies alles, um auf den Anfang zurückzukommen, keine „roten“, sondern chaotische Gefahren: sie drohen nicht mit einer anderen Ordnung der Welt, sie drohen der Weltordnung selbst, sie tun das aus ihrer Perspektive zu Recht. Deshalb sprach sich die NATO ihr globales Gewaltmonopol zu – ein Monopol, dessen Übernahme und Ausübung ihr damals immerhin konkurrenzlos und deshalb unbestritten zu sein schien, ein Monopol, das sie deshalb auch offensiv umsetzen wollte. Sein Paradigma hatte dieses Konzept in den jugoslawischen Kriegen gefunden, weitere Erfahrungen hatten die NATO-Strateg:innen in Ruanda und Somalia gesammelt. Dem Charakter nach sollte das globale Gewaltmonopol eher einer polizeilichen als militärischer Logik folgen, auch, weil es der „Wertegemeinschaft“ wirklich darum ging, unter historisch neuen Bedingungen erst einmal Erfahrungen zu machen. Klar war allerdings, dass die politische Verpflichtung auf die Durchsetzung der Menschenrechte und der Demokratie ihre wirkliche Probe im Funktionieren des kapitalistischen Weltmarkts finden würden, in der Sicherung zuerst der Freiheit der Geld- und Warenströme und in der Regulation der Arbeitsströme, denen damit immerhin eine Teilhabe am weltgesellschaftlichen Reichtum zufallen sollte.
Das Nachfolgekonzept beschloss die NATO 2010, als sich ihr Scheitern nicht nur in Afghanistan bereits abzeichnete. Im Doppeltitel „Aktives Engagement, moderne Verteidigung“ liegt der Akzent deutlich auf dem zweiten Teil, dem der Verteidigung: Die Welt ist nicht mehr nur rundum gefährlich, sondern wird von ihren chaotischen Rändern her immer gefährlicher. Das Bündnis aber will behalten, was es bereits in der Hand hat, voran die Bedingungen zur Aufrechterhaltung seines Weltmarkts. Weil das Mandat zur Gewalt deshalb global ausgespannt bleiben muss, werde sich die NATO Staaten „wenn möglich und erforderlich engagieren, um Krisen zu verhüten und zu managen und um Postkonfliktsituationen zu stabilisieren und Wiederaufbau zu unterstützen.“ Zum ersten strategischen Partner des Bündnisses wurde die Russische Föderation erhoben, Putins zeitweiliger Vertreter Medwedew nahm am Gipfel als Gast teil. Partner wollte man gerade in der Wende von der offensiven zur defensiven Ausübung des Gewaltmonopols werden: Gemeinsam mit Russland sollen die sich gegenseitig verstärkenden und vertiefenden Krisen an den Rändern der Welt nicht gelöst, sondern eingehegt werden. Darin, so das Kalkül, ziehen Washington, Brüssel, Moskau und zuletzt auch Peking doch an einem Strang.
