Seit Jahrzehnten lebt die europäische Migrationspolitik davon, Gewalt an Europas Außengrenzen und in den globalen Süden auszulagern: durch Aufrüstung des Grenzschutzes in Transitstaaten, Finanzierung von Gefängnisinfrastrukturen und die strafrechtliche Verfolgung von Grenzübertritten und ihrer Ermöglichung. Diese sogenannte Externalisierungspolitik führt dazu, dass Fliehende entlang der Routen zahlreiche, oftmals tödliche Hindernisse überwinden müssen: aufgerüstete Grenzwälle, die Wüste Sahara und das Mittelmeer. Durch die Abschottung wurden sie zu Massengräbern gemacht.
Parallel dazu erleben wir zurzeit eine Verschiebung der Gewalt nach innen. Dies bedeutet nicht, dass die Auslagerung der Abschottung zurückgeht – im Gegenteil, sie wird weiter ausgebaut. Aber die Gewalt, die an den europäischen Außengrenzen, wie beispielsweise auf den griechischen Inseln, erprobt wurde, zeigt sich nun zunehmend auch im Innern Europas. Was seit 2016 in vielen Staaten entlang der sogenannten Balkanroute zu beobachten war, ist inzwischen auch in Deutschland angekommen: Pushbacks an den deutschen Grenzen und Forderungen nach zeitlich unbegrenzter Abschiebehaft. Zonen der Entrechtung breiten sich auch im Inneren aus. Zum Beispiel Lagerkomplexe, in denen Grundrechte keine Gültigkeit haben.
So sieht es auch das Gesetz zur Übersetzung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) in deutsches Recht vor, das kürzlich von der Bundesregierung vorgelegt wurde. Vor allem geht mit der Verlagerung von Grenzen ins Innere auch eine gesteigerte Akzeptanz von Gewalt einher. Wir haben uns an die Bilder des Sterbens im Mittelmeer und die in Lagern eingepferchten Menschen an den Außengrenzen als vermeintlich notwendiges Übel gewöhnt und sind nun bereit, Ähnliches auch vor der eigenen Haustür zu akzeptieren. Rund die Hälfte des Bundestags hat Friedrich Merz’ Vorschlägen zustimmt, das Grundrecht auf Asyl durch eine de facto Grenzschließung auch für Schutzsuchende abzuschaffen. Die migrationsfeindliche Politik ist der Nährboden für gesellschaftliche Verrohung und ein Katalysator des Rechtsrucks in Deutschland und Europa.
Besuch auf Lesbos
Auf der griechischen Insel Lesbos im ägäischen Meer liegen die Überreste des 2020 ausgebrannten Lagers Moria wie ein Mahnmal der gescheiterten EU-Abschottungspolitik. Die verkohlten Olivenbäume, zwischen die das Lager gebaut wurde, erholen sich langsam. 13.000 Menschen waren hier zum Schluss unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht. Noch immer stehen Mauern mit Stacheldraht und die Fundamente verbrannter Wohncontainer zwischen den Bäumen. Reste von Kinderspielzeug liegen auf dem Boden. Am besten erhalten ist der Gefängniskomplex im Inneren des Lagers. Dort wurden Menschen eingesperrt, die aufgrund von Geschlecht oder Herkunftsland im beschleunigten Grenzverfahren als wenig chancenreich ausgesondert wurden. Moria gilt als Testballon für die Verfahren, die nun Eingang in die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) gefunden haben.
Nur wenige Kilometer entfernt, an einem Strand gelegen, liegt Morias Nachfolgelager Mavrovouni. Nachdem Moria in Flammen aufgegangen war, wurde es binnen weniger Tage als kurzfristige Zwischenlösung aus dem Boden gestampft und ist entsprechend schlecht ausgestattet. Seit vier Jahren stehen die Zelte und Wohncontainer für die ca. 7000 Bewohner:innen infolge der regelmäßigen Winterstürme unter Wasser.
