Afghanistan

Im Stich gelassen

18.02.2025   Lesezeit: 9 min

Wie das Bundesaufnahmeprogramm für besonders gefährdete Afghan:innen zum Lehrstück bürokratischer Unmenschlichkeit wurde.

Von Vincent op ‘t Roodt

Während das Thema Migration und ihre Abwehr den Bundestagswahlkampf dominiert, gerät das Schicksal der Afghan:innen, die die Bundesregierung seit dem katastrophalen Abzug der NATO im August 2021 zurückgelassen hat, in Vergessenheit. Der Kollaps der Ampelkoalition im Herbst letzten Jahres besiegelte nebenbei das vorzeitige Ende des Bundesaufnahmeprogramms für Afghanistan (BAP).

Mit dem BAP wollte die Bundesregierung gefährdeten Afghan:innen „ein Stück Hoffnung zurückgeben und die Chance auf ein Leben in Freiheit, Selbstbestimmung und Sicherheit“ in Deutschland bieten, so Außenministerin Baerbock bei der Ankündigung des Programms im Oktober 2022. Bis zu 1.000 Personen pro Monat sollten eine Aufnahmezusage erhalten. Doch das BAP blieb von Beginn an weit hinter diesen Versprechungen zurück: Nach 28 Monaten sind bisher statt 28.000 nur 1.172 Menschen über das BAP nach Deutschland eingereist.

Knapp 3.000 Afghan:innen warten zurzeit im pakistanischen Islamabad auf ihr Visum für die Einreise nach Deutschland. Sie haben bereits eine Aufnahmezusage, doch jetzt droht ihr Schicksal dem Rechtsruck in Deutschland zum Opfer zu fallen. Ein weiterer Charterflug von Islamabad nach Deutschland ist für kurz nach der Wahl angesetzt. Was danach passiert ist zwar formal offen, doch eine absehbar CDU-geführte neue Regierung lässt das Schlimmste erahnen: Im "Kanzler-Quadrell" am 16. Februar forderte CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz den sofortigen Aufnahmestopp aller Afghan:innen.

Beschämende Bilanz

Das aufwendig inszenierte Spektakel des humanitären Mitgefühls ist mit der beschämenden Bilanz des BAP vollends gescheitert. Den Preis zahlen akut bedrohte Afghan:innen, die gefährdeter als zuvor zurückgelassen werden. Sie bezahlen im schlimmsten Fall mit ihrem Leben. So wird das Scheitern des BAP zu einer stillen Fortsetzung der dramatischen Szenen am Flughafen von Kabul im August 2021, die das „strategische Scheitern“ der zwanzigjährigen NATO-Intervention, wie es im Abschlussbericht der Enquete-Kommission zum Afghanistan-Einsatz heißt, versinnbildlichten.

Schon im letzten Frühsommer hatte die Bundesregierung die Verfahren zur Auswahl von akut bedrohten Afghan:innen ausgesetzt. Angesichts der geplanten Kürzungen im Haushalt 2025 für das BAP sei dies – so eine Sprecherin des BMI in der Videoschalte mit beteiligten NGOs – eine „verantwortungsbewusste Lösung“, schließlich wolle man den Schutzsuchenden keine „falschen Hoffnungen“ machen.

Zu spät, denn zehntausende gefährdete Personen, deren Fälle für das BAP aufbereitet wurden und die sich noch mitten in den Prüfverfahren befanden, hatten bereits längst ihre letzte Hoffnung in die Versprechen der Bundesregierung gelegt: Menschen- und Frauenrechtsverteidiger:innen, Jurist:innen, Journalist:innen, Angehörige der LGBTQAI+-community, die der systematischen Gewalt und hemmungslosen Verfolgung durch das Taliban-Regime ausgesetzt sind. Darunter sind ungefähr 17.000 Personen, über deren Fälle das BAMF noch keine Entscheidung getroffen hatte, sowie knapp 45.000 Hauptpersonen und ihre Familien, deren Fälle noch von der Koordinierungsstelle geprüft wurden. Nicht selten haben sie ihre letzten Besitztümer, die ihr Überleben im Versteck sichern sollten, verausgabt, um Geld für benötigte Dokumente wie Pässe oder Visa zu beschaffen.

Monatelang warteten die Menschen auf eine Entscheidung der zuständigen Behörden über ihre Fälle, die aufgrund der langwierigen Prüfverfahren verzögert wurde. Monatelang wurden sie im Unklaren gehalten, bis schließlich eine beiläufige Mail an die Meldestellen im November die Hiobsbotschaft amtlich machte: Die Bundesregierung hat die Erteilung von Aufnahmezusagen durch das BAMF vorzeitig ausgesetzt und sich somit ihrer Verantwortung ein für alle Mal entledigt.