Blick zurück als Blick voraus
In den Jahren nach 2010 wird immer schneller deutlich, dass nicht nur der Ausgriff auf ein im Ende der Blockkonfrontation beschlossenes kapitalistisches Ende der Geschichte zu optimistisch war. Zu optimistisch war schon der Ausgriff auf Einhegung und damit auf Kontrolle der Ränder, die den Weltmarkt von den chaotischen Gefahren jenseits dieser Ränder trennen. Ihre Aktualität findet diese Einsicht in der bis zum heutigen Tag nicht abgerissenen Kette von Aufständen, die ihren Anfang 2010 im Arabischen Frühling nahmen – nicht zufällig wieder im Jahr auch der Wende zur Resignation im Afghanistan-Konflikt. Dass diese Aufstände weniger mit einer anderen Weltordnung, sondern eher mit dem Untergraben und der Aussetzung von Ordnung überhaupt drohen, erwies sich in Syrien, Ort des im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts größten Weltkonflikts. Er hinterließ ein auf Jahrzehnte verwüstetes Land, trieb über fünf Millionen Menschen in die Flucht – und beließ die Regierungsgewalt bei der Raub- und Gewaltelite, die die NATO eigentlich gestürzt sehen wollte. Dies gelang dem Assad-Clan mit direkter russischer Unterstützung und indirekter chinesischer Deckung: ein Gegenzug, dem seitens Moskaus und Peking trotz der antiimperialen Rhetorik allerdings kein Anspruch auf eine alternative Weltordnung innewohnt. Was in Syrien bereits handfest wurde, wurde im Konflikt um die Ukraine zum Alpha und Omega nicht nur der westlichen, sondern schlicht jeder Weltordnungspolitik, die russische und die chinesische eingeschlossen. Der gemeinsame Punkt, um den solche Politik heute kreist, ist der Schwund auf Null des Optimismus, der sie noch im Einmarsch in Afghanistan trug. Die chaotischen Ränder der Weltordnung sind nicht zu kontrollieren, nicht einzuhegen, sie wachsen rasant und weiten sich tagtäglich aus. Und eben deshalb, wegen dieses Schwunds des Weltordnungsoptimismus auf Null, finden die verbliebenen Weltordnungsmächte keinen Konsens mehr unter- und miteinander, sondern gehen aufeinander los.
Die Aussichtslosigkeit zeigt sich nicht nur in Syrien und der Ukraine, sie zeigt sich auch in Afghanistan, wo der Westen nicht anders als China nur noch im Deal mit den Taliban „zu Rande kommen“ kann. Sie zeigt sich aktuell aber auch im Konflikt um die neuen westafrikanischen Militärregierungen, in dem die Weltordnungsmächte entweder wieder aneinandergeraten oder aber eben wieder in einem Deal „zu Rande kommen“ müssen. Sie zeigt sich nicht zuletzt im neuesten strategischen Konzept der NATO, dem des Jahres 2022. Das sieht in der Russischen Föderation nicht mehr einen möglichen strategischen Partner, sondern „die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euroatlantischen Raum.“ Gleich hinter dieser „größten und unmittelbaren Bedrohung“ lauert, als noch weiter reichende Drohung, die immer enger werdende russisch-chinesische Partnerschaft. Hinter ihr aber droht der eigentliche Un- und Abgrund der eskalierenden Konkurrenz der Weltordnungsmächte untereinander: der ökologische Kollaps des Planeten, die absehbar mit ihm einhergehenden ökonomischen und politischen Verwerfungen, nicht zuletzt die ungeheure Wucht, die damit den weltweiten Migrationsbewegungen verliehen wird. Deshalb will die NATO jetzt „die führende internationale Organisation dafür werden, die Auswirkungen des Klimawandels auf die Sicherheit zu verstehen und sich entsprechend anzupassen.“ Im Sich-anpassen und Sich-verstehen-müssen auf den ökologischen Kollaps allein im Blick auf die eigene „Sicherheit“ verrät sich der Schwund des Optimismus auf Null, und er verrät, selbst wieder nur ein ungedeckter Optimismus zu sein, ein Optimismus der letzten Tage. Der ökologische Kollaps wird nicht einzuhegen sein, weil die Bereitschaft zu den Maßnahmen fehlt, mit denen er – wenigstens „eingehegt“ werden könnte. Also werden auch die ökonomischen und politischen Verwerfungen nicht eingehegt werden können, die ihn begleiten. Was bleibt, ist die Gewalt, zu deren Ermöglichung die NATO sich 2022 zu einer Aufrüstung in historisch ungekanntem Maß verabredet hat. In ihrer Alternativlosigkeit kann und wird sie nur eine Gewalt weiterer Verwüstung sein, nicht anders als die russische und die chinesische, trotz aller Schwüre auf die „westlichen Werte.“ Von diesem Ende her betrachtet werden die Bilder der Taliban am Tisch des letzten afghanischen Präsidenten im eminenten Sinn historische Bilder geworden sein: Bilder von dem, was kommen wird.