Das wöchentliche medico-Factsheet zum Krieg in Palästina und Israel. Updates, Zahlen und Hintergründe von Chris Whitman, medico-Büroleiter für Israel und Palästina.

#3. Vor dem Wintereinbruch

27.11.2024

   Gaza

Der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich hielt am 25. November eine Rede auf der Konferenz des Jescha-Rates, dem Dachverband der Siedlungen, und sagte dort: „Es ist möglich, Gaza zu erobern und die Bevölkerung innerhalb von zwei Jahren um die Hälfte zu reduzieren.“ Zudem tätigte er zahlreiche Aussagen über eine mögliche Annexion des Gazastreifens. Es gibt eine wachsende Gruppe von jüdischen Siedler:innen, die sich mit Wohnwagen, Baumaterialien und -maschinen an der Grenze zum Gazastreifen aufhalten und auf die Einreise warten. Einige Quellen schätzen dereb Zahl auf 200-300 Personen, andere auf über 1000, die dort täglich campieren.

Nördlicher Gazastreifen

In den letzten Tagen hat es stark geregnet. Nach Angaben des Zivilschutzes wurden mindestens 10.000 Zelte durch die Regenfälle zerstört. Einige wurden weggespült, andere sind durch die Überschwemmungen zerbrochen. Ein durchschnittliches Zelt fasst acht bis zehn Personen. Weitere starke Regenfälle und Stürme werden folgen. Die Temperatur ist innerhalb von 24 Stunden von 20-22 Grad auf zehn bis zwölf Grad Celsius gefallen.

Das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) schätzt, dass seit dem 6. Oktober 2024 zwischen 100-131.000 Menschen aus der nördlichen Hälfte des nördlichen Gazastreifens vertrieben wurden und etwa 65-75.000 übrig geblieben sind. Die Bevölkerung von Gaza-Stadt ist auf 350-375.000 Menschen angewachsen. Vor dieser großen Operation lag sie bei 225-250.000. Die meisten Menschen sind in Behelfslagern untergebracht, beispielsweise in Stadien oder auf offenen Flächen. Andere leben in beschädigten Gebäuden. Beide Varianten sind für den Winter untragbar.

Die 65.-75.000 Menschen, die in der nördlichen Hälfte des nördlichen Gazastreifens verbleiben, werden weiterhin ausgehungert, bombardiert und beschossen. Es geschieht mit einer Intensität, die jener zu Kriegsbeginn ähnelt. Aus diesem Grund bezeichnet u.a. Human Rights Watch (HRW) dies als ethnische Säuberung, Zwangsumsiedlung, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Die israelische Armee geht von Häuserblock zu Häuserblock, vertreibt die Menschen mit Waffengewalt. Daraufhin setzt sie die Unterkünfte in Brand oder sprengt die Wohnblocks in die Luft.

Hilfseinsätze im nördlichen Gaza werden weiterhin besonders stark behindert, wie das Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) berichtet. Zwischen dem 6. Oktober 2024 und 25. November 2024 wurden 82 der 91 Koordinierungsanfragen für humanitäre Missionen im nördlichen Gazastreifen abgelehnt, während neun von ihnen bei der Umsetzung behindert wurden und dementsprechend nur begrenzt ihre Ziele erreichen konnten. Koordinierte Hilfsmissionen in Gebiete im südlichen, westlichen und zentralen Gouvernements Rafah, das seit Anfang Mai von einer israelischen Militäroperation heimgesucht wird, standen vor ähnlichen Herausforderungen: 26 der 63 koordinierten Missionen (41 Prozent) wurden zwischen dem 1. und 18. November entweder verweigert oder behindert.

Die Gesundheitsversorgung in der nördlichen Hälfte des nördlichen Gazastreifens ist eingeschränkt. Der Direktor des Krankenhauses Kamel Adwan wurde vor etwa fünf Tagen durch eine Drohne verletzt. Das Krankenhaus wird weiterhin mit Bomben und Schüssen beschossen. Dabei wurde auch das Sauerstoffsystem zerstört. Versuche von internationalen Hilfsorganisationen und dem Krankenhaus selbst, Hilfe, Personal usw. zukommen zu lassen, werden von der Armee aktiv blockiert.
Die Organisation Save the Children  schreibt zur humanitären Lage im Norden Gazas: „Rund 130.000 Kinder unter 10 Jahren sind seit 50 Tagen in Gebieten im Norden des Gazastreifens eingeschlossen, die für Helfer fast völlig unzugänglich sind, und erhalten trotz Warnungen vor einer Hungersnot keine Lebensmittel oder medizinische Versorgung.“

Südlicher Gazastreifen

Die Hamas hat eine Kampagne gestartet, um gegen die Mafia-Familien und LKW-Plünderer vorzugehen (siehe Factsheet vom 20.11.2024). Sie hat in den letzten zwei Wochen zahlreiche Bandenmitglieder angegriffen und getötet. Trotz der unmittelbaren Präsenz der israelischen Armee laufen die Plünderungen fort.

