Migration

Jagd auf Geflüchtete

In der iranisch-türkischen Grenzregion herrschen Entrechtung und Gewalt. Ein Gespräch mit Hayrettin Alan und Samed Aydeniz

medico: Durch die Stadt Van im Osten der Türkei verläuft eine zentrale Fluchtroute für Menschen aus Afghanistan und Pakistan. Besonders in den letzten Jahren kommen aber auch viele Iraner:innen über die nahe gelegene Grenze. Ihr kümmert euch um benachteiligte Menschen in der Stadt und unterstützt Geflüchtete. Wie ist ihre Situation?

Hayrettin (H): Van ist seit mehr als drei Jahrzehnten ein neuralgischer Punkt für Flüchtende im Nahen Osten. Bewaffnete Auseinandersetzungen und Armut zwingen die Menschen aus den angrenzenden Ländern, aber auch innerhalb der Türkei, seit Jahren systematisch zur Flucht. Derzeit befinden sich etwa 3.000 registrierte Geflüchtete in Van, die Dunkelziffer ist jedoch deutlich höher. Wie viele Menschen es genau sind, ist kaum zu sagen. Das liegt auch daran, dass es seit einigen Jahren eine sehr restriktive Abschiebepolitik in der Türkei gibt, buchstäblich eine Jagd auf Geflüchtete stattfindet. Viele werden nicht einmal registriert. Vor drei Jahren war die Situation in Van noch anders. Geflüchtete hielten sich relativ unbehelligt auf öffentlichen Plätzen, in Parks und am Busbahnhof auf. Manche brachen in Konvois Richtung Westen auf, andere zu Fuß. Die Stadt Van war ein Durchgangsort. Das ist nun nicht mehr so.

Samed (S): Heute befinden sich viele Arbeitsmigrant:innen aus Afghanistan in Van. Manche von ihnen lebten zuvor im Iran und haben ihre Situation dort nicht mehr ausgehalten. Hinzu kommen seit der Machtübernahme der Taliban Frauen und Kinder, die vor dem brutalen Regime fliehen. Ihre Situation ist besonders prekär, sie sind meist auf sich allein gestellt. Manche politische Geflüchtete aus dem Iran hingegen werden von ihren Familien und Freund:innen besucht und unterstützt. Allerdings fürchten sie den iranischen Geheimdienst, der hier sehr aktiv ist. Er entführt sogar manchmal Oppositionelle zurück über die Grenze, teilweise in Zusammenarbeit mit türkischen Beamten. Hinzu kommt, dass Van eine der ärmsten Regionen der Türkei ist. Es herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit. Das macht es Geflüchteten besonders schwer, über die Runden zu kommen.

Mit Geldern der EU werden sogenannte Rückführungszentren aufgebaut, in denen Geflüchtete vor der Abschiebung festgehalten werden. Auch in Van steht eines, dort sind Hunderte Menschen untergebracht. Wie ist ihre Lage?

H: Maßnahmen gegen Geflüchtete sind zur Routine geworden und werden in den großen Medien inszeniert. Es gibt keinerlei Rechtssicherheit für sie. Der EU-Türkei-Deal hat dazu beigetragen. Seit dem Abkommen haben Abschiebungen auch hier in Van systematisch zugenommen. Im Stadtzentrum führen Beamte regelmäßig Identitätskontrollen bei Menschen durch, die sie für Geflüchtete halten. Wenn wir das kritisch hinterfragen, sagen sie uns, sie müssten die Sicherheit in der Stadt gewährleisten. Insgesamt gibt es wenig Transparenz über den staatlichen Umgang mit Geflüchteten. Wir erhalten kaum verlässliche Informationen zu Abschiebungen. Zu den von der EU mitfinanzierten Abschiebeeinrichtungen haben Anwält:innen und Menschenrechtsaktivist:innen quasi keinen Zutritt. Uns erreichen immer wieder Berichte, dass es dort zu Vergewaltigungen und anderen Formen der Gewalt kommt. Offizielle Abschiebungen in den Iran haben wir in der letzten Zeit aber nicht beobachtet.

Ebenfalls mit EU-Unterstützung hat die Türkei eine über 1.000 Kilometer lange Mauer mit 341 Wachtürmen an der Grenze zum Iran errichtet, auch um Geflüchtete abzuwehren. Immer wieder wird von Erschießungen, Todesfällen und schweren Verletzungen im Grenzgebiet berichtet. Was erzählen euch Menschen, die diese Grenze überquert haben?

H: Seitdem es die Mauer gibt, ist die Flucht nach Van schwieriger und gewaltvoller geworden. Eine Frau erzählte mir erst kürzlich, wie sie beim Grenzübertritt vergewaltigt und geschlagen wurde und dabei eine Fehlgeburt erlitten hat. Ihr Mann und sie wurden gefoltert. So etwas passiert an der Grenze systematisch. Wir erfahren von Erfrierungen, von Paaren, die ihre Kleinkinder beerdigen müssen, von Menschen, die von Sicherheitskräften aus beiden Ländern getötet werden, von Gewalt durch Schmuggler. Es gibt zudem kriminelle Banden, die Netzwerke von Afghanistan bis Deutschland haben und aus der Not der Flüchtenden Profit schlagen. Sie zwängen über 50 Menschen in einen Kleinbus und versuchen, auf Schleichwegen die Grenze zu passieren, ohne entdeckt zu werden. Dabei ereignen sich oft tödliche Unfälle. Immer wieder werden Busse vom Grenzschutz beschossen. Auf dem Van-See gab es in den letzten Jahren zwei Bootsunglücke mit fast 70 toten Geflüchteten. Seit 2019 haben Hunderte Menschen auf dem Weg nach Van ihr Leben verloren.