Die Evolution des Prinzips Lager lässt sich aber am besten mit Blick auf das dritte Lager der Insel Lesbos zeigen. Vastria ist ein sogenanntes Closed Controlled Access Centre (CCAC), von der EU auch als Multiple Purpose and Reception Centre bezeichnet. Infrastrukturell ähnelt es stark den Gefängniskomplexen für Geflüchtete, die Italien in Albanien errichtet hat und die die EU inzwischen offen als Return Hubs bezeichnet. Statt windschiefen Zelten stehen dort gleichförmige weiße Wohncontainer hinter meterhohen Zäunen mit Nato-Draht. 97 Millionen Euro hat die EU bereits in das Lager investiert. Es soll zwar nicht komplett geschlossen sein, liegt aber in einem Wald in den Bergen soweit abgelegen, dass es de facto kaum zu verlassen ist. Ein- und Ausgänge sind mit Sicherheitsschleusen und elektronischen Armbändern ausgestattet, die Bewohner:innen sollen einer totalen Überwachung unterliegen: durch Kameras, Drohnen und systematische Datenspeicherung.
Eröffnet werden konnte das Lager bisher jedoch nicht, da es aufgrund seiner Lage in einem Naturschutzgebiet und der Brandgefahr im Sommer stark umstritten ist. Doch es ist das Modell der Zukunft: auch wenn zukünftige Lager in Deutschland nicht identisch aussehen werden, das Prinzip der Schnellverfahren und Abschottung ist dasselbe.
Derweil ist auf dem Meer zwischen Griechenland und der Türkei die systematische Grenzgewalt und die Zurückschiebung von Booten durch die Küstenwache spätestens seit 2020 zur Norm geworden. In den letzten zwei Jahren wurden dort tausende illegale Pushbacks gezählt. Immer wieder werden auch Menschen von den Stränden, die sie erreicht haben, entführt und in Rettungsinseln auf dem offenen Meer ausgesetzt. Und es häufen sich Berichte, denen zufolge die griechische Küstenwache mit scharfer Munition auf Flüchtlingsboote schießt.
Im „sicheren Drittstaat“ Türkei
Nur anderthalb Stunden Fährfahrt von Lesbos entfernt liegt die Stadt İzmir an der türkischen Küste. Hier lässt sich beobachten, welche Auswirkungen die Externalisierung von Grenzgewalt jenseits der Außengrenze mit sich bringt. Für Griechenland gilt die Türkei als „sicherer Drittstaat“, dabei sind hier Menschenrechtsverletzungen gegenüber Geflüchteten an der Tagesordnung und ausführlich dokumentiert. Hunderttausende Menschen werden im Land illegalisiert, weil die Registrierungsbüros fast vollständig geschlossen sind. Über 11 Milliarden Euro hat die EU seit 2015 an die Türkei bezahlt, damit Geflüchtete hierbleiben und nicht nach Europa kommen. Seitdem wurden 32 sogenannte Removal Centre gebaut – Abschiebegefängnisse mit insgesamt ca. 16.000 Haftplätzen. Laut einer Studie von Lighthouse Reports sind 30 von ihnen mit zusätzlichen 213 Million Euro von der EU finanziert worden.
Zahlreiche Recherchen prangern die menschenverachtenden Zustände in den Gefängnissen an. Anwält:innen und Geflüchtete in İzmir berichten mir von systematischer Folter. Immer wieder kommt es zu massenhaften Abschiebungen, insbesondere nach Afghanistan und Syrien. Oft unter Folter werden Menschen gezwungen, ihrer „freiwillige Rückkehr“ zuzustimmen. Insgesamt schiebt die Türkei mehr Menschen ab als alle EU-Staaten zusammen.
Doch nicht nur die Gefängnisinfrastruktur wird zu großen Teilen von der EU finanziert, auch die Aufrüstung der türkischen Grenzen bezahlt Europa. So hat die Türkei einen Grenzwall zum Iran errichtet, der mit 108 Millionen Euro von der EU finanziert wurde. An dieser Grenze kommt es regelmäßig zu Todesfällen – durch Verletzungen und Erfrierungen und auch hier schießt die Grenzpolizei immer wieder scharf.