Die meisten Bäckereien sind derzeit geschlossen, nur vier von 18 Bäckereien, die von internationalen Hilfsorganisationen unterstützt wurden, sind derzeit in Betrieb. Die Hauptbäckerei in Khan Younis musste aus Mangel an Treibstoff und unverdorbenem Mehl geschlossen werden. Verdorbenes Mehl ist gegenwärtig die Norm, bestätigen medico-Partnerorganisationen im südlichen Gazastreifen. Verdorbenes Mehl kostet etwa 350-500 Schekel (90-129 Euro) für einen 25-Kilo-Sack. Unverdorbenes Mehl kostet in der Regel 900-1000 Schekel (233-259 Euro). Viele Menschen kaufen das verdorbene Mehl und versuchen, den Schimmel und das Ungeziefer auszusieben.

Vor etwa zehn Tagen hat Israel die humanitäre Zone um ein paar kleine Blöcke erweitert und die Genehmigung für neue Feldlazarette angekündigt. Es sind Feldkrankenhäuser, die von internationalen Organisationen oder den Golfstaaten betrieben werden, und als Hauptanbieter von Gesundheitsleistungen fungieren.

Der Philadelphi-Korridor wurde in den letzten zwei Wochen erheblich erweitert. Der Korridore is als eine Schneise zu verstehen, der den Gazastreifen von Ägypten trennt, vom Meer im Westen bis zur Grenze zu Israel im Osten. Das Flüchtlingslager Shaboura in der Stadt Rafah wird mit Hilfe privater Unternehmen abgerissen, um den Korridor weiter auszubauen. Der Korridor ähnelt mit seinen Straßen und seiner Infrastruktur mehr und mehr dem Netzarim-Korridor. Zieht sich diese Dynamik fort, wird Rafah in wenigen Monaten keine Stadt mehr sein und auch nicht mehr bewohnbar sein.

   Westjordanland

Mahmoud Abbas, führendes Mitglied der Fatah-Bewegung, Vorsitzender der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) sowie Präsident des Staates Palästina, kündigte kürzlich an, dass im Falle seines Todes Rawhi Fattouh, ehemals Sprecher des Palästinensischen Legislativrates, bis zu den Wahlen vorübergehend das Amt übernehmen wird. Nach palästinensischem Recht müssen diese innerhalb von 90 Tagen abgehalten werden.

Diese Ankündigung bedeutet, dass Abbas seinen Nachfolger nicht selbst auswählen wird und die Fatah neue Vertreter wählen und Kandidaten aufstellen muss - so wie jede normale politische Partei auch. Die Entscheidung ist überraschend, und gleichzeitig auch nicht. In einer Welt vor dem 7. Oktober 2023 wären Wahlen in diesem Stile undenkbar gewesen. In einer Welt nach dem 7. Oktober 2023 sind sie vielleicht das Einzige, was die Fatah vor dem politischen Aus noch retten kann. Es könnte auch bedeuten, dass die Fatah die ersten Wahlen nach dem Tod von Abbas verlieren werden. Dies könnte die Lage im Westjordanland aufgrund interner Machtkämpfen verschlechtern, jedoch weniger, als wenn es kein Protokoll und kein Verfahren für diese Periode gäbe. Die Fatah hat derzeit keine starken Kandidaten, die eine Wahl gewinnen und die Wählerschaft mobilisieren sowie inspirieren könnten. Auch die Hamas hat derzeit keine starken Kandidaten. Sie wurden größtenteils umgebracht.

Seit dem 7. Oktober 2023 wurden durchschnittlich drei Kinder pro Woche im Westjordanland getötet. Über 1000 wurden verwundet. Seit letzter Woche fanden mindestens drei Luftangriffe im Westjordanland statt - zwei davon in Dschenin und einer in Tulkarem. In Dschenin und Tubas ist es in letzter Zeit zu großen Eskalationen gekommen. Im Flüchtlingslager Tubas hat die israelische Armee alle Straßen aufgerissen. Tubas ähnelt nun mehr und mehr dem Flüchtlingslager in Tulkarem.

Die Zahl der Siedleraußenposten nimmt zu (siehe Factsheet vom 20.11.2024). Manche der Außenposten werden durch Siedlermilizen betrieben, die illegalerweise Uniformen der israelischen Armee benutzen. Dies wurde in den letzten Tagen in der Gegend von Jericho, an einer Straße bei Eli und Maale Levona und an einer anderen Straße bei Hebron festgestellt. Die Außenposten zielen auf die vollständige Unterbrechung des Verkehrs ab, die Beschädigung von Autos, die Beschlagnahmung von Privateigentum usw. Auch die Siedlergewalt steigt weiterhin. Im Durchschnitt finden sieben Angriffe täglich statt. Seit dem 7. Oktober 2023 wurden 295 palästinensische Haushalte mit insgesamt 1.722 Menschen aufgrund von Siedlergewalt vertrieben.

