Europas Grenzkontrollpolitik im südlichen Mittelmeer und die Migrationsabwehr in Nordafrika machen regelmäßig Schlagzeilen: Von Polizeigewalt an den Grenzzäunen Melillas und Ceutas über die systematische Folter von Geflüchteten in libyschen Hafteinrichtungen bis hin zu Ägyptens illegalen Abschiebepraktiken gegen sudanesische und eritreische Geflüchtete. Auch der 2023 ins offen feindselige umgeschlagene Umgang Tunesiens mit Flüchtenden löst immer wieder ein teils lautstarkes Echo in der afrikanischen und europäischen Öffentlichkeit aus. In Algerien hingegen findet die seit 2022 vorangetriebene Verschärfung von Repressalien gegen diese Personengruppe praktisch im Verborgenen statt.
Dieser mediale und zivilgesellschaftliche Blackout hat vielerlei Gründe. Seit dem Scheitern der Protestbewegung „Hirak“ (Arabisch für „Bewegung“) im Jahr 2020 geht das wieder fest im Sattel sitzende Regime entschieden gegen jedwede Form von Opposition und Dissens vor. Zivilgesellschaft, aktivistische Netzwerke und kritische Presse werden an ihrer Arbeit gehindert, eingeschüchtert oder verfolgt. Jene in Algerien arbeitenden NGOs, die vor dem Hirak Nothilfe für Geflüchtete geleistet oder Menschenrechtsverletzungen öffentlich gemacht haben, sind fast vollständig von den Behörden geschlossen oder ins Ausland gedrängt worden. Doch die europäische Aktivismus- und Menschenrechtsszene bleibt derweil auf Tunesien fixiert. Tunesische Netzwerke, die angesichts der Visafreiheit zwischen beiden Ländern durchaus Zugang nach Algerien hätten, sind seit 2023 mit den Repressalien im eigenen Land beschäftigt, hatten sich aber schon zuvor nur selten mit der Lage in Algerien auseinandergesetzt.
Dabei sind die migrationspolitischen Veränderungen in Algerien substantiell und dürften langfristige Folgen für die gesamte Region haben. Das heute von Präsident Abdelmajid Tebboune und Armeechef Saïd Chengriha gelenkte Regime hatte schon 2021 damit begonnen, zwecks Restaurierung der staatlichen Autorität an den Küsten Orans oder Annabas konsequenter gegen algerische „Harraga“ – so der Begriff für jene, die Grenzen nicht respektieren, sondern „verbrennen“ – vorzugehen. Auf die sich seit 2023 veränderte Migrationsdynamik in der Region reagiert Algeriens Regierung mit dem massiven Ausbau seines Grenzregimes.
Neuer Status quo in Tunis
Jahrelang konnte Algerien dem europäischen Druck aus dem Weg gehen, mehr Kontrolle auszuüben, legten doch fast ausschließlich Algerier:innen von den Küsten des Landes in Richtung Europa ab. Die Strafverfolgung bei der seit 2008 kriminalisierten irregulären Ein- und Ausreise erlaubte es Algier, Migrationsbewegungen schlicht umzuleiten. Während auf See abgefangene algerische „Harraga“ meist mit Geldstrafen davonkamen, gingen die Behörden rigoros gegen jene Gruppen vor, in deren Reihen Menschen nicht-algerischer Herkunft aufgegriffen wurden. Flüchtende aus afrikanischen oder arabischen Staaten waren daher gezwungen, nach Tunesien oder Libyen auszuweichen. Der algerische Staat toleriert irreguläre Grenzübertritte nach Tunesien, verhinderte er damit schließlich, dass die eigene Küste zum Abfahrtsort für nicht-algerische Flüchtende mutierte – bis 2023.
