Umbruch in Nahost

Nothilfe für Alawit:innen

20.03.2025   Lesezeit: 7 min  
#rojava  #menschenrechte 

Nach den Massakern an Alawit:innen leisten medico-Partner:innen aus Rojava Nothilfe. Gleichzeitig schließt die Selbstverwaltung Nordostsyriens ein Abkommen mit der Übergangsregierung. Doch die Zukunft bleibt ungewiss.

Von Anita Starosta

Zwei Tage lang sind die medico-Partner:innen vom Kurdischen Roten Halbmond mit einem Hilfskonvoi aus Rojava unterwegs. Aus dem Gebiet der autonomen Selbstverwaltung (kurdisch Rojava genannt) schicken sie Hilfslieferungen nach Latakia. Die Küstenregion am Mittelmeer wurde zum Schauplatz schrecklicher Gräueltaten, die islamistische Milizen an der alawitischen Bevölkerung verübten, nachdem bewaffnete Pro-Assad Kräfte einen Aufstandsversuch gegen die neue syrische Übergangsregierung unternommen hatten. Den Massakern der Milizen fielen über tausend Zivilist:innen zum Opfer, Tausende mehr sind in Richtung Libanon geflohen.

Die Zusammensetzung der für die Gewalt verantwortlichen Milizen ist undurchsichtig. Unter ihnen befinden sich Mitglieder der Türkei-nahen Syrischen Nationalen Armee (SNA), hunderte unorganisierte Freiwillige, die sich bewaffnet und der Vergeltungsaktion angeschlossen haben sowie Kampfeinheiten, die der Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) unterstehen. Die Sicherheitskräfte der regierenden HTS haben  die Anreise der Kämpfer:innen in die Region nicht verhindert und die Lage bis heute nicht unter Kontrolle.  

In Latakia werden psychosoziale Unterstützung und humanitäre Hilfe benötigt. Unterstützung kommt auch aus der syrischen Zivilgesellschaft in Damaskus oder aus Afrin. Hilfe zu leisten ist indes nicht ungefährlich, bis heute halten sich die Milizen in der Region auf und es gibt Befürchtungen, dass die tödliche Gewalt weitergeht. Trotzdem haben sich die medico-Partner:innen aus Rojava auf den Weg gemacht. 

Grenzenlose Solidarität im Inneren

Es ist ein Novum, dass der Kurdische Rote Halbmond Nothilfe außerhalb des Gebiets leistet, dass der Selbstverwaltung unterstellt ist und das ein Drittel des Landes ausmacht. Aber es ist keineswegs das erste Mal, dass sie diesen Versuch unternehmen: Nach dem Jahrhunderterdbeben im Februar 2023, als der Westen Syriens besonders betroffen war und das Assad-Regime keine humanitäre Hilfe zuließ, standen die Partner:innen mit vollbeladenen LKWs mehrere Tage an der innersyrischen Grenze. Auf der einen Seite das syrische Regime, auf der anderen Seite das Gebiet der von der Türkei unterstützten SNA, deren Einheiten das Durchkommen der Hilfe ebenfalls unterbanden.

Vieles ist seitdem anders geworden. Der Sturz des Assad-Regimes durch die HTS-Milizen am 8. Dezember vergangenen Jahres schuf eine neue Freiheit in den vom Assad-Regime kontrollierten Gebieten: Erstmals können die Menschen wieder durch das Land nach Damaskus, Homs und andere Städte reisen, ohne Angst an irgendeinem Checkpoint vom Geheimdienst verhaftet zu werden. Zwar sind die religiösen und ethnischen Minderheiten in Syrien bei weitem keine homogene Gruppe und haben eine unterschiedliche Geschichte und Positionierung im Land, dennoch teilt insbesondere die kurdische Bevölkerung das Misstrauen und die Unsicherheit, nicht gleichberechtigter Teil der neuen Übergangsregierung unter der HTS zu werden. Das Massaker an der alawitischen Bevölkerung bestätigt die Menschen in ihren Befürchtungen.

