Transitional Justice

"Wir sind vorbereitet"

03.03.2025   Lesezeit: 7 min  
#syrien  #menschenrechte 

Die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen in Syrien zeigt, wozu das Völkerrecht in der Lage sein könnte. Ein Interview mit der Anwältin Joumana Seif

Der syrische Schriftsteller Yassin Al-Haj Saleh beschrieb die Assad-Diktatur bereits vor einiger Zeit als eine organisierte Tötungsindustrie. Welches Bild bietet sich uns heute?

Das Ausmaß der Verbrechen ist in der Tat ungeheuerlich: das Töten, die Folter, das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen. Von etwa 150.000 Personen fehlt jede Spur, und dabei handelt es sich nur um die dokumentierten Fälle. Seit die Gefängnisse geöffnet wurden, müssen wir davon ausgehen, dass die meisten von ihnen nicht mehr leben. Die Unsicherheit über das Schicksal ihrer Lieben ist für die Angehörigen unvorstellbar. Insofern: Ja, dieses Regime war eine Tötungs- und Foltermaschine, eine Industrie der sexuellen Verbrechen und vieler anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Man denke nur an den Einsatz von Zehntausenden Fassbomben oder von Chemiewaffen und die gewaltsame Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen.

Angesichts der Brutalität und Dauer des syrischen Regimes: Ist es überhaupt möglich, die Verbrechen auf juristischem Weg aufzuarbeiten? Was müsste dazu geschehen?

In Syrien ist ein integrierter Prozess der „Transitional Justice“ nötig. Also ein Paket von Maßnahmen, die den Übergang in die Herrschaft des Rechts organisieren, Gerechtigkeit schaffen und Transparenz über die Verbrechen herstellen. Die obersten Verantwortlichen, inklusive Baschar al-Assad und seine Familie, sowie die Verantwortlichen der Geheimdienste müssen vor Gericht gestellt werden. Das ist das Mindeste. Das fordern auch die Angehörigen-Organisationen, die sich im Februar mit dem Übergangspräsidenten getroffen haben. In einer Erklärung haben sie klargestellt, dass sie an diesem Prozess mitwirken wollen, und haben die internationalen Institutionen des Rechts und Organisationen für Menschenrechte aufgerufen, ihn gemeinsam mit ihnen in die Wege zu leiten.

Wie konnten sich Angehörigenorganisationen so schnell als wichtiger Akteur konstituieren?

Im Exil haben syrische Menschenrechtsorganisationen schon lange an der Aufarbeitung der Verbrechen gearbeitet. Sie waren daran beteiligt, dass die UN-Vollversammlung bereits 2016 eine Institution geschaffen hat, der die Aufgabe zufiel, die syrischen Menschenrechtsverbrechen zu dokumentieren, über sie zu informieren und sie zu analysieren. Dieser „International, Impartial and Independent Mechanism – Syria (IIIM)“ war für die Zivilgesellschaft extrem wichtig. Letztes Jahr wurde ein weiterer Mechanismus geschaffen, um Informationen über vermisste Personen zu bündeln – die Internationale Institution für vermisste Personen in Syrien (IIMP). Dank dieser Organisationen verfügt die Zivilgesellschaft mittlerweile über große Expertise. Wir sind also gut vorbereitet. Aber wir brauchen technische und finanzielle Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und der EU.

Die Idee „Transitional Justice“ ist seit den 1990er-Jahren vielfach angewandt worden. Was kann der syrische Prozess zum Beispiel von den Erfahrungen in Chile oder in Südafrika lernen?

Diese Prozesse fanden unter anderen Bedingungen statt. Wir werden dennoch versuchen, aus ihnen zu lernen und bestimmte Fehler zu vermeiden. Ein wichtiges Beispiel ist für mich eine stärkere Einbeziehung der Frauen. Es gab häufig keine Entschädigung für Verbrechen sexueller Gewalt gegen Frauen. Wir brauchen Richterinnen und Anwältinnen. Und die Hürden in den Gerichtsverfahren müssen gesenkt werden, damit Frauen ihre Gewalterfahrung überhaupt aussprechen und anklagen. Für mich wird das eine zentrale Aufgabe: An der Frage zu arbeiten, was die Institutionen den Frauen zur Verfügung stellen müssen, damit sie offen und geschützt sprechen können.

Es gab die Verbrechen der 50 Jahre anhaltenden Diktatur, es gab die Kriegsverbrechen während des Bürgerkriegs, es gab aber auch aufseiten der bewaffneten Gruppen Verbrechen wie Morde und Kidnapping von nichtreligiösen Beteiligten der syrischen Revolution. Wie geht man mit diesen unterschiedlichen Tatbeständen um?

Recht ist Recht. Und Straflosigkeit kann es für niemanden geben. Aber man darf nicht vergessen, dass laut internationaler Studien 80 bis 90 Prozent der Verbrechen vom Regime begangen wurden.

Eigentlich muss man nicht nur von Transitional Justice, sondern auch von Transnational Justice sprechen. In verschiedenen Ländern, darunter in Deutschland, laufen Verfahren gegen syrische Beschuldigte.