Nach einer mit rechtsextremer Rhetorik durchtränkten Rede von Tunesiens Präsident Kaïs Saïed hatten tunesische Behörden in jenem Jahr auch auf Druck Italiens und der EU begonnen, Geflüchtete an der Überfahrt nach Italien zu hindern, zu verhaften und an den Landgrenzen zu den Nachbarländern Libyen und Algerien in der Wüste auszusetzen. Algerische Behörden waren plötzlich mit Tausenden aus Tunesien abgeschobenen Menschen konfrontiert und führen seither immer wieder Pushbacks an der gemeinsamen Grenze durch. Nach Angaben der Weltorganisation gegen Folter (OMCT) schob Tunesien allein 2024 mehr als 9000 Menschen ins tunesisch-algerische Grenzgebiet ab.
Angesichts der partiellen Schließung der Tunesien-Route haben sich nun auch die Migrationsdynamiken in Algerien verändert. Inzwischen legen regelmäßig Boote mit Menschen aus Somalia, Sudan oder Marokko von der algerischen Küste ab. Auch diese sind zunehmend auf Schleuser:innen angewiesen. Schon 2021 hatte Algerien den Kauf von Booten und Motoren an die Vorlage von Fischereilizenzen gekoppelt und damit der zuvor vorherrschenden selbstorganisierten algerischen Harga (Migration) einen Riegel vorgeschoben. Stärkere Polizeikontrollen an den Küsten Annabas und Orans, die am nächsten an Europa liegenden Städten Algeriens, lassen inzwischen die Harga in zentralalgerischen Provinzen wie Tipaza oder Boumerdès florieren. So registrierten spanische Behörden letztes Jahr eine Verdreifachung der irregulären Ankünfte auf den Balearen im Vergleich zum Vorjahr: 5126 Menschen seien 2024 hier angekommen.
Regionale Allianzen gegen Geflüchtete
„Bis 2023 befanden sich auf den Booten, die von Algerien nach Spanien fuhren, meist bis zu 13 Personen. Seither überladen Schmuggler:innen die Boote oft mit bis zu 23 Personen. Das hat in den letzten Jahren zusätzlich zu mehr Schiffsunglücken geführt“, erklärt Maria Ángeles Colsa-Herrera, die Direktorin des Internationalen Zentrums für vermisste Migrant:innen (CIPIMD), einer spanischen NGO, die Schiffsunglücke dokumentiert und bei der Identifizierung verstorbener Geflüchteten hilft. Während Colsa-Herrera den Boom auf der Balearen-Route auch auf stärkere Patrouillen der spanischen Küstenwache nahe Málaga und Almería zurückführt, hängt der jüngste Anstieg der Schleuserei auch mit den von Algeriens Regime durchgedrückten Restriktionen für die algerische Harga zusammen.
Angesichts der Entwicklungen in Tunesien institutionalisieren und koordinieren nordafrikanische Regierung inzwischen vermehrt ihre Migrationsabwehr. Auf einem Gipfeltreffen in Tunis im April 2024 vereinbarten Algeriens Präsident Tebboune, Tunesiens Staatschef Saïed und der in Westlibyen regierende Mohamed Al-Menfi, ihre (Anti-)Migrationspolitik künftig stärker zu koordinieren. Nur wenige Wochen später trafen sich die Innenminister der drei Staaten in Rom mit ihrem italienischen Amtskollegen, ebenfalls mit dem Ziel, in Migrationsfragen verstärkt zusammenzuarbeiten.
Bisher galt Algerien in Sachen formeller Kooperation in der Migrationsabwehr mit der EU oder EU-Mitgliedstaaten als äußert zurückhaltend und hatte sich im Gegensatz zu seinen Nachbarländern fast konsequent von mit europäischen Geldern finanzierten Grenzabschottungsprojekten ferngehalten. Inzwischen hat das Regime aber eine vorsichtige Kehrtwende eingeleitet und erst im Januar 2025 eine Abmachung zu polizeilicher Ausbildungskooperation mit Italien unterzeichnet. Auch mit Deutschland hat Algier seine migrationspolitische Polizeikooperation ausgeweitet. Wie aus einer parlamentarischen Anfrage der Bundestagsabgeordneten der Partei Die Linke, Clara Bünger, hervorgeht, hat die Bundespolizei seit 2022 insgesamt zehn Ausbildungsmaßnahmen zugunsten der algerischen Grenzpolizei und der Generaldirektion für Nationale Sicherheit (DGSN) durchgeführt. Im Zentrum der Ausbildungshilfen: das Erkennen gefälschter Urkunden und Reisedokumente sowie Hilfen zur Erstellung eines Ausbildungsprogramms für bei Abschiebungen einzusetzende Begleitbeamt:innen. Diese Form der Polizeikooperation begann zwar bereits 2014, nahm aber offenbar erst 2022 deutlich an Fahrt auf.
