Kommentar

Wettlauf nach rechts

08.07.2024   Lesezeit: 5 min

Es wird nur noch über das Wie von Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien diskutiert – obwohl sie weder mit dem Grundgesetz noch internationalen Konventionen vereinbar wären.

Von Imad Mustafa

Soll Deutschland wieder nach Afghanistan und Syrien abschieben? Einmal mehr wird diese Frage öffentlich diskutiert. Ein Mann aus Afghanistan, der seit 2014 in Deutschland lebt und als politisch unauffällig galt, hatte am Rande einer Veranstaltung in Mannheim den Rechtsextremisten Michael Stürzenberger angegriffen und dabei einen Polizisten lebensgefährlich verletzt, der wenige Tage später im Krankenhaus starb.

Seither debattieren Bundestag und Öffentlichkeit die Frage, ob die Bundesrepublik künftig Verbrecher und sogenannte Gefährder nach Afghanistan und Syrien abschieben solle. In einer Regierungserklärung vor der Europawahl kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz an, wieder in beide Länder abschieben zu wollen, wenn die Sicherheitsinteressen Deutschlands bedroht seien, denn diese wögen „in solchen Fällen schwerer als das Schutzinteresse des Täters.“

In die gleiche Kerbe schlug CSU-Chef Markus Söder, der Annalena Baerbock dazu aufforderte, Verhandlungen für Rückführungen mit den Regimen in Syrien und Afghanistan aufzunehmen. Diese Forderung wurde vom außenpolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, Nils Schmid, bekräftigt. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai will auch den subsidiären Schutz für Geflüchtete aus Afghanistan und Syrien abschaffen, so dass neben sogenannten Gefährdern und Straftätern weitere Gruppen abgeschoben werden können. Sachsen-Anhalts Innenministerin, Tamara Zieschang (CDU), verlangte, das Bundesaufnahmeprogramm für besonders gefährdete ehemalige Ortskräfte aus Afghanistan einzustellen. In der behördlichen Praxis scheint dies bereits angekommen zu sein. Das ARD-Magazin „Panorama“ enthüllte Anfang Juli, dass bereits erteilte Einreisezusagen im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms auf der Grundlage stundenlanger „Sicherheitsinterviews“ durch Beamte des Verfassungsschutzes und der Bundespolizei sogar wieder zurückgezogen wurden. Die Liste an Forderungen, das Asylrecht weiter einzuschränken, ließe sich fast beliebig verlängern. Es ist ein Wettlauf der bürgerlichen Parteien nach rechts, bei dem es nur noch um das Wie der Abschiebung geht und nicht um die grundsätzliche Frage, ob dies mit dem Grundgesetz und internationalen Konventionen vereinbar ist.

Zwar gehört es zu den politischen Ritualen des Politikbetriebs, sich vor Wahlen und nach sicherheitsrelevanten Ereignissen als Vertreter:innen einer harten Law & Order-Politik zu positionieren. Doch es steht mehr auf dem Spiel: Regierung und Opposition greifen auf populistische und rassistische Weise das seit dem großen „Asylkompromiss“ von 1993 ohnehin stark ausgehöhlte Recht auf Asyl direkt an. Mit der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) wurden bereits Fakten geschaffen. Seit Jahren forciert die EU ihre Abschottung mit milliardenschweren Flüchtlingsdeals mit autokratischen Anrainerstaaten wie der Türkei, Libanon, Tunesien, Ägypten und Libyen. Nicht nur werden die Grenzen Europas damit nach Afrika und Asien ausgedehnt; im Rahmen der sogenannten Drittstaatenlösung wird auch diskutiert, Syrer:innen und Afghan:innen in Nachbarländer wie Türkei, Irak, Libanon und Pakistan oder Usbekistan abzuschieben. Dort aber ist die Situation für Abgeschobene und auf der Flucht befindliche Menschen verheerend. Afghanische medico-Partner:innen, die im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms in Pakistan auf ihre Ausreisegenehmigung nach Deutschland warten, berichten uns von rassistischer Gängelung durch die dortigen Behörden, sozialer Unsicherheit und großen Zukunftsängsten angesichts der deutschen Debatten.