In der von Israel kontrollierten H2-Zone in Hebron - dort leben 800 Siedler:innen und über 30.000 Palästinenser:innen - wurden seit dem 7. Oktober 2023 neue Einschränkungen für die palästinensische Bevölkerung verordnet. Etwa 13.000 Studierende haben so zwischen Oktober 2023 und Mai 2024 aufgrund der Bewegungseinschränkungen aufgehört zu studieren.

   Israel

Während nach dem Waffenstillstand zwischen Israel und der Hizbullah die Libanes:innen nach Hause zurückkehren oder dies versuchen (und daran teilweise gehindert werden durch die noch anwesende israelische Armee), ist die Stimmung unter den vertriebenen Israelis aus dem Norden gespalten. Umfragen zufolge möchte die Hälfte von ihnen nicht zurückkehren; 30 Prozent wollen so schnell wie möglich zurückkehren; 20 Prozent sind unentschlossen.
Seitdem der Waffenstillstand in Kraft getreten ist, werden immer mehr Informationen über die von der Hizbullah verursachten Zerstörungen veröffentlicht, die bisher unter strenger Geheimhaltung standen. Sie zeigen, dass das Ausmaß der Zerstörung höher ist, als bisher von der israaelischen Armee oder Regierung zugegeben wurde.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zufolge, sollen nun alle Anstrengungen für ein Abkommen im Gazastreifen verwendet werden. Eine ägyptische Delegation ist dafür im Land, um zu verhandeln. Zudem wurde die Türkei mit ins Boot geholt. Katar spielt eine Rolle hinter den Kulissen. Im Gegensatz zur öffentlichen Darstellung Israels, ist und war die Türkei einer der stärksten Verbündeten Israels. Auch wenn sie sich gegenseitig für innenpolitische Belange instrumentalisieren, ist und war die Türkei einer der stärksten Handelspartner Israels, vor allem entlang der militärischen Zusammenarbeit. Die Hamas hat währenddessen angekündigt, dass sie an einer Wiederaufnahme der Verhandlungen interessiert sei.

In der Knesset fand eine Anhörung mit den Angehörigen der Geiseln statt, bei der Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir sagte, dass er für einen Geisel-Deal nicht zur Verfügung stünde.

#2. Kein Ende in Sicht

20.11.2024

   Gaza

Die umgangssprachlich als „Plan der Generäle“ bezeichnete Militäroperation (siehe Factsheet vom 13.11.2024) im nördlichen Gazastreifen geht weiter. In Beit Lahia finden in hoher Frequenz Luft- und Artillerieangriffe durch die israelische Armee statt. In Beit Hanoun geht die Armee von Haus zu Haus vor. Beide Vorgehen vertreiben die lokale Bevölkerung nach Süden. Von den geschätzten 200.000 Menschen, die sich im September 2024 in den drei Städten Beit Lahia, Beit Hanoun und Jabalia aufhielten, sind nach Angaben der Vereinten Nationen noch 70-90.000 Palästinenser:innen vor Ort. Seit dem 6. Oktober 2024 sind im Norden offiziell etwa 2.400 Menschen getötet worden. Die Dunkelziffer liegt darüber.

Laut UNICEF führt die israelische Armee im Gazastreifen seit September täglich zwei Angriffe auf Schulen aus. Das ist die höchste Zahl seit Beginn des Krieges – allein im Oktober erfolgten 28 Prozent aller Bombardierungen auf Schulgebäude. Mindestens 128 Menschen wurden im Oktober durch die Bombardierung von Schulen getötet. Der WHO zufolge leiden fünf Prozent der Kinder unter fünf Jahren im Gazastreifen an mindestens einer Infektionskrankheit; 25 Prozent der Frauen leiden an Hautkrankheiten. Allein in der ersten Novemberwoche wurden 11.000 akute Atemwegsinfektionen dokumentiert.

Am Montag wurde publik, dass am Wochenende 97 von 109 Lastwagen, die Hilfsgüter transportierten, von bewaffneten Banden überfallen worden waren. Kurz davor erschien bereits ein Bericht der israelischen Tageszeitung Haaretz, wonach diese Banden durch das israelische Militär unterstützt werden. Die Hamas nutzt diese Komplizenschaft, um die Unterstützung der palästinensischen Bevölkerung zu gewinnen. Sie griff mehrere dieser Banden an, tötete Dutzende ihrer Mitglieder und gaben die Hilfsgüter frei.

