Von Maximilian Pichl
Aktuell wird auf EU-Ebene über ein neues Gemeinsames Europäisches Asylsystem verhandelt, die EU-Kommission hat dazu Ende 2020 den sogenannten „New Pact on Migration and Asylum“ auf den Weg gebracht. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sprach am Wochenende von einem „historischen Momentum“ für die europäische Asylpolitik. Sie kündigte an, dass die Bundesregierung für das europäische Ratstreffen am 8. Juni 2023 verhandlungsfähig sei. Die Ampel-Koalition wird dort eine restriktive Linie in der Tradition der Innenminister Thomas de Maiziére (CDU) und Horst Seehofer (CSU) verfolgen und fundamentalen Verschärfungen des bisherigen EU-Asylrechts zustimmen.
Diese Position ist nicht nur die Linie des Bundesinnenministeriums unter Faeser, sondern auch die Ministerien der Ampelkoalition von FDP und Grünen haben diesem Vorgehen, sei es aus Überzeugung oder Unwissenheit, zugestimmt. Man muss es an dieser Stelle klar sagen: Die Ampel will ein EU-Gesetzespaket beschließen, das dem deutschen Asylkompromiss von 1993, der das Recht auf Schutz vor Verfolgung massiv ausgehöhlt hat, in nichts nachsteht. Das Labor für die aktuelle Reform ist in den Hotspot-Lagern auf den griechischen Inseln und im EU-Türkei-Deal zu sehen. Dort werden Schutzsuchende seit Jahren festgesetzt, ohne Zugang zu hinreichenden Sanitäranlagen, medizinischer Versorgung oder Lebensmitteln. Erst vor kurzem hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am Beispiel der Insel Samos festgestellt, dass Asylsuchende dort einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sind.
Deals mit autoritären Regimen
Innenministerin Nancy Faeser, aber auch Grünen-Fraktionschefin Britta Hasselmann sprachen mit Bezug auf die geplanten Änderungen von „Asylverfahren an der Grenze“. Dieses Wording hat sich in der öffentlichen Debatte durchgesetzt. Aber Schutzsuchende werden an den Grenzen zunächst kein inhaltliches Asylverfahren durchlaufen. In den geplanten „Grenzverfahren“ werden sie nicht erzählen können, wie sie vor Baschar al-Assads Schergen aus Syrien oder vor den islamistischen Taliban in Afghanistan geflohen sind. Die Innenministerin behauptet zwar öffentlich, dass Asylsuchende aus Staaten mit einer hohen Anerkennungsquote nicht in diese Grenzverfahren kommen, das ist aber nicht zutreffend. Der EU-Kommissionsvorschlag sieht explizit vor, dass Mitgliedstaaten die Anträge von Personen pauschal als unzulässig ablehnen sollen, die aus angeblich sicheren Drittstaaten eingereist sind. Und dabei konstruiert die EU auch autoritäre Regime wie die Türkei als sicher.
In Grenzverfahren werden Flüchtlinge registriert und es wird geprüft, ob sie überhaupt ein Asylverfahren bekommen sollen oder ob man sie in andere Staaten zurückführen kann. Von den eigentlichen Fluchtgründen ist in diesem Verfahrensstadium keine Rede. Das steht im Widerspruch zu dem, was die Ampel-Parteien im Koalitionsvertrag vereinbart hatten. Dort hieß es: „Der Asylantrag von Menschen, die in der EU ankommen oder bereits hier sind, muss inhaltlich geprüft werden.“ Bei den Grenzverfahren passiert genau das nicht.
Solche Grenzverfahren finden schon heute als ein Ergebnis des deutschen Asylkompromisses der 1990er Jahre an deutschen Flughäfen statt und wurden auch in Griechenland in den letzten Jahren erprobt (sog. „admissibility procedures“). Wer sich in einem Grenzverfahren befindet erhält nicht das Maß an sozialen Leistungen und gesundheitlicher Versorgung wie es laut EU-Recht eigentlich vorgesehen ist. Auch der Rechtsschutz vor Gericht ist deutlich eingeschränkt. Zwar will sich die Bundesregierung für Ausnahmen einsetzen, zum Beispiel sollen Kinder nicht die Grenzverfahren durchlaufen. Aber aus der Erfahrung der letzten Jahre ist hinlänglich bekannt, dass die Behörden solche Regelungen in der Praxis oft umgehen. Zudem ist zu befürchten, dass Asylsuchende für die Dauer der Grenzverfahren systematisch inhaftiert werden. Griechenland hat hierfür in den vergangenen Jahren neue Haftanstalten auf den Inseln aufgebaut. Die Bundestagsabgeordnete Clara Bünger (Die Linke) hat Recht, wenn sie sagt, „unmenschliche Lager“ wie in Moria können „zur neuen Normalität in der EU werden“.