Türkei: Rassistische Hetzjagden und Ausbeutung in Fabriken

Zudem schiebt Pakistan seit November 2023 in großer Zahl afghanische Geflüchtete in ihr Herkunftsland ab. In der Türkei und im Libanon ist die Menschenrechtslage für syrische Geflüchtete ebenso schwierig: Rassistische Hetzjagden und Ausbeutung in Fabriken in der Türkei stehen neben Repressionen durch die Polizei, willkürlichen Verhaftungen und Abschiebungen im Libanon. Doch das scheint den politischen Entscheider:innen hierzulande egal zu sein. Anstatt sich auf den Rechtsstaat zu verlassen und Straftäter vor Gericht zu stellen, werden antimuslimische Ressentiments in der Bevölkerung mithilfe des zweifelhaften Gefährder-Konzepts geschürt, um auf Stimmenfang zu gehen.

Dabei ist der Begriff des sogenannten Gefährders nur eine polizeifachliche Definition. Es gibt keine gesetzliche Bestimmung und auch Gerichte benutzen den Begriff nicht, weil der fraglichen Person gar keine strafrechtlich relevante Straftat vorgeworfen wird. Die sonst übliche Unschuldsvermutung wird bei diesem Konstrukt außer Kraft gesetzt. Damit wiederholt sich, was sich nach dem 11. September 2001 im Begriff des „Schläfers“ manifestierte und im öffentlichen Diskurs immer wieder ereigniszentriert aktualisiert wird: Islam und Muslim:innen sind im gesamten politischen System Deutschlands die zentralen Differenzkategorien, an denen sich die Parteien abarbeiten und die häufig mit negativ konnotierten Kontexten wie Migration, Sicherheit und kultureller (Un)zugehörigkeit verwoben werden.

Mit dem steilen Aufstieg der AfD hat sich dieser Trend noch verstärkt: In der Hoffnung, verlorene Wähler:innenmilieus zurückzugewinnen, überbieten sich die bürgerlichen Parteien von CDU/CSU bis zu den GRÜNEN seit Jahren damit, die AfD rechts einzuholen, indem sie außereuropäische Migration dämonisieren, Bedrohungslagen konstruieren und angeblich universelle Werte zu exklusiven kulturellen Errungenschaften des Westen verklären, in die sich „die Anderen“ Europas zunächst zu integrieren hätten. Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan werden so zur Projektionsfläche der deutschen Gesellschaft, die etwa den eigenen Antisemitismus externalisiert, sich damit ihrer Verantwortung entledigt und diese buchstäblich abschiebt. Auch Straftaten und Gewalttätigkeit werden in diesem Kontext kulturalisiert und auf „die Anderen“ projiziert, so als hätte die deutsche Gesellschaft keine Probleme mit Kriminalität. Dabei ist klar, dass das Recht auf Schutz vor politischer Verfolgung oder aufgrund anderer Merkmale ein grundlegendes Menschenrecht ist, das in der Genfer Flüchtlingskonvention kodifiziert ist. Etwaige Sicherheitsinteressen zu priorisieren, wie es der Kanzler in seiner Regierungserklärung tat, widerspricht dem Geist der Konvention, aber auch den völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands.

Afghanistan und Syrien sind weiterhin keine sicheren Herkunftsländer. Abschiebungen dorthin würden Menschen in unmittelbare Gefahr bringen und sind völkerrechtlich verboten. Noch immer verschwinden dort Menschen, werden gefoltert, hingerichtet oder willkürlich inhaftiert, wie zwei kürzlich erschienene Berichte zur Menschenrechtslage und den grausamen Haftbedingungen in Afghanistan und Syrien bestätigen. Eine Studie zeigt, dass abgeschobene Afghan:innen und ihre Familienangehörigen allein aufgrund der Tatsache, dass sie in Europa waren, von Gewalt durch die Taliban bedroht sind. Auch in Syrien erwartet Rückkehrer:innen Misstrauen, Willkür und Gefahr für Leib und Leben.

Abschiebungen „im großen Stil“, wie Kanzler Scholz bereits im Oktober 2023 ankündigte, hätten verheerende Auswirkungen auf afghanische und syrische Communities. Allein die laute öffentliche Debatte führt bei vielen Betroffenen zu existentiellen Ängsten und Retraumatisierungen. Und wie die Ergebnisse der bürgerlichen Parteien bei der Europawahl zeigen, lassen sich Wahlen damit auch nicht gewinnen. Dann wählen die Menschen lieber das Original.

Imad Mustafa (Foto:medico)

Imad Mustafa ist Referent für Menschenrechte bei medico. Außerdem ist der Politologe und Islamwissenschaftler für die Öffentlichkeitsarbeit zu Afghanistan sowie Nordafrika und Westasien zuständig.

Twitter: @imadmustafa_


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