Einer der Gründe, warum die Hamas im Gazastreifen Anerkennung erfährt, ist ihr Vorgehen gegen diese Banden, die gemeinhin als „die Mafia“ bezeichnet werden. Ursprünglich sind es einflussreiche Familien aus Rafah und Khan Younis gewesen, mit denen der israelische Staat nach 1967 zusammenarbeitete, um regierungsähnliche Strukturen herzustellen. Als die Palästinensische Autonomiebehörde in den 1990ern Jahren an die Macht kam, musste sie sich zusätzlich gegen diese Mafia zur Wehr setzen, die zu diesem Zeitpunkt bereits knapp 30 Jahre unter dem Schutz Israels stand. Als die Hamas schließlich 2006 die Wahlen im Gazastreifen gewann, bestand eines ihrer Hauptziele in der Zerschlagung dieser familiären Bandenstrukturen. Seit Kriegsbeginn versucht die israelische Regierung, die Zusammenarbeit neu zu beleben, was nicht nur der Versuch ist, die Macht der Hamas zu schwächen, sondern auch, die Bevölkerung zu spalten.

Die israelische Armee hat in der letzten Woche den Philadelphi-Korridor und Netzarim-Korridor (siehe Factsheet vom 13.11.2024) ausgeweitet. Die Korridore sind als eine Schneise zu verstehen, vom Meer im Westen bis zur Grenze zu Israel im Osten. Der Netzarim-Korridor trennt den Norden Gazas vom Süden ab, der Philadelphi-Korridor trennt den Gazastreifen von Ägypten ab. Daniella Weiss, eine prominente Stimme der jüdischen Siedlerbewegung, behauptete öffentlich, sie sei auf einer „Aufklärungsmission“ im nördlichen Gazastreifen gewesen. Sie teilte mit, wo in naher Zukunft Siedlungen gebaut werden könnten. Die israelische Armee stritt eine Beteiligung hierbei ab.

   Westjordanland

In den letzten Tagen hat die israelische Armee fünf neue Außenposten errichtet. Außenposten sind in der Regel mit Unterstützung von bereits angesiedelten Siedler:innen neu besetzte Gebiete. Außenposten sind auch nach israelischem Recht illegal. Dass ihre Anzahl seit dem 7. Oktober 2023 zunimmt, ist indes nur möglich durch aktive Unterstützung oder zumindest Duldung des israelischen Staates. Mit den Außenposten gehen gewalttätige Übergriffe gegenüber der palästinensischen Bevölkerung durch die Siedlerbewegung einher.

   Israel

Nach den Wahlen in den USA gab es zunächst große Erwartungen an die neue Regierung. Diese Euphorie innerhalb der israelischen Regierung und großen Teilen der Gesellschaft hat mittlerweile nachgelassen, vermutlich durch interne oder externe Einflüsse, die die Erwartungen dämpfen sollten. Es gab eine Verschiebung in der Rhetorik, insbesondere von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der sich zunehmend kritisch gegenüber den USA unter Präsident Joe Biden äußert und behauptet, die us-amerikanische Unterstützung behindere Israels militärische Operationen. Dies deutet auf eine wachsende Distanz zwischen den Regierungen hin.

Die Rekrutierung ultraorthodoxer Männer für das Militär bleibt innerhalb Israels weiterhin ein umstrittenes Thema. Befehle zur Einberufung werden erteilt, aber selten durchgesetzt. Die Teilnahmequote von Reservist:innen ist dramatisch gesunken, was die militärische Leistungsfähigkeit Israels belastet. Zeitgleich existieren Konflikte innerhalb der Regierung. Die ultraorthodoxen Parteien haben erheblichen Einfluss und könnten bei größeren Konflikten die Regierung destabilisieren. Dieses Risiko wird durch die wachsenden Spannungen in der Armee und durch die Herausforderungen in Gaza verstärkt. Israels interne und externe Herausforderungen verstärken die politische und militärische Unsicherheit. Die fragile Koalition und der Druck auf die Armee sind zentrale Herausforderungen für die Stabilität des Landes.

   Libanon

Israel und die USA haben einen Plan für einen Waffenstillstand vorgelegt. In Augen der israelischen Regierung, des Militärs und Teilen der Gesellschaft gilt der Krieg im Libanon als erfolgversprechender und symbolisch wichtiger als der Krieg im Gazastreifen. Der Krieg gegen Gaza wird als langwierig und frustrierend empfunden. Es gibt Stimmen in Israel, die den Libanon als zukünftigen potenziellen Verbündeten sehen, während Gaza als hoffnungsloses Problem betrachtet wird. Israels Ziel scheint eher eine Reduzierung der Intensität des Konflikts zu sein, ohne dabei die eigenen Interessen zu gefährden.

