Koalitionsvertrag

Und sie kommen doch

11.04.2025   Lesezeit: 7 min  
#migration  #autoritarismus 

Die zukünftige Bundesregierung rückt in der Migrationspolitik noch weiter nach rechts. Warum sie scheitern wird – und dabei der AfD in die Hände spielt.

Von Kerem Schamberger und Valeria Hänsel

„Wenn die Untat kommt, wie der Regen fällt, dann ruft niemand mehr: halt“ schrieb Bertolt Brecht vor 90 Jahren. Seine Worte hallen wider, wenn man die Ausführungen der neuen Bundesregierung zur geplanten Migrationspolitik liest. Eine Aneinanderreihung von Untaten, die Menschen auf der Flucht das Leben noch weiter erschweren werden – und mit denen sich Deutschland in den Block rechter Staaten in Europa einreiht. Die Mär von der Kontrollierbarkeit der Migration ist Ausdruck eines Rechtsrucks, der sich auf die gesamte Gesellschaft auswirkt: Der Abbau von Grundrechten, Repression und Überwachung wird über eine restriktive Migrationspolitik legitimiert und durchgesetzt.

Abschottung, Abschiebung, Abschreckung

Die Bundesregierung schwenkt auf ganzer Linie auf Abschottung ein: Die Familienzusammenführung von subsidiär Schutzberechtigten soll ausgesetzt und staatliche Aufnahmeprogramme beendet werden – trotz tausender Afghan:innen, die mit einer Aufnahmezusage der Bundesregierung in Pakistan oder Afghanistan auf ihre Rettung warten. Abschiebungen sollen mit allen Mitteln forciert werden – selbst in die Fänge des Taliban-Regimes und das Bürgerkriegsland Syrien, in dem noch im März tausende Alawit:innen massakriert wurden, will die zukünftige Bundesregierung abschieben. Um die geplante „Rückführungsoffensive“ umsetzen zu können, wird die Liste vermeintlich sicherer Herkunftsstaaten erweitert. Als würden Länder plötzlich sicher, nur weil in Deutschland die Regierung wechselt.

Ein weiterer Vorstoß – die „Streichung des Verbindungselements“ – zielt darauf, Menschen in vermeintlich „sichere Drittstaaten“ abschieben zu können, zu denen sie keinerlei Bezug haben. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) verbietet dies bisher, aber die Bundessregierung reiht sich nun in die Reihe rechter Regierungen innerhalb der EU ein, die daran rütteln. So kehrt das als ineffizient bewertete, gerichtlich mehrfach verworfene und in mehreren EU-Ländern gescheiterte Ruanda-Modell zur Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten, mit denen die Geflüchteten in ihrem Leben noch nichts zu tun hatten, wie ein Zombie auf die Agenda zurück.

Um die Abschiebungen umzusetzen, setzt die Regierung auf eine massive Ausweitung der Abschiebehaft, die für einzelne Gruppen sogar auf unbestimmte Zeit verlängert werden soll. Den Betroffenen soll nicht mehr automatisch ein Rechtsbeistand zustehen. Und um die Zahl der Inhaftierten zu erhöhen, soll die Bundespolizei selbst Haftbefehle beantragen können. Auch im Asylverfahren soll Geflüchteten die Anerkennung ihrer Asylgründe so schwer wie möglich gemacht werden. Mit dem neuen „Beibringungsgrundsatz“ wird die Beweislast umgekehrt: Die Asylsuchenden selbst müssen schwer zugängliche Länder- und Expert:innenberichte vorlegen, die ihre Verfolgung beweisen.

Komplementiert wird all dies durch eine Politik der Prekarisierung. So sollen zum Beispiel Ukrainer:innen keine Sozialleistungen mehr erhalten, sondern nur noch die deutlich niedrigeren Leistungen nach Asylbewerberleistungsgesetz.