So finden in dieser neuen Phase all jene zusammen, die ein neues autoritäres Regime in Syrien ablehnen. Es ist diese Hoffnung auf ein plurales und demokratisches Syrien – auch mit der HTS –, die Menschen und Organisationen wie unsere Partner:innen vom Kurdischen Roten Halbmond antreibt.

Im Zuge des HTS-Vormarsches im vergangenen Dezember wurden 120.000 Kurd:innen durch die türkeinahen SNA-Milizen aus der Region Shebha vertrieben und mussten auf ihrer Flucht Schreckliches durchstehen. Dieselben Milizen waren auch an dem jetzigen Massaker beteiligt. Die gewaltsam Vertriebenen fanden Zuflucht in den Gebieten der Selbstverwaltung Nordostsyriens, wo ihre Not nur rudimentär gelindert werden kann. Die medico-Partner:innen kümmern sich zwar um die medizinische Versorgung, doch ihre Kapazitäten reichen bei weitem nicht aus. Die Kürzungen der USAID-Mittel haben die humanitäre Lage weiter verschlechtert.

Ein historisches Abkommen

In dieser unübersichtlichen und zugleich offenen Situation trafen wenige Tage nach den Massakern die kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) unter Oberbefehlshaber Mazloum Abdi mit dem Präsidenten der syrischen Übergangsregierung Ahmed al-Scharaa von der HTS ein Grundlagenabkommen. Dieses gilt als historischer Meilenstein, weil darin zum ersten Mal in der Geschichte des syrischen Staates die Minderheit der Kurd:innen als integraler Bestandteil des Landes anerkannt und ihnen kulturelle und politische Rechte zugesichert werden. Formuliert wird darin zudem eine perspektivische Eingliederung der SDF in eine zukünftige syrische Armee.

Dieser jüngste Schritt kann auch im Kontext der vorherigen Erklärung des PKK-Anführers Abdullah Öcalan gesehen werden, der von der Gefängnisinsel İmralı am 12. März die Niederlegung der Waffen und die Auflösung der PKK vorgeschlagen hat. Beides hat er an verschiedene Bedingungen gekoppelt, um damit einen neuen Friedensprozess zwischen Kurd:innen und dem türkischen Staat einzuleiten. Der Vorschlag wurde in einer Phase ausgearbeitet, in der die staatliche Repression gegen gewählte kurdische Vertreter:innen und Zivilgesellschaft in der Südosttürkei wieder massiv zugenommen hatte.

Unmittelbar nach der Erklärung Öcalans verdeutlichte Oberbefehlshaber Abdi die politischen Folgen für Rojava. Er schloss eine Waffenniederlegung und Auflösung der SDF aus. Kurze Zeit später wurde das Abkommens mit der syrischen Übergangsregierung unterzeichnet. Statt starr auf die eigene Autonomie zu beharren, ist die Selbstverwaltung offenkundig bereit, auch die Eingliederung ihrer zivilen Strukturen in das zukünftige politische System in Syrien voranzubringen.

Die Euphorie hielt nur kurz an. Denn nur wenige Tage legte die Übergangsregierung einen ersten Verfassungsentwurf vor, der die kommenden fünf Jahre im Land regeln soll. Er ermöglicht in dieser Übergangszeit weder eine politische Partizipation von ethnischen und religiösen Bevölkerungsgruppen noch die der Frauen. Die im Entwurf angelegte Zentralisierung der Macht, die der Exekutivgewalt umfassende Befugnisse verleiht, trägt nicht zu einer Demokratisierung des Landes bei, vielmehr setzt sich in ihr eine autoritäre Politik fort: In weiten Teilen soll fürs Erste die Verfassung des alten Regimes übernommen werden. Erst in den kommenden Jahren soll eine eigenständige und neue Verfassung erarbeitet werden. Was auf dem Tisch liegt, steht damit auch im Widerspruch zu dem Abkommen zwischen al-Scharaa und Mazloum Abdi, so kritische Stimmen aus der Selbstverwaltung. Mehr noch: Sie deuten den Verfassungsentwurf als klaren Rückschritt.