#1. Vertreibung & Zerstörung im Norden von Gaza

13.11.2024

   Gaza

Seit über einem Monat arbeitet das israelische Militär an einer groß angelegten Militäroperation im nördlichen Gazastreifen, die umgangssprachlich „Plan der Generäle“ genannt wird. Die Bezeichnung geht auf die Initiative einiger israelischer Generäle der Reserve zurück, die vorschlugen, die gesamte Zivilbevölkerung zwangsweise aus dem Norden der Enklave zu vertreiben, um dann dort vermeintlich verbliebene palästinensische Kämpfer auszuhungern und endgültig besiegen zu können. Die laufende Operation mag sich in ihrem zeitlichen Ablauf nicht exakt an den Plan der Generäle halten, aber es ist augenfällig, wie sehr der dreistufige Ansatz, der hier offenkundig gegen die Zivilbevölkerung zur Anwendung kommt, den im Plan skizzierten Maßnahmen entspricht. Auch hat die Armee bereits selbst verlauten lassen, dass sie Teile des Plans umsetzt. Die erste Stufe beinhaltet den Befehl an die lokale Bevölkerung unter Gewaltandrohung nach Gaza-Stadt zu fliehen, das ebenfalls weitgehend zerstört und weiterhin Ziel von Angriffen ist. Rund 400.000 Menschen befanden sich vor Beginn der Operation im Norden von Gaza. Die zweite Stufe zielt auf die Blockade jeglicher Hilfslieferungen für einen Teil oder für den gesamten nördlichen Gazastreifen ab, um die Befolgung des Befehls zur Zwangsumsiedlung zu erzwingen. Die absehbare dritte Stufe ist schließlich die Zwangsevakuierung aller verbliebenen Palästinenser:innen in die südliche Hälfte des Gazastreifens. Diejenigen, die trotz dieser stufenweisen Militäroperation zurückbleiben, werden zu legitimen Zielen erklärt und könnten getötet werden.

Die israelische Armee hat die Schritte eins und zwei in der nördlichen Hälfte des nördlichen Gazastreifens, genauer gesagt in den Orten Jabalia, Beit Lahia und Beit Hanoun, durchgeführt. Damit die 200.000 Menschen, die dort Ende September noch überlebten, nach Gaza-Stadt ziehen, wird die Armee in diesem Gebiet auch weiterhin Angriffe auf die Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur ausführen. Schulen, Notunterkünfte und Krankenhäuser sind aktive Ziele des Militärs. Wochenlang ließ die Armee keine Hilfslieferungen in dieses Gebiet durch, bis sie am 7. November einer symbolischen Lieferung von Medikamenten der Weltgesundheitsorganisation an das Krankenhaus Kamel Adwan zustimmte, welches sie zwei Tage später bombardierte.

Die aktuelle Zerstörung von Jabalia erfolgt sowohl mit Artillerie- und Luftangriffen, als auch unter einem verstärkten Einsatz von D9-Bulldozern. Die israelische Armee räumt und zerstört den nördlichen Gazastreifen, so die Einschätzung, um einen zukünftigen israelischen Siedlungsbau rechtfertigen zu können.

Der Netzarim-Korridor hat sich mittlerweile auf offiziell 56 Quadratkilometer des Gazastreifens ausgedehnt. Das sind 15% des Gazastreifens, ein weitaus größeres Gebiet als die sogenannte humanitäre Zone, in der weit über eine Million Vertriebener ausharren. Weitere Ausweitungen des Korridors und der Bau israelischer Infrastruktur finden ebenso statt. Gleiches belegen Unterlagen für das Vorgehen im Philadelphi-Korridor. Zudem gibt es einen dritten, noch unbenannten Korridor, der bei Jabalia errichtet wird. In allen drei Fällen handelt es sich um sogenannte gesäuberte Korridore. Die Korridore sind als eine Schneise zu verstehen, vom Meer im Westen bis zur Grenze zu Israel im Osten. Der Netzarim-Korridor trennt den Norden Gazas vom Süden ab, der Philadelphi-Korridor trennt den Gazastreifen von Ägypten ab.

Die israelische Regierung öffnet auf amerikanischen Druck hin einen neuen Grenzübergang in Kissufim, etwa sieben Kilometer nördlich von Kerem Schalom. Früher war dieser einmal ein Tor, ist aber seit Jahrzehnten geschlossen. Entscheidend für die humanitäre Hilfe ist jedoch nicht die Anzahl der Grenzübergänge, sondern die Menge an Hilfsgütern, die zugelassen werden. Diese fallen mit täglich 30-50 Lastwagen weiterhin extrem knapp aus.

Ohne politischen Druck von außen, ist zu erwarten, dass der nördliche Gazastreifen bis nach Gaza-Stadt in einigen Woche bis wenigen Monaten gesäubert sein wird.

   Westjordanland

Nachdem im Oktober die Anzahl der israelischen Angriffe zurückgegangen ist, erfolgen diese seit Novemberanfang erneut in verstärkter Weise. Die Orte Tulkarem, Tubas und Dschenin sind weiterhin die Hauptziele.

Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) und die Hamas haben einen Plan für den ‚Tag danach‘ in Gaza entwickelt, der außerhalb Palästinas weitestgehend unbemerkt blieb. Dafür hat die PA Gespräche mit Ägypten und weiteren Akteuren geführt, um die Kontrolle über den Grenzübergang in Rafah wiederzuerlangen.

