Am Strand des Stadtteils Dakar-Mbao brennt die Sonne vom Himmel. Nur der Wind sorgt ab und an für eine kurze Erfrischung. Auf dem breiten Küstenstreifen kommen die Teilnehmenden der “CommemorAction“ zusammen. Sie sind hier, um den Menschen, die in ihrem Streben nach Bewegungsfreiheit gestorben oder verschwunden sind. Dabei stehen neben dem Gedenken Forderungen nach Gerechtigkeit für die Toten im Mittelpunkt. Es sind Aktivist:innen, darunter einige aus Europa, und es sind Menschen, die selbst Angehörige verloren haben.
Eine von ihnen ist Aminata Boye. Die Frau in einem weißen, bodenlangen Kleid mit lockerem Kopftuch nimmt das Mikrofon und erzählt sehr ruhig, konzentriert und langsam von dem Schmerz, der sie überwältigt hat, als sie vor vier Jahren erfahren hat, dass ihr Sohn Wally Mbaye bei der Überfahrt zu den Kanarischen Inseln ums Leben gekommen ist. Schon am Tag nach der Abfahrt habe sie gespürt, dass ihm etwas zugestoßen ist. „Mein Körper wusste, dass er tot ist.“ Seither erscheine er in ihren Träumen und sage ihr, sie solle nicht um ihn weinen. Nach Aminata Boye ergreifen andere das Wort. Auch sie haben Angehörige, die auf den maritimen Migrationsrouten verschollen sind. In ihren Beiträgen berichten sie von Verlust, Trauer und Wut. „Wir alle haben Schwestern und Brüder, die im Atlantik gestorben sind“, sagt schließlich Saliou Diouf, Aktivist der medico-Partnerorganisation Boza Fii. Er betont, dass hinter dem individuellen Unglück System steckt. Die Todesfälle bezeichnet er als „absichtlich herbeigeführten Mord“.
Das senegalesische Netzwerk Boza Fii ist ein Zusammenschluss von zurückgekehrten Migrant:innen und Menschenrechtsaktivist:innen. Seit vier Jahren organisieren sie eine Karawane der Vermissten und machen damit auf die Spuren aufmerksam, die das Verschwinden und Sterben auf den maritimen Routen innerhalb der senegalesischen Gesellschaft hinterlässt. Auch im November 2024, einen Monat nach der CommemorAction in Dakar, reist sie zehn Tage lang zu Orten entlang der Migrationswege – von Dörfern weit im Landesinneren bis zu den Küsten, an denen die Boote ablegen. Es finden Workshops, Gesprächsrunden und Filmvorführungen statt. All das soll helfen, um mit den Familien von Vermissten ins Gespräch zu kommen und das massenhafte Sterben öffentlich sichtbar machen, indem das Schweigen über den Verlust überwunden wird. Es geht sowohl um das Recht der Verschwundenen auf Identität und Würde als auch um das Recht der Familien zu erfahren, was mit ihren Söhnen, Töchtern oder Geschwistern geschehen ist.
Verschollen auf dem Atlantik
Dass sich an der Küste Westafrika die Spuren von Menschen verlieren, ist direkte Folge der europäischen Abschottungs- und Abschreckungspolitik. Angesichts der massiven Grenzkontrollen im Mittelmeer und der zunehmenden Repression gegen Migrant:innen in den Maghreb-Staaten – unterstützt durch EU-Gelder – weichen immer mehr Migrant:innen auf andere Routen aus, zum Beispiel auf die Überfahrt von Senegal zu den zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln: zur EU weit draußen im Atlantik. Ungefährlich ist dieser Weg nicht, im Gegenteil. Schon unweit der Küste bei der nordsenegalesischen Stadt St. Louis treffen der Fluss Senegal und der Atlantische Ozean aufeinander, es entsteht eine starke Strömung, die die meist einfachen und wenig hochseetauglichen Boote zum Kentern bringen kann.
Allein im Jahr 2023 sind bei den Überfahrten von den senegalesischen und gambischen Küsten 959 Menschen umgekommen, so die offiziellen Zahlen. Die Dunkelziffer dürfte riesig sein. Die meisten der Aufbrechenden kennen das Risiko, es hat sich tief in die senegalesische Gesellschaft eingeschrieben. „Barça wala Barsakh“ („Ich komme an oder sterbe“) lautet ein bekannter Spruch in der Sprache Wolof. Die Gefahr hält die Menschen jedoch nicht davon ab, sich auf ein traditionelles Fischerboot, eine Piroge, zu setzen und die bis zu 2.000 Kilometer weite Überfahrt zu wagen. Zu groß sind Not und Perspektivlosigkeit. Und mag die Hoffnung auf ein würdevolleres Leben auch winzig sein – immerhin gibt es einen Hauch Hoffnung.