Abschiebungen aus Pakistan

Knapp 3.000 Personen, die eine Aufnahmezusage durch das BAMF erhalten hatten, warten derweil seit etlichen Monaten in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad auf ein deutsches Visum. Dort werden sie fragwürdigen Sicherheitsinterviews durch deutsche Geheimdienste unterzogen, in denen sie wie Kriminelle behandelt und teils mit unangemessenen Fragen („Würden Sie ihre Tochter am Schwimmunterricht teilnehmen lassen?“) stundenlang verhört werden. Vermehrt werden Aufnahmezusagen wegen vermeintlicher ‚Sicherheitsbedenken‘ ohne konkrete Begründung wieder entzogen. Besonders häufig sind davon Jurist:innen betroffen, denen ihr Studium zum Verhängnis wird, in dem Scharia-Recht als Grundlage des afghanischen Familienrechts verpflichtender Teil war. Die rassistische Panikmache vor der Einreise von sogenannten „Scharia-Richtern“, die von einem Hetzartikel der rechten Zeitung Cicero im März 2023 geschürt wurde, findet ihre gehorsame Umsetzung in der willkürlichen Praxis deutscher Behörden.

Doch die Repression gegen afghanische Geflüchtete nimmt auch von Seiten der pakistanischen Regierung zu. Während seit der Abschiebeoffensive im Herbst 2023 bereits 800.000 Afghan:innen zwangsweise nach Afghanistan zurückkehrten, spielen sich seit Anfang 2025 dramatische Szenen in Islamabad und dem benachbarten Rawalpindi ab, die an ethnische Säuberungen erinnern.

Seit Neujahr durchkämmt die pakistanische Polizei systematisch Stadtviertel und Häuser nach Afghan:innen ohne gültige Visa, nimmt sie fest und schiebt sie ab. Allein in der ersten Januarwoche wurden 800 Menschen nach Afghanistan abgeschoben. Dabei führt die Polizei auch gezielt Razzien in Gästehäusern der deutschen GIZ durch, in denen Afghan:innen mit Aufnahmezusagen für Deutschland untergebracht sind. Unter den Abgeschobenen waren auch sechs Personen, die auf eine Aufnahme in Deutschland über das BAP warten. Die schriftliche Aufnahmezusicherung der Bundesregierung schützte sie nicht. Immerhin befinden sie sich durch den Einsatz der deutschen Botschaft nun wieder in Islamabad.

Ende Januar ordnete die pakistanischen Regierung an, Afghan:innen in Islamabad und Rawalpindi ohne gültiges Visum sofort und solche, die sich im Aufnahmeverfahren befinden, bis 31. März 2025 nach Afghanistan abzuschieben, sollten sie bis dahin nicht ausgereist sein. Doch die Bundesregierung gab kürzlich in einer E-Mail bekannt, „dass ein Abschluss der Ausreisen […] bis Ende März nicht möglich sein wird“. Eine Deadline im wahrsten Sinne des Wortes.

Durch die restriktiven Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen in Pakistan werden Afghan:innen systematisch in die Illegalität gedrängt. Diese Situation wird durch die langen Wartezeiten im BAP verschärft, denn die Visa der meisten Afghan:innen sind mittlerweile abgelaufen. Die Bearbeitung von Anträgen zur Visumsverlängerung durch die pakistanischen Behörden dauert oft Monate und häufig werden sie abgelehnt. Zudem wurden die Kosten bis ins Unbezahlbare erhöht – eine fünfköpfige Familie muss für die Verlängerung ihrer Visa ca. 500 Euro zahlen. Außerdem wurde die Gültigkeit der Visa auf gerade mal 30 Tage verkürzt.

Doch selbst wenn die Auflagen erfüllt werden, ist man vor der Willkür der pakistanischen Sicherheitskräfte nie wirklich sicher. Den Afghan:innen mit deutscher Aufnahmezusage bleibt nichts anderes, als sich in schierer Panik in den Zimmern der Gästehäuser der GIZ zu verstecken. Die Afghan:innen in Pakistan sind in einer verhängnisvollen Ausweglosigkeit gefangen: Der pakistanische Staat will sie raushaben, der deutsche Staat will sie nicht reinhaben.

