„Today is truly a historic day“, es sei ein wahrhaft historischer Tag, sagte die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola, zur Eröffnung der Pressekonferenz nach dem Abschluss der Trilog-Verhandlungen am Morgen des 20. Dezember 2023. Neben ihr standen die drei Berichterstatter:innen des Parlaments für die drei zentralen Verordnungen des Migrations- und Asylpakets. In den Tagen und Nächten zuvor wurde für diese Rechtsakte eine Kompromisslinie zwischen Kommission, Parlament und dem Rat als Vertreter der Mitgliedstaaten ausgehandelt – und damit die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) als Ganzes besiegelt.
Die Berichterstatter:innen waren sichtlich gezeichnet von dem Verhandlungsmarathon und hoben immer wieder hervor, dass die Einigung einen großen politischen Erfolg darstelle. Doch noch während sie sprachen, wurden die ersten Inhalte und Analysen des Kompromisses veröffentlicht. Schnell wurde klar: Der Rat hatte sich in nahezu allen Fragen durchgesetzt, das Parlament konnte – trotz der Länge der Verhandlungen – nur minimale Verbesserungen durchsetzen.
Die im Sommer 2023 noch von vielen, auch von Teilen der Ampelkoalition, geäußerte Hoffnung, das Europäische Parlament würde die schlimmsten Härten der Position des Rates noch abmildern können, stellte sich als Trugschluss heraus. Das hätte man schon vorher ahnen können: Bereits im Statusbericht der spanischen Ratspräsidentschaft Anfang Dezember wurde, etwas triumphierend im Ton, erklärt, dass sich die Ratsposition durchsetzen würde. Doch erst jetzt wird klar, wie weitgehend der Durchmarsch des Rates gegenüber dem Parlament tatsächlich ist.
An dieser Stelle kann nicht allzu detailliert und umfassend auf die Feinheiten des Kompromisses eingegangen werden. Zum einen wird diese Diskussion schnell höchst technisch. Zum anderen muss hervorgehoben werden, dass erneut – dies war auch im Juni beim Kompromiss des Rates schon der Fall – nur eine politische Einigung erzielt wurde. Der tatsächliche Wortlaut der Gesetze, wie sie nun beschlossen werden sollen und der für die tatsächliche Umsetzung ausschlaggebend sein wird, wird erst in den kommenden Wochen ausgearbeitet. Dies bietet Raum für weitere Verschlimmerungen und untergräbt gleichzeitig den demokratischen Prozess.
Grenzverfahren mit Logikfehler
Ein einschneidender Punkt der GEAS-Reform wird, wie schon lange diskutiert, die Einführung der Grenzverfahren sein. Diese sind verpflichtend durchzuführen. Zu diesem Zweck sollen grenznahe Einrichtungen aufgebaut werden, in denen gleichzeitig bis zu 30.000 Menschen festgehalten werden können. In den nächsten Jahren soll ihre Kapazität auf 120.000 Personen anwachsen. Von den Grenzverfahren werden vor allem Personen betroffen sein, deren Nationalität eine Gesamtanerkennungsquote von unter 20 Prozent in der EU hat.
Hier handelt es sich um einen entlarvenden Logikfehler. Wenn in einem Staat ‚nur‘ ein Zehntel der Bevölkerung verfolgt wird, müsste ein wirksames Asylsystem, das auf den Schutz des Individuums ausgelegt ist, den Einzelfall umso genauer prüfen. Stattdessen wird mit der statistischen Fiktion gearbeitet, dass eine niedrige Anerkennungsquote gleichbedeutend mit einer niedrigen Anerkennungswahrscheinlichkeit im Einzelfall wäre. Das ist schon mathematisch falsch.[1] Es zeigt aber vor allem, wie weit sich die Logik des GEAS von der der Genfer Flüchtlingskonvention entfernt hat. Es geht nicht mehr um den Schutz des Individuums vor Verfolgung, sondern um eine bloße Verwaltung von Massenflucht, in der die Person nur noch statistisches Element einer unerwünschten Bevölkerung ist.