Die PA wird die Gehälter für Dezember 2024 und Januar 2025 wahrscheinlich erneut kürzen. Nach dem Zuschuss der Europäischen Union vor einigen Monaten hat es keine weitere finanzielle Unterstützung gegeben. Die israelische Regierung zieht immer noch große Mengen der der PA zustehenden Steuern und Einnahmen ein. Im Westjordanland gibt es für gewöhnlich drei Arten, um auf wirtschaftliche Krisen zu reagieren (die Angaben in Klammern sind Schätzungen von medico): 1) Darlehen für diejenigen Personen vergeben, die rein formell Zugang zu ihnen haben (10-15%); 2) den Status Quo mit Verlusten aufrechterhalten  (10-15%); 3) vollumfassende Kürzungen (70-80%). Ein Ende der wirtschaftlichen Krise ist aktuell nicht in Sicht. Das Bruttoinlandsprodukt ist seit Oktober 2023 um 35% gesunken.

Der vor einigen Monaten von der israelischen Regierung genehmigte umfangreiche Siedlungsbau wird vermutlich bald beginnen.

   Israel

Nach den US-Wahlen befindet sich die israelische Regierungskoalition in einem Stimmungshoch. Sie hofft, insbesondere im Hinblick auf das Westjordanland, auf ähnlich gute politische Beziehungen wie zuvor in den Jahren 2017 bis 2020. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu besetzt derzeit diejenigen Regierungs- und Verwaltungsposten neu, deren Arbeit stark von einem Austausch mit den Vereinigten Staaten geprägt ist. Das betrifft u.a. das Verteidigungsministerium, das Außenministerium sowie die israelische Botschaft in den USA.

   Libanon

Das von der israelischen Regierung erklärte Kriegsziel, eine Pufferzone von einem Kilometer Breite hinter der Grenze zum Libanon zu errichten, ist weiterhin unerreicht. In den letzten Tagen feuerte die Hisbollah aus dieser Zone heraus täglich zwischen 130 bis 190 Raketen auf Israel, so die Zahlen von medico. Die 60.000 Menschen im Norden Israels, die vor den Angriffen der Hisbollah geflohen sind, können auch über ein Jahr später immer noch nicht in ihr Zuhause zurück. Die Hisbollah scheint weiterhin nicht nachzugeben, die israelische Regierung hat immer noch keinen ersichtlichen Plan, wie sie sich von der Front im Norden zurückziehen könnte.

Ein neuer israelischer Armeebericht konstatiert, dass über 33% aller Reservist:innen seit dem 7. Oktober 2023 mindestens 150 Tage im aktiven Dienst verbracht haben und dass der Krieg im Libanon die Stimmung unter den Reservist:innen zunehmend strapaziert.

#0. Im Sog des Krieges

06.11.2024

   Gaza

Der Gazastreifen befindet sich weiterhin in einem der verheerendsten Kriege des 21. Jahrhunderts. Das schiere Ausmaß an Tod und Zerstörung wäre bereits für ein Land mit größerer Fläche, mit einer funktionierenden Regierung und mit einem souveränen Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen nicht zu bewältigen. Der Gazastreifen hingegen war schon vor dem Krieg eine kleine Enklave, eingekeilt zwischen Israel und Ägypten, mit wenig bis gar keinen eigenen lebensnotwendigen Ressourcen oder gar einem funktionierenden Staat.

Die Verwüstung des Gazastreifens ist relativ gut dokumentiert. Die Zahlen, die diese belegen, müssen jedoch als das Mindestausmaß aufgefasst werden, das die Berichterstattung und Dokumentation abdecken. Bis Anfang November 2024 hat es keine unabhängige Untersuchung gegeben, die von der israelischen Regierung durch ein internationales Gremium oder eine internationale Institution zugelassen wurde, ohne dass es zu weitreichenden Behinderungen kam. Werden derweil die menschlichen oder infrastrukturellen Folgen des Krieges für die palästinensische Bevölkerung betrachtet, so bleibt ungewiss, welche Zukunft dem Gazastreifen bevorsteht.

Anhand von Satellitenbildern und Dokumentationen von vor Ort stellten die Vereinten Nationen fest, dass im September 2024 mindestens 68% des gesamten Ackerlandes zerstört gewesen ist. Munition und Chemikalien werden die Flächen zudem auf Jahre und Jahrzehnte hinaus vergiften. Über 87% aller Schulen sind entweder vollständig zerstört oder schwer beschädigt, so dass rund 625.000 schulpflichtige Palästinenser:innen keine Möglichkeit haben werden, zur Schule zu gehen. Alle sieben Universitäten wurden vollständig zerstört, und das in einem Gebiet, in dem die Menschen generell kaum Chancen auf Weiterbildung haben. Das Straßennetz wurde zu mindestens 70% zerstört. Die gezielte Zerstörung von Häusern stand im vergangenen Jahr im Fokus der israelischen Streitkräfte, was dazu führte, dass mindestens 66% aller Wohnungen zerstört oder unbrauchbar gemacht worden sind. Selbst wenn der Krieg morgen zu Ende wäre, werden die Menschen voraussichtlich noch jahrelang in Zelten leben müssen und unter unerträglichen gesundheitlichen Bedingungen leiden. Infektionskrankheiten werden weiterhin grassieren und viele werden an heilbaren Krankheiten sterben.