Was tut ihr unter solchen Bedingungen?

H: Es gibt in der Türkei keine offiziellen Hilfsangebote für afghanische und iranische Geflüchtete. Sie leben oft in schrecklicher Armut, niemand kümmert sich um ihre körperlichen und psychologischen Probleme. Hier in Van suchen wir den Kontakt zu ihnen. In unserem Vereinshaus treffen sich regelmäßig afghanische Frauen. Wir organisieren gemeinsame Essen und Ausflüge. Wir unterstützen Familien, die Angehörige oder ihre Kinder auf der Flucht verloren haben. Wir versuchen, dabei zu helfen, Leichen zu finden und zu identifizieren, denn oft werden sie anonym auf dem Friedhof begraben.

S: Migration ist für viele eine Reise in den Tod. Wir sind mit einer Familie in Kontakt, deren Kind beim Überqueren der Grenze gestorben ist. Sie waren gezwungen, es im Schnee zu begraben. Dabei sind die Finger der Eltern erfroren und später abgefallen. Die Tragödien gehen über den Tod hinaus. Wenn man es über die Grenze schafft, liegt das Leben oft in Trümmern. Die Menschen wissen von diesen Risiken und machen sich trotzdem auf den Weg. Wir haben einen afghanischen Jungen kennengelernt, der sehr gut Türkisch sprach. Als wir ihn fragten, wo er die Sprache so gut gelernt habe, sagte er: „Während der Folter auf den Polizeistationen an der Grenze.“

Bei den Kommunalwahlen Ende März hat die linke DEM-Partei alle 14 Bezirke der Provinz Van gewonnen. Als der Staat ihre gewählten Ko-Bürgermeister:innen nicht ernennen und den Kandidaten der AKP einsetzen wollte, kam es zu massiven Protesten in der Stadt. Wie habt ihr diese erlebt?

H: Es gab in Van immer wieder Aufstände und Straßenproteste, um politische Forderungen durchzusetzen oder zu unterstützen – etwa während des Widerstands von Kobanê gegen den IS. 2016 wurde dann der Ausnahmezustand ausgerufen und in Van am härtesten durchgesetzt. Die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit blieb über Jahre eingeschränkt. Von 2016 bis zu den diesjährigen Kommunalwahlen am 31. März wurden unsere Ko-Bürgermeister:innen immer wieder abgesetzt und durch staatliche Zwangsverwalter ersetzt. Es gab reihenweise Festnahmen, gewählten Abgeordneten wurde ihr Mandat entzogen, Vereine wurden verboten. Es kam zu schweren Menschenrechtsverletzungen, Menschen wurden sogar aus fliegenden Militärhubschraubern geworfen.

S: Ich war 2019 in Ipekyolu, einem Ort im Umland von Van, Ratsmitglied für die linke HDP. Als der Bürgermeister von Van abgesetzt und durch einen Zwangsverwalter aus Ankara ersetzt wurde, haben wir demonstriert. Wir wurden festgenommen und misshandelt. 2024 hat sich die Bevölkerung nicht einschüchtern lassen. Die Menschen wollten eine neuerliche Zwangsverwaltung auf keinen Fall akzeptieren. Sie haben ihre Grundrechte verteidigt. Der Widerstand gegen die Nichternennung der gewählten Bürgermeister:innen hat eineinhalb Tage gedauert. Es gab Hunderte Verhaftungen, sehr viele Menschen wurden schwer verletzt. Aber die Wut war groß. Menschen jeden Alters und mit unterschiedlichen politischen Ansichten waren gemeinsam auf der Straße. Als dann die Nachricht kam, dass die gewählten Ko-Bürgermeister:innen Abdullah Zeydan und Neslihan Sedal doch ihre Ernennungsurkunden erhalten würden, wurde das groß gefeiert.

Wird die neue Stadtregierung solidarischer sein mit den Geflüchteten?

H: Schon vor der Zeit der Zwangsverwalter wurden den Bürgermeister:innen ständig Steine in den Weg gelegt. Jetzt müssen sie ihre eigene, kurdische Kommunalpolitik neu aufsetzen. Ich bin mir nicht sicher, ob bei den vielen Problemen der Stadt die Situation der Geflüchteten Priorität hat. Aber ich hoffe, dass Vereinen wie uns die Türen zum Rathaus nun offen stehen und wir mit der neuen Stadtverwaltung besser zusammenarbeiten können. Anders als im Westen der Türkei ist der Rassismus gegen Geflüchtete hier nicht so stark verbreitet. Das lässt mich ein wenig hoffnungsvoller in die Zukunft blicken.

Das Interview führte Kerem Schamberger.

medico arbeitet seit dem vergangenen Jahr mit dem Verein Ortakça in Van zusammen. Die Aktivist:innen setzen sich für die Rechte von Geflüchteten ein und bieten Raum für Austausch und Gemeinschaftserlebnisse. Außerdem unterstützen sie mit Beratungsangeboten und sozialpsychologischer Hilfe.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 28. Mai 2024

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