Insbesondere Küsten- und Fischerorte haben sich in den letzten Jahren zu Transit- und Abfahrtsorten gewandelt. Das zeigt sich auch in dem Stadtteil Kojombau in St. Louis, einer Küstenstadt 250 Kilometer nördlich von Dakar, kurz vor der Grenze zu Mauretanien. Der Ort ist eine Halbinsel, durch eine Brücke getrennt von der Altstadt. Überall sieht man bunt bemalte Pirogen, die am Strand oder im Flussbett liegen. In Kojombau lebt Fatou Ndiaye. Auch sie hat ihren Sohn verloren. In ihrem kargen Wohnzimmer mit vier Plastikstühlen erzählt sie von seinem Schicksal. Vor drei Jahren hat sich Soleymane, 23 Jahre alt, eines Nachts auf den Weg gemacht. Da sein Vater schon seit Jahren tot und er das älteste der Geschwister war, fühlte er die Verantwortung, für seine Familie zu sorgen. Er hoffte darauf, in Europa Arbeit zu finden und seiner Mutter Geld zu senden, damit sie ein stabiles Haus für die Familie bauen lassen kann. Seine Mutter hatte schon länger die Sorge, dass er eines Tages einfach verschwinden würde. So kam es. Als sie zwei Tagen nicht von Soleymane hörte, wusste sie, dass er in eine Piroge gestiegen war. Seither fehlt von ihm jede Spur. Fatou Ndiaye weiß, dass ihr Sohn tot ist. Aber es zu akzeptieren, fällt ihr schwer. Obwohl viele Familien dieses Schicksal teilen, wird öffentlich kaum darüber gesprochen. Es herrschen Scham und Schweigen. So bleiben viele Angehörige allein mit ihrem Schmerz und ihrer Trauer. Auch deshalb ist die Karawane von Boza Fii so wichtig. Sie gibt Gelegenheit, den Schmerz zu teilen und nach und nach verarbeiten zu können.
Drakonische Strafen
Die EU hat längst auf die wachsende Bedeutung der Migrationsroute über den Atlantik reagiert. Vor den Küsten Senegals patrouillieren die spanische Guardia Civil und die EU-Grenzagentur Frontex. Zunehmend richten sich die Maßnahmen zur Bekämpfung der als „irregulär“ denunzierten Migration auch gegen jene, die die Überfahrt ermöglichen. Das trifft vor allem Fischer, von denen manche Boote verkaufen und die in der Lage sind, ein Boot über den Atlantik zu steuern. Warum sie das tun? Da ausländische Trawler, oft aus Europa, das Meer vor der Küste weitgehend leergefischt haben, können viele ihre Familien mit der Fischerei nicht mehr durchbringen. Sie sind auf Zusatzeinnahmen oder neue Einkommensquellen angewiesen.
Die Hilfe zur Überfahrt wird jedoch drakonisch verfolgt. 2023 ist im Senegal ein Gesetz verabschiedet worden, dass Schleuseraktivitäten kriminalisiert. Offenkundig hatte die EU hierbei ihre Finger im Spiel, bis heute unterstützt sie die Umsetzung des Gesetzes mit Geld und Technik. Zentral ist die Abschreckung. Erreicht heute ein Boot die Kanarischen Inseln, werden fast immer einzelne Insassen der Schleuserei bezichtigt und inhaftiert. „Unsere Gefängnisse sind voll mit Menschen, die einfach nur ihr Recht auf Bewegungsfreiheit in Anspruch genommen haben“, sagt eine spanische Aktivistin von den Inseln.
Unterbindung innerafrikanischer Migration
Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel. Das dichte Netz an Kontrollen vor der senegalesischen Küste und die Repressionen haben sich herumgesprochen. Folglich verschieben sie Migrationsroten einmal mehr, diesmal Richtung Norden – nach Mauretanien. Dass die EU ihre Migrationsabwehr entsprechend auch dorthin ausgeweitet hat, wird beim Besuch in Rosso deutlich. Rosso liegt im Landesinneren am Fluss Senegal, der hier die Grenze zu Mauretanien bildet. Es gibt ein senegalesisches Rosso diesseits und ein mauretanisches jenseits des Flusses. Hier befindet sich einer von nur zwei offiziellen Übergängen entlang der über 740 Kilometer lange Grenze zwischen den beiden Staaten. Auch hier macht die Karawane Halt.
Bei der Einfahrt in das senegalesische Rosso passiert man zunächst einen Grenzposten. Ein Polizist kontrolliert die Dokumente und fragt nach dem Reiseziel. Die Hauptstraße führt direkt an den schlammig-braunen Grenzfluss. Auf dem Wasser verkehren Pirogen und eine Fähre. Sie transportieren Menschen, Vieh und Lastwagen auf die andere Seite. Manche Autos tragen spanischen Kennzeichen, Senegales:innen auf Heimatbesuch. Auf den Fähren sind aber vor allem diejenigen unterwegs, die die Grenzen regelmäßig passieren: Marktfrauen, die ihre Waren auf der mauretanischen Seite des Flusses verkaufen; Menschen, die temporär in Mauretanien oder noch weiter nördlich arbeiten und nach einigen Monaten zurückkehren. Sie alle sind Teil der traditionellen zirkulären Migration in West- und Nordafrika. Unzählige Familien hängen von der Möglichkeit ab, von Land zu Land zu pendeln. Was hier immer gängige Praxis war – Mobilität und Bewegungsfreiheit –, ist der EU jedoch ein Dorn im Auge. Also lässt sie den Grenzfluss Senegal von Drohnen überwachen und Grenzübergänge streng kontrollieren. Wer übersetzen will, braucht einen biometrischen Pass, Frontex unterstützt die Grenzpolizei und übermittelt Migrationsdaten an die EU.