Das Grenzverfahren wird auch für Personen verpflichtend, die durch einen sogenannten sicheren Drittstaat eingereist sind. Unstrittig scheint, dass die Grenzverfahren unter Bedingungen von Inhaftierung und abgesenktem Rechtsschutz stattfinden werden. Das Parlament konnte lediglich durchsetzen, dass es kostenlose Rechtsberatung (nicht: Rechtsbeistand) geben wird. Keine Ausnahmen wird es aber bei der Inhaftierung von Kindern geben, lediglich unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sollen ausgenommen werden.
Kein Ende der Pushbacks
Auch in einem zweiten wichtigen Punkt konnte sich das Parlament nicht durchsetzen. Es hatte einen robusten Monitoring-Mechanismus für die Screening-Verordnung gefordert. Diese Verordnung regelt den Erstkontakt zwischen schutzsuchender Person und EU-Mitgliedstaat, zum Beispiel wenn eine Person nach einem unautorisierten Grenzübertritt aufgegriffen wird. In Zukunft soll innerhalb von sieben Tagen entschieden werden, ob die Person direkt zurückgeschoben, ins Grenzverfahren oder ins reguläre Asylverfahren überstellt wird. Das Screening findet unter der Fiktion der Nicht-Einreise statt. Trotz de facto Anwesenheit auf dem Territorium wird de jure davon ausgegangen, dass eine Einreise noch nicht stattgefunden hat. Personen im Screening können sich daher auf noch weniger Verfahrensgarantien verlassen.
Erwiesenermaßen kommt es beim Erstkontakt zwischen Grenzschutz und Geflüchteten oftmals zu Pushbacks, also illegalen Zurückschiebungen über die Grenze. Der abgespeckte Monitoring-Mechanismus soll nun nicht an der Grenze, sondern nur in den Screening-Einrichtungen wirksam werden. Er setzt also zu spät an, um wirksam Pushbacks in der EU verhindern zu können.
Positiv ist lediglich festzuhalten, dass das sogenannte Verbindungselement bei Abschiebungen in Drittstaaten gestärkt worden ist. Beispielsweise soll es nach einer Ablehnung im Grenzverfahren möglich sein, abgelehnte Schutzsuchende in einen sicheren Drittstaat abzuschieben. Es muss nun aber ein Bezug der Person zu diesem Drittstaat bestehen, eine reine Durchreise reicht nicht mehr aus und auch eine ‚freiwillige‘ Zustimmung kann keine Grundlage mehr darstellen. Dies bedeutet, dass das sogenannte Ruanda-Modell, welches schon in Großbritannien als rechtswidrig eingestuft wurde, auch in der EU zukünftig unvereinbar mit Unionsrecht sein wird. Es ist zu hoffen, dass dies die unwürdige Debatte dazu in Deutschland nun schnell beendet.
Krise, Force Majeure, Instrumentalisierung
Diese drei Aspekte beziehen sich auf den Normalfall des GEAS. Teil der Reform ist aber auch eine Krisenverordnung, die in Fällen von „Krise“ (massenhafte Ankunft), „Force Majeure“ (höhere Gewalt) und „Instrumentalisierung“ (Unterstützung von Fluchtmigration durch Staaten oder „hostile non-state actors“ auf Grund eines politischen Kalküls) eine weitere Absenkung der Standards erlaubt. Damit ist einer Aushebelung der ohnehin schon niedrigen Verfahrensgarantien für Schutzsuchende Tür und Tor geöffnet. Zwar muss ein solcher Fall vom Rat beschlossen werden (das Parlament ist hier außen vor). Angesichts der politischen Stimmung im Rat ist jedoch davon auszugehen, dass solche Beschlüsse regelmäßig ergehen werden, sobald Mitgliedstaaten diese beantragen.
Der Reform muss attestiert werden, dass sie die ursprüngliche Vision des GEAS, einen gemeinsamen und homogenen „Raum des Schutzes“ zu begründen, zu Grabe getragen hat. Trotz der Tatsache, dass es sich um eine europäische Gesetzgebung handelt und dass europäische Institutionen eine stärkere Rolle haben werden: Der Geist der neuen Verordnungen ist es nicht mehr, staatliches Handeln im Sinne eines wirksamen Systems des Flüchtlingsschutzes anzuleiten und im Konfliktfall zu begrenzen. Vielmehr ist es den Mitgliedstaaten regelmäßig freigestellt, auch schärfere Maßnahmen – zum Beispiel die Ausweitung der Grenzverfahren auf alle Schutzsuchende – zu ergreifen.