Und jetzt?

Ohne einen ernst gemeinten nationalen Dialogprozess kann es keine wirkliche Perspektive für Syrien geben. An diesem müssen die syrische Zivilgesellschaft, Vertreter:innen der religiösen und ethnischen Minderheiten im Land sowie Organisationen und Initiativen, die Frauenrechte vertreten, beteiligt sein. Aus all diesen Richtungen, innerhalb wie außerhalb Syriens, wird diese Forderungen erhoben. In der Diaspora sind starke syrische Gemeinschaften entstanden, die sich den Werten der Revolution von 2011 verpflichtet fühlen und um die Zukunft des Landes ringen werden. Jetzt, nachdem die verhasste Diktatur gestürzt wurde, will sich niemand mehr die neue Freiheit und die Perspektive auf ein demokratisches Syrien wegnehmen lassen. Die Prinzipien von Gleichberechtigung und multiethnischer Teilhabe der Selbstverwaltung im Nord-Osten können dabei helfen.

Zusätzlich muss es einen ernsthaften Prozess der transitional justice geben. Gemeint ist damit, dass die Gewaltverbrechen des Assad-Regimes aufgearbeitet und Täter juristisch zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Nur wenn das geschieht, können die gesellschaftlichen Trauma überwunden werden. Selbiges gilt für Untaten, die unter dem Islamischen Staat begangen wurden, sowie für Übergriffe und Verbrechen, die seit dem Sturz des Regimes geschehen sind. Gerade letzteres ist die HTS allenfalls schleppend angegangen, konkrete Schritte sind bislang nicht unternommen worden.

Es wird auch darauf ankommen, ob es gelingt, das Land auf einen stabileren wirtschaftlichen Kurs zu bringen. Das würde einen Abkehr von neoliberalem Ausverkauf und klientilistischer Verteilung der Ressourcen bedeuten. Die schrittweise Aufhebung der Sanktionen ist dafür ein unabdingbarer Schritt. 16 Millionen Menschen in Syrien sind hilfsbedürftig und leben in Armut. Ein Wiederaufbau des Landes wird Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Die Hilfsgelder der internationalen Gemeinschaft allein reichen nicht aus, zumal diese – so der Eindruck bei der letzten Geberkonferenz – eher abnehmen dürften. Die USA, bislang wichtigstes Geberland, beteiligt sich nicht mehr an neuen Hilfsgeldern. Auch die deutsche Bundesregierung hat vorläufig entschieden, erst einmal nur ein Drittel der Gelder der vorangegangenen Jahre auszuzahlen.

Umso wichtiger ist es, dass der Beistand mit all jenen, die an ein demokratisches Syrien glauben und sich dafür einsetzen, bleibt. Sei es in zivilgesellschaftlichen Netzwerken, in der Diaspora oder in der solidarischen Hilfe – auf ihre Solidarität kommt es jetzt an.

medico unterstützt seit vielen Jahren Partnerorganisationen in Syrien, die sich für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung einsetzen. Jetzt organisieren sie Nothilfe für die Betroffenen des Massakers an der alawitischen Minderheit und bauen zivilgesellschaftliche Netzwerke auf. Die Aufarbeitung der Gewaltverbrechen begleitet medico mit einem Team an Jurist:innen, die unter Assad politische Gefangene betreut hatten und jetzt Akten aus den Foltergefängnissen sichern, um zu einer unabhängigen Übergangsjustiz beizutragen. Mit einer Spende für Syrien kann diese Arbeit unterstützt werden.

Anita Starosta

Anita Starosta leitet die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Außerdem ist die Historikerin für die Kommunikation zur Türkei, zu Nordsyrien und dem Irak zuständig. 

Twitter: @StarostaAnita
Bluesky: @starosta


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