Derzeit gibt es fast 1,9 Millionen (von 2,2 Millionen) vertriebene Palästinenser:innen, die sich auf etwa 15% der Gesamtfläche des Gazastreifens konzentrieren. Die meisten von ihnen sind mehrfach vertrieben worden. Sie leben überwiegend in Zelten, die für die Sommerzeit gebaut wurden. Aufgrund der von Israel behinderten Hilfe werden die Zelte nicht genügen, den winterlichen Bedingungen standzuhalten – sie werden die Menschen vor Überschwemmungen und den starken Winden nicht schützen. Lebensmittel und Medikamente sind ein Luxusgut. Das wenige, was die israelische Regierung ins Land lässt, wird in der Regel von hungernden Menschen oder lokalen Banden geplündert, die unter dem israelischen Bombardement floriert haben. Die Hälfte aller lebenswichtigen Medikamente ist schlichtweg nicht vorhanden, und viele gesundheitsbezogene Artikel wie Körperpflegeprodukte, Menstruationsprodukte und Hilfsmittel für Menschen mit Behinderung werden von den israelischen Streitkräften routinemäßig nicht eingeführt.

Nach einem Jahr unerbittlicher Verwüstung, absoluter Zerstörung und dem offensichtlichen Versuch, den Gazastreifen unbewohnbar zu machen, sind mindestens 43.391 Palästinenser getötet worden. Von zahlreichen Expert:innen und Wissenschaftler:innen wird diese Zahl sogar als zu niedrig eingeschätzt. Die Fachzeitschrift The Lancet beispielsweise veröffentlichte einen Bericht, demnach die tatsächliche Zahl bis Juli 2024 bei 186.000 und bis Ende 2024 bei über 335.500 Toten liegen dürfte. Eine Gruppe amerikanischer Medizinexpert:innen der Brown University bezifferte die Todeszahlen bereits Ende September auf etwa 120.000 getötete Menschen.

   Westjordanland

Das Westjordanland steht seit dem Sechstagekrieg von 1967 im Fokus der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik. Das Westjordanland, das sich über den Jordan erstreckt und in dem sich Jerusalem befindet, ist einem strengen israelischen Militärregime unterstellt, das eine koloniale Siedlungspolitik unterstützt.

Die Siedlungsbewegung wird oft als ein rechtsextremes Randphänomen betrachtet, das vom israelischen Staat in Schach gehalten werde. Stattdessen kann der israelische Staat vielmehr als die wichtigste Triebkraft hinter der Siedlungsbewegung aufgefasst werden. Der Rückhalt zeigt sich insbesondere auf politischer Ebene und entlang massiven Geldflüssen in die Bewegung hinein. Aktuell gibt es im Westjordanland und im besetzten Ostjerusalem mindestens 714.000 israelische Siedler:innen. Sie leben in über 158 Siedlungen und 191 Außenposten, die über 41% der Fläche des Westjordanlandes ausmachen. Lediglich 13% von Ostjerusalem sind für palästinensische Bebauungen vorgesehen, von denen ein Großteil bereits bebaut wurde. Im Abgleich dazu sind 35% für israelische Siedlungen vorgesehen, die nach internationalem Recht illegal sind. Das restriktive israelische Planungsregime macht es für Palästinenser:innen praktisch unmöglich, eine Baugenehmigung für Ostjerusalem oder für die C-Gebiete zu erhalten.

Die derzeitige rechtsextreme Regierung hat den Siedlungsbau und die Beherrschung des Westjordanlandes zu ihrer obersten Priorität gemacht. Zwei der wichtigsten rechtsextremen Minister, Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich, kontrollieren Schlüsselinstitutionen, die die Übertragung von Befugnissen vom israelischen Militär auf die israelischen Zivilbehörden eingeleitet haben. Diese Zivilbehörden unterstehen einer militärischen Zuständigkeit, was ein Verstoß gegen das Völkerrecht ist.

Seit drei Jahren führt der israelische Staat eine aggressive Militärkampagne gegen das Westjordanland durch, insbesondere gegen palästinensische Städte im nördlichen Teil, wie Tulkarem, Dschenin, Tubas und Qalqiliya. Militärische Übergriffe, Ermordungen, groß angelegte Zerstörungen und langjährige Abriegelungen haben diese Städte und Gemeinden lahmgelegt. Unzählige dieser Kampagnen haben Stadtteile in Trümmern hinterlassen, die Infrastruktur zerstört und zivile Einrichtungen wie Schulen und Krankenhäuser schwer beschädigt. Die israelischen Siedlungen und die israelische Vorherrschaft in diesen Gebieten haben dazu beigetragen, die palästinensischen Gemeinden weiter zu isolieren und voneinander abzuschneiden.