Am Ende der Grenzverfahren sollen die Schutzsuchenden in Drittstaaten wie die Türkei oder Tunesien verbracht werden. Die Ampel hat in ihrem Koalitionsvertrag zwar die Prüfung „rechtsstaatlicher Migrationsabkommen mit Drittstaaten“ vereinbart, aber schon der EU-Türkei-Deal erfüllt diese Kriterien in keiner Weise. In Drittstaaten sind Geflüchtete menschenrechtswidrigen Zuständen, Ausbeutung, der Gefahr einer Kettenabschiebung in ihre Verfolgerstaaten und einem grassierenden Rassismus gegenüber Geflüchteten ausgeliefert.
Die Verantwortung für ein rechtsstaatliches Asylrecht
Besonders die Grünen, die jahrelang in der Opposition die EU-Asylpolitik und Deutschlands Rolle kritisiert haben, stehen nun in der Verantwortung. Eine Zustimmung zu diesem Paket wäre ein klarer Bruch mit dem grünen Parteiprogramm. Schon einmal haben die Grünen in Regierungsverantwortung es unterlassen, eine restriktive Asylpolitik zu verhindern. Unter Rot-Grün (1998-2005) hat der „Law and Order“-Innenminister Otto Schily (SPD) die Weichen für Frontex und das unsolidarische Dublin-System gestellt. Schily wollte damals noch weiter gehen, Hand an die Genfer Flüchtlingskonvention legen und Asylverfahren außerhalb Europas auslagern. Was Schily aufgrund erheblichen Widerstands durch die Zivilgesellschaft und aus den Reihen der Grünen damals nicht gelang, scheint Innenministerin Faeser nun mit Zustimmung der grünen Minister:innen umzusetzen: Faeser ließ verlautbaren, dass Asylverfahren außerhalb der EU geprüft werden.
Die Bundesregierung wird Anfang Juni mit den rechten Regierungen aus Schweden, Italien, Ungarn und Polen bei dem Ratstreffen zusammenkommen, danach gehen die Verhandlungen mit dem EU-Parlament weiter. In Europa geben die Autoritären den Ton bei der Asylpolitik an und die Bundesregierung will diesen erkennbar nicht den Wind aus den Segeln nehmen. Erst diese Woche hat Litauen menschenrechtswidrige Pushbacks per Gesetz legalisiert. Der grüne Europaabgeordnete Erik Marquardt sagte, mit dem Vorschlag für das Gemeinsame Europäische Asylsystem gehe man „den Rechtspopulisten auf den Leim“. Dieses Signal ist fatal. Denn bei dieser Reform geht es am Ende nicht nur um Asylpolitik. Infolge der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs wurde in Europa nach 1945 schrittweise ein individuelles Asylrecht entwickelt, das rechtsstaatliche Verfahren auf europäischem Territorium garantieren sollte.
Die aktuelle Verhandlungsposition der Bundesregierung stellt sich nicht dieser historischen Verantwortung für das Asylrecht, sondern legitimiert eine Entrechtungspolitik an den Grenzen. Als in Deutschland 1993 der Asylkompromiss verabschiedet werden sollte, gingen Hunderttausende Menschen auf die Straße, um ihr Nichteinverstandensein zu demonstrieren. Nichts weniger ist nun nötig, um den autoritären Konsens auf europäischer Ebene zu durchbrechen. Ein Stopp dieses europäischen Asylkompromisses wäre der eigentlich notwendige „historische Moment“.
Autor Maximilian Pichl
Dr. Dr. Maximilian Pichl ist zurzeit Vertretungsprofessor für Politische Theorie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel. Für medico hat er die Studie „Der Moria-Komplex“ verfasst. Aktuell forscht er zur rechtsstaatlichen Aufarbeitung der Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) und zu den institutionellen Veränderungen in der EU-Migrationspolitik seit dem „Sommer der Migration 2015“.