Verlagerung der Gewalt ins Innere
Gegenwärtig zeigt sich immer klarer, dass diese Gewalt auch auf das Innere der sich abschottenden Gesellschaften abfärbt. Wenn sich Brutalität normalisiert und sich durchsetzt, dass das Recht auf ein Leben in Würde nicht für alle Menschen gleichermaßen gilt, dann stört Gewalt auch weniger vor der eigenen Haustür. Insbesondere wenn sie nicht direkt sichtbar ist, weil die Betroffenen in Lagern isoliert sind. Zweifelsohne ist Deutschland noch weit davon entfernt, an den Grenzen scharf zu schießen, wie es türkische und griechische Grenzschutzbehörden tun. Nichtsdestotrotz dienen viele der Elemente, die in den Lagern Griechenlands erprobt wurden, als Grundlage für die Reformierung des deutschen Asylsystems. Die Umsetzung der GEAS-Reform stellt dabei den größten Einschnitt in das deutsche Asylrecht seit Jahrzehnten dar und wird es fundamental auf den Kopf stellen.
Zwar muss GEAS erst bis 2026 in nationales Recht umgesetzt werden, die Bundesregierung hat aber bereits am 6. November 2024 einen Gesetzesentwurf beschlossen, der aktuell noch durch das Parlament muss. Ohne Not hat sich die Ampel-Regierung für eine besonders scharfe Auslegung des Gesetzestexts entschieden. Die gebrochene Koalition forciert die Instrumentarien Haft und Freiheitsbeschränkung für Personen im Grenzverfahren, das nun nicht mehr ausschließlich an den Rändern Europas, sondern im Herzen der EU angewandt wird. Die Grenze wandert ins Innere. Nun dürfen auch Kinder inhaftiert werden – wie in Moria. Betreffen wird dies vor allem Menschen aus sogenannten „sicheren Herkunftsstaaten“ und „sicheren Drittstaaten“ – das Instrument, das auch die Grenzverfahren im Lager Moria und seinen Folgelagern bestimmte. Bei Herkunft aus einem Land, dessen Asylanerkennungsrate bei unter 20 Prozent liegt, wird davon ausgegangen, dass der Antrag unbegründet sei. Wenn die betreffende Person über einen vermeintlich „sicheren Drittstaat“ eingereist ist, erklärt sich die EU für nicht zuständig und kann die Abschiebung veranlassen.
Katalysator des Rechtsrucks
Eines der großen Probleme der Reform: Die Umsetzung von GEAS erlaubt es rechten Kräften in ganz Europa, ihre menschenverachtenden Positionen zumindest teilweise in gültiges Recht zu gießen. Auch der deutsche Entwurf ist ein gefährliches Instrument zur Aushöhlung der Grundrechte von Menschen ohne deutschen Pass. Doch damit nicht genug: Den Rechten gehen die Möglichkeiten der GEAS-Reform immer noch nicht weit genug. So werden schon jetzt immer wieder rechtswidrige Versuche unternommen, Menschen auszuschiffen und einzusperren. Wenn Gerichte dies verhindern, werden sie zu Feinden erklärt, was sich besonders im Fall von Italiens ex-territorialen Lagern in Albanien zeigt. Noch halten die italienischen Gerichte, die die geplante Praxis für rechtswidrig erklärt haben, stand. Aber wie lange?
Auch Polens Versuche, das Grundrecht auf Asyl vollständig auszuhebeln, weisen in eine düstere Zukunft. Ebenso die Vorstöße von CDU-Politiker:innen, das allgemeine Asylrecht abschaffen zu wollen. Sie normalisieren einen Zustand, in dem der Rechtsstaat und internationale Verträge nur noch als notwendiges Übel gelten. In den USA unter Donald Trump mag dieser Prozess schneller gehen, doch auch Europa ist davor nicht geschützt.
Der Migrationsdiskurs fungiert als Katalysator des Rechtsrucks. „Mit den Flüchtlingen kann man’s ja machen“, denken wohl manche. Doch der Abbau von Grundrechten wird nicht auf einzelne Gruppen beschränkt bleiben. Er führt zu einer generellen Infragestellung der Menschenrechte. Gewalt geht weder an den Täter:innen noch an der schweigenden Zeug:innenschaft vorbei – sie führt zur Verrohung der Gesellschaft und gefährdet deren demokratische Verfasstheit. Vielleicht ist auch genau das das Ziel.