In den aufgeführten Beispielen zeigt sich, auf welchem theoretischen Fundament der Koalitionsvertrag der zukünftigen Bundesregierung fußt: Auf der mehrfach widerlegten These der „Pull-Faktoren“, nach der eine besonders schlechte Behandlung von Ankommenden die Migration eindämmen würde. So verwundert es kaum, dass das vierseitige Kapitel mit dem empirisch-wissenschaftlich nicht haltbaren, aber nicht totzukriegenden Topos beginnt, „Anreize, in die Sozialsysteme einzuwandern“ reduzieren zu wollen.

Grenzkontrollen, Renationalisierung und Rechtsruck

Ein besonders heikles Kapitel des Vertrags betrifft die Zurückweisungen an den deutschen Grenzen. Sie sind praktisch kaum umsetzbar und rechtlich höchst fragwürdig, da sie die Grundfesten der Europäischen Verträge, des Schengen-Abkommens und der Dublin-Verordnung angreifen. Doch die schon von der Ampelkoalition eingeführten Kontrollen an sämtlichen deutschen Grenzen sollen fortgeführt werden. Und das, obwohl just diese Woche der Bayerische Verwaltungsgerichtshof urteilte, dass frühere Binnengrenzkontrollen an der österreichisch-deutschen Grenze rechtswidrig waren, weil sie „nicht mit einer neuen ernsthaften Bedrohung“ begründet worden sind.

Zuvor hatte bereits der Europäische Gerichtshof (EuGH) geurteilt, dass Grenzkontrollen, die länger als ein halbes Jahr dauern, rechtswidrig sind, wenn als Grund nur eine weiter andauernde Bedrohung oder deren Neubewertung genannt wird. Laut EU-Recht müssten dauerhafte Grenzkontrollen mit einem Notstandsparagraphen gerechtfertigt werden. Doch von einem Notstand kann keine Rede sein: Im vergangenen Jahr kamen 100.000 Menschen weniger nach Deutschland als im Jahr 2023. Und in den ersten drei Monaten dieses Jahres ist die Zahl der registrierten Asylanträge sogar nochmal um 41 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zurückgegangen. Spitzenreiter bei Asylanträgen ist erstmals nicht mehr Deutschland, sondern Frankreich und Spanien.

Der Ruf nach Grenzkontrollen mag symbolisch bleiben, da es kaum gelingen wird, die Nachbarstaaten davon zu überzeugen, den Zurückschiebungen in einem geregelten Verfahren zuzustimmen. Für das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und das Gelingen eines europäischen Aufnahmesystems haben sie aber bereits massiven Schaden angerichtet. Die Grenzkontrollen sind ein einschlägiges Signal an andere EU-Staaten, die ebenfalls Grundrechte aushebeln möchten: Die polnische Regierung fühlt sich bestärkt, das Asylrecht nach Gutdünken aussetzen zu können, Orban kann weiter sämtliche EuGH-Urteile zu Pushbacks ignorieren und Meloni wird darin bestärkt, trotz gerichtlich festgestellter Rechtswidrigkeit am Migrations-Deal mit Albanien festzuhalten.

Deutschland macht einen großen Schritt in Richtung der rechten Regierungen innerhalb der EU – ein Weg, der bereits unter der Ampel-Regierung durch Einführung von Grenzkontrollen und dutzende Asylrechtsverschärfungen beschritten wurde. Dass ein zentraler Akteur der europäischen Integration wie Deutschland nun ebenfalls auf innereuropäische Abschottung setzt, ist Ausdruck einer Renationalisierung Europas, die die Zukunft der Europäischen Union aufs Spiel setzt. Wir sind Zeug:innen eines Prozesses, der sich in den Verhandlungen um das Gemeinsame Europäische Asylsystem bereits abgezeichnet hat und in den sich die zukünftige Bundesregierung unter Friedrich Merz nun nahtlos eingliedert. Der Weg zu Nationalismus und Autoritarismus führt über die Migrationspolitik.