Keine europäische Solidarität
Dies führt zum letzten Punkt. Auch wenn immer wieder das Gegenteil behauptet wird: Die Ungleichverteilung von Verantwortung für den Flüchtlingsschutz, die das Dublin-System begründet hat und die den Grund für dessen Scheitern darstellt, wird nicht reformiert. Gleichzeitig wurde auch kein wirksamer Solidaritätsmechanismus innerhalb der EU beschlossen. Durch die Wiederkehr des umstrittenen Konzepts der „flexiblen Solidarität“ ist es Mitgliedstaaten nun freigestellt, in welcher Form sie Verantwortung im GEAS übernehmen. Eine zwingende Aufnahme von anerkannten Schutzsuchenden gibt es nicht mehr, stattdessen darf auch in einen Fonds für Grenzsicherungsmaßnahmen eingezahlt werden. Auch dies konterkariert die Idee eines gemeinsamen europäischen Systems.
Es ist daher mehr als fraglich, ob es grundlegende Anreize für die grenznahen Mitgliedstaaten der EU gibt, sich am neuen System zu beteiligen. Immerhin wird von diesen nun die Errichtung und der Betrieb massiver, grenznaher Inhaftierungslager verlangt. Im Gegenzug können sie aber kaum auf Unterstützung jenseits finanzieller Förderung hoffen. Ein mögliches Szenario wäre daher, dass ihre Politik, die Menschen nach Norden durchzuwinken (was die Krise des GEAS auslöste) fortgesetzt wird. Ein anderes mögliches Szenario ist, dass ein Mitgliedstaat grundsätzlich auf Grenzverfahren und die Inhaftierung aller Schutzsuchenden setzt. Eine dritte Möglichkeit wäre, dass ein grenznaher Mitgliedstaat wiederholt den Krisenfall ausruft, um so die Regeln des GEAS außer Kraft zu setzen. Eine ähnliche Dynamik lässt sich schon seit vielen Jahren im Schengen-System beobachten, in dem Staaten die Ausnahme – temporäre Binnengrenzkontrollen –längst zur permanenten Regel gemacht haben.
Demokratie und Rechtsstaat in Europa stehen auf dem Spiel
Mit der unter hohem Druck zu Stande gekommenen Einigung auf die Reform des GEAS haben die EU, ihre Mitgliedstaaten, aber auch die im Parlament vertretenen Parteien eine überaus gefährliche Wette auf die Zukunft geschlossen. Sie hoffen, dass die schiere Gewalt der Grenze die Ankunft von Schutzsuchenden in Europa verhindern kann. Sie sind bereit, einen horrenden menschlichen Preis dafür zu bezahlen, genauer: von Schutzsuchenden und den Schwächsten bezahlen zu lassen.
Doch was passiert, wenn sich die Maßnahmen als unwirksam herausstellen oder ihre Konsequenzen – die Vervielfachung des Leidens an den Außengrenzen – demonstrieren, in welchem Maße die EU bereit ist, ihre eigenen Werte zu verraten? Dann wird erst recht die Stunde des Autoritarismus, des Rassismus und des Faschismus im Gewand der neuen rechten Bewegungen in Europa schlagen. Dann werden Demokratie und Rechtsstaat in Europa erst recht auf dem Spiel stehen. Die Anfänge dessen können wir schon heute beobachten: Die Regierungen Sunak in Großbritannien und Macron in Frankreich könnten stürzen, weil sie unter dem Druck von rechts Migrationspolitik, Grund- und Menschenrechte und Demokratie nicht mehr versöhnen können. Der Streit um die Migration ist in Wahrheit ein Kampf um die Zukunft der Demokratie.
[1] Bei einem wiederholten Würfelwurf ist die statistische Wahrscheinlichkeit, eine Eins zu würfeln, auch unter 20 Prozent (16.67 Prozent). Deswegen davon auszugehen, dass es bei zukünftigem Würfeln im Allgemeinen nicht zu einer Eins kommen wird, widerspricht schon der Erfahrung.