Die Perspektivlosigkeit treibt die Menschen an den Rand des psychischen Zusammenbruchs. Weder die gebetsmühlenartige Wiederholung von leeren Floskeln der Besorgnis und Bemühung der Bundesregierung, noch die Beruhigungstabletten, die von den von der GIZ beauftragten Kliniken gegen die psychischen Folgen des Verfahrens wie Panikattacken, Stress und Angstzuständen verschrieben werden, helfen ihnen. „Wir haben schreckliche Angst“, sagt eine afghanische Menschenrechtsaktivistin, die mit ihren Kindern seit über 14 Monaten in Islamabad auf ihr deutsches Visum warten. „Der Stress, die Ungewissheit und die Gefahr der Abschiebung, wir halten das einfach nicht mehr aus.“

An die Bundesregierung gerichtet sagt sie: „Wir hoffen dringend, dass dieser Prozess beschleunigt und unkomplizierter wird, denn hinter jedem Antrag steckt eine Familie, ein Leben,  eine Zukunft, die auf dem Spiel steht. Ich wünsche mir, dass das Aufnahmeverfahren beschleunigt wird, damit wir endlich in Sicherheit kommen. Eine Rückkehr nach Afghanistan ist für uns unmöglich – es wäre das Ende unseres Lebens.“ Jeder weitere Tag, den die Bundesregierung ihre und die Einreise tausender weiterer nach Deutschland verwehrt, verschärft ihre Lage. Das einzige, was hilft, wäre die sofortige Bereitstellung von Flügen nach Deutschland.

Wie konnte es soweit kommen?

Schon im Sommer 2021, als die Taliban Provinz um Provinz eroberten und schließlich Kabul einnahmen, zeichnete sich ab, dass es für die afghanische Zivilgesellschaft kein Entkommen geben würde. In Deutschland standen die politischen Vorzeichen auf Migrationsabwehr: Die geschürte Panik vor einer drohenden „zweiten Flüchtlingskrise“ aus einem Land mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung wurde im Bundestagswahlkampf instrumentalisiert und der Satz „2015 darf sich nicht wiederholen“ zum Mantra für eine noch restriktivere Grenzpolitik. Die existenzielle Bedrohung der afghanischen Zivilbevölkerung durch die Taliban als Konsequenz der gescheiterten Militärintervention des Westens wurde im deutschen Diskurs zur vermeintlichen Gefahr für Sicherheit und Ordnung durch „unkontrollierte Migration“ umgedeutet – und auf diese Weise der Weg geebnet für die Verlagerung der Verantwortung, die Verdrängung der Folgen und das Vergessen der Betroffenen.

Unterdessen forderten führende Politiker:innen, die Millionen geflüchteter Afghan:innen in den Nachbarstaaten Iran und Pakistan unterzubringen, während sich diese ihrerseits gegenüber den Fliehenden abzuschotten begannen. Doch auch in Iran oder Pakistan, die jeweils eine jahrzentelange Geschichte als Zufluchtsorte von Afghan:innen haben, gibt es für afghanische Geflüchtete keinen Schutz und keine Perspektive. Den Großteil der Geflohenen erwartet ein Leben in Prekarität, Überausbeutung und Illegalisierung, geprägt von der ständigen Bedrohung durch willkürliche Festnahme und Abschiebung.

Viele nehmen daher eine potenziell tödliche Weiterflucht nach Europa in Kauf. Der Weg führt über die Türkei, die von der EU im Zuge des sogenannten „EU-Türkei-Deals“ zum Bollwerk der Fluchtabwehr abgerichtet wurde. In den über 30 EU-teilfinanzierten Lagern der Türkei wurden allein 2022 über 60.000 Afghan:innen inhaftiert und viele zurück nach Afghanistan abgeschoben – oftmals in direkter Koordination mit Taliban-Funktionären, die eigene Büros in den Abschiebelagern haben.

In Berlin war man sich derweil einig: Einen „regulären“ Zugang zu Schutz darf es nur für ausgewählte Personen geben. Statt breit angelegter, sicherer Fluchtwege für alle, die vor der Unterdrückung der Taliban fliehen müssen, entschied man sich für die Etablierung eines Aufnahmeprogramms zur freiwilligen Kontingentaufnahme von ‚besonders gefährdeten‘ Personen. Im Irrglauben an die Möglichkeit der „Steuerbarkeit“ von Fluchtmigration setzte man mit dem BAP auf höchst selektive Aufnahmekriterien, langwierige und intransparente Prüfverfahren und ein schier unüberwindbares Netz aus bürokratischen Anforderungen.

Wer „schutzwürdig“ ist und wer nicht, wer zu den glücklichen wenigen Aufgenommenen gehört und wem der Zugang zu Schutz verwehrt wird – das entscheidet am Ende nicht der rechtliche Schutzanspruch, sondern der deutsche Staat. Jenseits von jeglicher Verankerung in internationalem Recht wurde die Schutzgewährung durch das BAP zu einem humanitären Gnadenakt nach Gutdünken des Bundesinnenministeriums. Insofern ist das beiläufige Ende des Programms nur konsequent, es war nie dazu gedacht, bedrohten Afghan:innen wirklich zu helfen.

Vincent op ‘t Roodt ist bei medico international für das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan zuständig.


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