Die von der Hamas angeführten Angriffe auf den Süden Israels am 7. Oktober 2023 lenkten den Blick vom Westjordanland ab und damit auch von der sich beschleunigenden Kolonisierung. Die internationale Aufmerksamkeit für den Gazastreifen ermöglichte es dem israelischen Staat, der Armee und der Siedlungsbewegung, unbemerkt ihre gewaltsame Kontrolle auszuweiten. Die Siedlergewalt hat im vergangenen Jahr dramatisch zugenommen. Seit dem 7. Oktober 2023 wurden über 1.600 Angriffe dokumentiert – die Dunkelziffer dürfte noch viel höher sein. Im Rahmen dieser Gewalt ist es der Siedlerbewegung gelungen, mindestens 1.682 Palästinenser:innen aus über 20 Gemeinden im Westjordanland zu vertreiben. Bereits vor den Anschlägen vom 7. Oktober 2023 waren die Jahre 2022 und 2023 die beiden tödlichsten Jahre für Palästinenser:innen im Westjordanland. Zwischen dem 1. Januar 2022 und dem 6. Oktober 2023 wurden mindestens 427 Palästinenser:innen getötet. Seitdem hat die Zahl der Getöteten dramatisch zugenommen. Zwischen dem 7. Oktober 2023 und Anfang November 2024 sind mindestens 736 Palästinenser:innen getötet worden.

Abrisse, sowohl formelle als auch informelle, sind ein Kernelement der israelischen Strategie zur gewaltsamen Umsiedlung von Palästinenser:innen und werden im besetzten Ostjerusalem und in den C-Gebieten in großem Umfang eingesetzt. Seit dem 7. Oktober 2023 wurden mindestens 1.800 palästinensische Gebäude abgerissen, wodurch mehr als 4.630 Palästinenser:innen vertrieben wurden, darunter 1.950 Kinder.

   Israel

Die israelische Gesellschaft wird in den Medien oft als eine zersplitterte und innerlich gespaltene Gesellschaft dargestellt. In den letzten 15 Jahren haben die Israelis Benjamin Netanjahu trotz zahlreicher Anschuldigungen wegen Korruption, Betrug, Bestechung, und interner Repressionen gegen Palästinenser:innen, LGBTQ-Gemeinschaften, säkulare Einrichtungen und Frauen an der Macht gehalten.

Im Jahr 2022 versuchte die rechtsextreme Koalition unter Ministerpräsident Netanjahu, ein Gesetzespaket zu verabschieden, um die israelische Justiz – die zu einem ständigen Ziel von Angriffen der israelischen Rechten wurde - stärker zu kontrollieren. Aufgrund der wiederholten Verabschiedung säkularer Urteile, sieht die Regierungskoalition den Justizapparat zunehmend als eine Institution an, die den "jüdischen Charakter" des Staates zu beeinträchtigen versuche. Wöchentliche massenhafte Proteste gegen diese vorgeschlagene Gesetzesreform verlangsamten den Prozess, konnten ihn aber nicht stoppen.

Die von der Hamas geführten Angriffe vom 7. Oktober haben die Spaltungen in der Gesellschaft in vielerlei Hinsicht aufgehoben. Während die anfängliche Wut und Enttäuschung über die Regierungskoalition unter Netanjahu zunächst dazu führte, dass er an Popularität verlor, wurde seine harte Kriegspolitik von einer Mehrheit der Israelis positiv aufgenommen, ungeachtet der Auswirkungen auf die palästinensische Zivilbevölkerung im Gazastreifen.

Die Familien und Angehörigen der Geiseln und der am 7. Oktober Getöteten versuchen, ihre Angehörigen zurückzuholen. Sie organisieren Proteste, Sitzstreiks, machen Lobbyarbeit bei Regierungsvertretern, wenden sich an internationale Gremien und versammeln Hunderttausende im ganzen Land. Je länger der Krieg dauert, desto mehr geraten die Geiseln und ihre Familien in den Hintergrund. Die Regierung sieht den Krieg als Chance, die Machtdynamik in der Region nachhaltig neu zu bestimmen. Sie benutzt die Armee, um ihre politischen Ziele durchzusetzen.

Auch nach einem Jahr Krieg werden die Geiseln noch immer in Gaza festgehalten. Die Hamas hat weiterhin genug Kontrolle, um der israelischen Armee Verluste zuzufügen. Es gibt keine Ausstiegsstrategie oder einen Plan für den Tag danach, der ein Leben in Gleichberechtigung für die palästinensische Bevölkerung vorsieht.