Das stimmt. Wir arbeiten seit langem daran, die Straflosigkeit gegen syrische Täter zu beenden – mithilfe der Möglichkeiten, die uns die Justiz in verschiedenen Ländern und auf internationaler Ebene bietet. Seit 2011 gibt es eine unabhängige Untersuchungskommission zu Syrien beim UN-Menschenrechtsrat in Genf. Hier werden Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Syrien verfasst. Dann kommt das Weltrechtsprinzip hinzu, das im Zuge der strafrechtlichen Verfolgung von Völkerrechtsstraftaten auch in Deutschland gilt. Damit war es möglich, in Koblenz, in Frankfurt und an anderen Orten Prozesse gegen syrische Folterer durchzuführen, obwohl die Taten nicht in Deutschland stattfanden und weder Angeklagte noch Opfer aus Deutschland stammten. Deutschland hat im Namen der Weltgemeinschaft diese Prozesse geführt, weil universell geschützte Werte verletzt wurden.

Welche Rolle spielt dabei der Prozess in Koblenz, bei dem zwei Geheimdienstoffiziere, denen Folter und Morde nachgewiesen werden konnten, verurteilt wurden?

Das Al-Khatib-Verfahren war der erste Prozess weltweit zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit des syrischen Regimes, deshalb ist es auch international von erheblicher Bedeutung. Im Verfahren verschaffte sich das Koblenzer Gericht einen Gesamtüberblick über die politische Situation in Syrien und das System der sich gegenseitig kontrollierenden Geheimdienste, die seit dem ehemaligen Präsidenten Hafiz al-Assad die Bevölkerung gewaltsam unterdrückten. Der Fokus des Verfahrens lag auf den Verbrechen des Regimes seit Beginn der Revolution, insbesondere der Verbrechen des Allgemeinen Geheimdiensts in der sogenannten Al-Khatib-Abteilung. Zum ersten Mal wurden gerichtlich Beweise gesammelt und rechtlich eingeordnet. In zukünftigen Verfahren, sei es auf nationaler oder internationaler Ebene, kann man hierauf zurückgreifen. Wir beginnen also nicht bei null. Wir haben bei jedem Prozess sehr viel gelernt. Wir haben gelernt, welche Beweise wir brauchen und welche Rolle die Überlebenden in solchen Verfahren spielen können.

Ist der von der Übergangsregierung angekündigte verfassungsgebende Prozess eine Möglichkeit, sich ein anderes nationales Selbstverständnis zu geben als der arabische Nationalismus der Baath-Partei, der auch eine Herrschaft einer Minderheit war?

Ja, dafür sollte er sorgen. Es gibt das Verfassungskomitee und das gesetzgebende Komitee. Von hier aus muss der Prozess starten. Unter den Syrer:innen und der Zivilgesellschaft sollten die Debatten beginnen. Die künftige Verfassung muss für ein Ende der Straflosigkeit, die Abschaffung jeder Form von Diskriminierung, die Errichtung kontinuierlicher Rechenschaftslegung und Transparenz der Regierenden sorgen. Daran sollten alle Syrer:innen arbeiten.

Wir reden hier einen Tag vor Ihrer Abreise nach Syrien. Warum haben Sie sich entschieden, nach Syrien zurückzukehren?

Ich will vor Ort die Möglichkeiten erkunden, eine gute, in der Geschichte der „Transitional Justice“ so noch nie dagewesene Arbeit zu verwirklichen. Bislang erklärt die Übergangsregierung ihre Bereitschaft, das zu gewährleisten. Aber es wird ein langer, konfliktreicher Weg sein. Deshalb will ich mich mit meinen Anwaltskolleg:innen und mit den Opfern und Angehörigen für Recht und Gerechtigkeit einsetzen. Menschen wie wir, die im Verlaufe des Exils die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben, können eine Brückenfunktion einnehmen. Wir sind nicht wenige, brauchen aber die Unterstützung unserer zweiten Heimat Deutschland.

Warum kann kein:e deutsche:r Politiker:in sagen, dass die syrische Einwanderung nach Deutschland vor allen Dingen eine Erfolgsgeschichte ist?

Ich bin sehr stolz auf die syrische Einwanderungsgeschichte in Deutschland. Wir haben viel zur Entwicklung dieses Landes beigetragen. Wenn Krankenschwestern, Pfleger, Ärztinnen und Ärzte jetzt nach Syrien zurückgingen, würde die deutsche Gesundheitsversorgung in ernsthafte Gefahr geraten. Umso mehr hat mich die Entscheidung der Regierung und des Bundestages entsetzt, unmittelbar nach dem Sturz des Regimes alle Anerkennungsverfahren für syrische Geflüchtete einzufrieren und Familienzusammenführung auszusetzen. Große Teile des Landes liegen in Schutt und Asche, man kann nicht ohne Weiteres zurückkehren. Aus meiner Sicht war es eine falsche Entscheidung zur falschen Zeit und mit der falschen Botschaft. Hierfür sollte man sich bei den Syrer:innen in Deutschland entschuldigen.

Das Interview führte Katja Maurer.

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Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 01/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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