Was die Koalitionspartner ignorieren

Der Koalitionsvertrag zeugt von einer Realitätsferne der Migrationspolitik. Es wird eine Krise herbeigeredet, medial verstärkt und politisch instrumentalisiert, die als Rechtfertigung für autoritäre, die Grundrechte schleifende Maßnahmen dient. Der Rechtsstaat wird zurückgebaut, aber die Realität der Migration ist eine andere: Solange Flucht-Migration ausschließlich als Problem behandelt wird, das es mit allen Mitteln einzudämmen gilt, bleibt die Migrationspolitik zum Scheitern verurteilt.

Dass viele der angekündigten Maßnahmen – etwa die Beendigung von Aufnahmeprogrammen oder die Abschaffung der Möglichkeit, die Familie nachzuholen – die „irreguläre“ Flucht-Migration keinesfalls beenden, sondern erhöhen werden, weil alle legalen Einreisewege verschlossen werden, ist Teil dieses ideologischen Kurzschlusses. Ebenso wie der neokolonial anmutende Gestus im Umgang mit sogenannten Drittstaaten, die außerhalb unseres Sichtfeldes die Gefängniswärter spielen sollen. Für Menschen, die wie Waren zwischen Ländern verschifft werden – ganz gleich, ob sie einen Bezug zum fraglichen Land haben.

Während im Koalitionsvertrag nur von einer „Begrenzung der Migration“ gesprochen wird, ist von einer konstruktiven Gestaltung der Migrationsgesellschaft keine Rede. Und auch nicht von Aktivitäten zur Reduzierung der Ursachen von Flucht und Migration. Das Wort „Fluchtursachen“ kommt an zwei Stellen des Koalitionsvertrages vor: Dort wo es um wirtschaftliche Interessen, Freihandelszonen und den Zugang zu Rohstoffen geht. Dass diese Themen Fluchtgründe schaffen, kommt ihnen nicht in den Sinn.   

Stattdessen wollen die Koalitionspartner den Eindruck erwecken, sie könnten in einer Welt voller Krisen verloren gegangene Kontrolle wiedergewinnen; sie könnten mittels eines starken, repressiven Staates Migration steuern und an den deutschen Grenzen stoppen. Dieses Versprechen ist auch deshalb gefährlich, weil es autoritäre Ansätze der Migrationspolitik legitimiert, dabei aber scheitern wird und in der Konsequenz den Ruf nach noch härteren Maßnahmen befördert – und somit der AfD den Weg ebnet.  

Was die Koalitionspartner vollständig ignorieren: Migration gab es schon immer und es wird sie immer geben – gerade in einer zunehmend krisenhaften Welt. Migration ist eine Grundlage aller Gesellschaften, sie ist eine soziale Tatsache, deren ständige Bekämpfung nicht nur menschenrechtlich fatal, sondern auch ressourcenzehrend und zunehmend irrational ist. Menschen befinden sich immer in Bewegung. Freundeskreise, Familie und die Möglichkeit Arbeit zu finden, spielen eine wichtige Rolle in der Auswahl des Ortes, an den gewandert wird.

„Und sie kommen doch“, möchte man in Anlehnung an Galileo Galilei ausrufen, der gegen die Mehrheitsmeinung darauf bestand, dass die Erde sich bewegt und nicht Mittelpunkt des Universums ist. Oder wie die Autorin Şeyda Kurt es ausdrückt: „Jede, die geblieben ist, hat sich mal bewegt. Jede, die sich bewegt, ist mal geblieben. Migration wird es immer geben. Die Frage ist, wie menschlich und wie demokratisch wir mit dieser zivilisatorischen Grundbedingung umgehen wollen.“

Kerem Schamberger

Kerem Schamberger ist Kommunikationswissenschaftler und in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international für den Bereich Flucht und Migration zuständig. 

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Valeria Hänsel

Valeria Hänsel ist Migrationsforscherin und bei medico international als Referentin für Flucht und Migration in den Regionen Osteuropa, östliches Mittelmeer und Nahost tätig.

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