Das mauretanische Rosso ist ein Transitort, eine Etappe für jene, die hoffen, in Nordafrika Arbeit zu finden oder irgendwie nach Europa zu gelangen. In der Stadt warten Senegales:innen, aber auch Menschen aus Gambia, Guinea, Mali oder Sierra Leone, manche sogar aus Pakistan oder Bangladesch, auf eine günstige Gelegenheit oder sie versuchen, das für die Weiterreise nötige Geld zu verdienen. Dafür nehmen sie auch prekäre Arbeitsverhältnisse in der Landwirtschaft und auf dem Bau in Kauf. Andere sind zwangsweise nach Rosso im Senegal zurückgekehrt: Die mauretanischen Behörden haben sie abgeschoben. Immer wieder treffen Busse ein, die Migrant:innen aus Städten wie Nouakchott oder Nouadhibou hierher zurückbringen. Viele haben nichts mehr, ihre Wertsachen haben die mauretanischen Grenzbeamt:innen ihnen abgenommen. Da Senegal jedoch nur eigene Staatsangehörige aufnimmt, werden Migrant:innen anderer Nationalitäten wieder zurück nach Mauretanien geschickt. Die Menschen werden zwischen den Flussufern hin- und hergeschoben, ohne Perspektive, gefangen in einem kafkaesken Nirgendwo.
Migrieren, um zu überleben
Angesichts des Rechtsrucks in Europa bleibt wenig Hoffnung, dass sich die Migrationspolitik der EU in Westafrika ändern wird. Zwar wurde im Senegal jüngst eine neue Regierung gewählt. Aber viele fürchten, dass auch sie – sei es bereitwillig, sei es durch Druck – ihren Part bei der „Bekämpfung irregulärer Migration“ übernehmen wird. Die medico-Partnerorganisation Boza Fii ist eine der wenigen Organisationen, die unabhängig genug ist, um sich dieser Politik zu widersetzen. Sie fordert die Regierung auf, gegen die wahren Fluchtgründe zu kämpfen, statt sich zum Grenzpolizisten der EU zu machen.
Zwei Forderungen werden von der senegalesischen Bevölkerung und Zivilgesellschaft immer wieder erhoben. Erstens müsse es darum gehen, vor Ort Perspektiven zu schaffen. Dafür bräuchte es gerechte Arbeitsbedingungen. Tatsächlich arbeiten mindestens 96 Prozent der Senegales:innen im irregulären Sektor, die meisten als Tagelöhner. Ihr übliches Tageseinkommen von vier bis sechs Euro reicht nicht zum Überleben. „Wenn alle das Land verlassen, wer wird dann bleiben, um es aufzubauen?“, fragt Mamadou Fall, ein von den Kanarischen Inseln zurückgekehrter Migrant. Zweitens bräuchte es eine gerechte Visumspolitik. Für die meisten Westafrikaner:innen ist es praktisch unmöglich, ein Visum für Europa zu erhalten. Daher entscheiden sie sich trotz der lebensgefährlichen Risiken für die sogenannte klandestine Migration. Boza Fii fordert Partnerschaften und Abkommen auf Augenhöhe. Eine gerechte Visumspolitik wäre ein Schritt in diese Richtung.
Noch einmal zurück an den Strand in Dakar. Während draußen auf dem Meer Pirogen treiben, stellt Aminata Boye gefaltete Papierboote auf den Sand. Sie stehen für die Boote, mit denen die Menschen den Atlantik auf der Suche nach einem besseren Leben befahren. Daneben stecken die Teilnehmenden der CommemorAction Blumensträuße. Nach und nach werden sie von den Wellen erfasst, das Meer holt sich Boote und Blumen. Einige weinen, andere beten. Es sind Szenen einer Trauerfeier: Aktivist:innen und Angehörige nehmen Abschied. Und sie klagen an.
Die medico-Partnerorganisation Boza Fii, gegründet von zurückgekehrten Migrant:innen und Menschenrechtsaktivist:innen, organisiert jährlich eine zehntägige Karawane für Angehörige derjenigen, deren Spuren sich verloren haben. Gemeinsam besuchen sie Stationen entlang der Migrationsrouten auf der Suche nach Informationen über den Verbleib der vermissten Menschen oder nach Gewissheit über ihren Verlust. Es geht um Beistand, aber auch darum, die Tragödien, die die EU-Migrationspolitik verursacht, öffentlich zu machen.