Berlins zweifelhafter Beitrag zur Aufrüstung des algerischen Grenzregimes ist aber vor allem privatwirtschaftlicher Natur. Seit den 2010er Jahren sind mehrere deutsche Firmen an Montagefabriken für polizeiliche Ausrüstung und Militärgüter in Algerien beteiligt. Während Rheinmetall in Constantine Radpanzer montieren lässt, produziert eine Fabrik in Westalgerien optronische Geräte der Marke Hensoldt. Welche Produkte genau, darüber schweigen sich Bundesregierung und Hensoldt-Konzern allerdings aus. Aus drei Fabriken in Tiaret, Algier und Constantine laufen Daimler-Fahrzeuge vom Band. Algeriens Polizeiapparat ist weitläufig mit Kleintransportern oder geländefähigen Fahrzeugen von Mercedes-Benz ausgerüstet, die Armee mit modernen Daimler-LKW.
Geflüchtete im Visier
Während deutsche Ausbildungshilfen vor allem das Behindern der irregulären Flucht auf dem Luftweg zum Ziel haben, werden die in Algerien montierten Daimler-Fahrzeuge auch bei Razzien und Abschiebekampagnen gegen Geflüchtete eingesetzt. Bereits seit 2016 gehen die Behörden systematisch gegen im Land lebende Flüchtende vor. Nach regelmäßigen Verhaftungswellen in nordalgerischen Städten werden Menschen oft zu Hunderten mit Buskonvois in das rund 2000 Kilometer südlich von Algier liegende Tamanrasset gebracht, dort auf Militärlastwagen gepfercht und in ein Wüstengebiet an der Grenze zum Niger abgeschoben. Alleine 2024 seien 31.404 Menschen auf diesem Wege abgeschoben worden, so das Aktivistennetzwerk Alarme Phone Sahara, das die Abschiebungen dokumentiert und mit medico eng zusammenarbeitet. Auch nach Libyen schiebt Algerien inzwischen ab. Seit Anfang 2024 seien mindestens 1800 Menschen von libyschen Milizen an der algerischen Grenze abgefangen worden, heißt es seitens einer Quelle, die anonym bleiben will.
Im Landesinneren haben Polizei und Gendarmerie derweil ebenfalls ihre Kontrollen intensiviert. „Früher war es einfach für Migrant:innen innerhalb Algeriens zu reisen. Problemlos konnte man in Tamanrasset oder anderen Städten in der Sahara Bustickets oder Fahrkarten für Überlandtaxis kaufen und nach Algier fahren“, erzählt eine Geflüchtete in Tunis. „Seit 2016 die Razzien gegen uns begonnen haben, ist man mehr und mehr auf Schleuser:innen angewiesen, die die Hauptstraßen meiden, oder muss größere Strecken zu Fuß zurücklegen“, erklärt die Frau aus Kamerun. Auch gewaltsame Übergriffe gegen Flüchtende im Zuge von Verhaftungen und Abschiebungen gehen weiter. Zahlreiche Betroffene berichten vom systematischen Konfiszieren von Bargeld und Smartphones, erniedrigenden Durchsuchungen und sexuellen Übergriffen.
Noch während seiner kurzen Amtszeit als Premierminister im Jahr 2017 hatte Algeriens heutiger Präsident Tebboune angekündigt, den irregulär im Land lebenden Menschen eine Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis auszustellen. Doch die Ereignisse überschlugen sich. Eine Hetzkampagne gegen Geflüchtete in sozialen Netzwerken, Tebbounes Absetzung und rassistische Tiraden seines Nachfolgers Ahmed Ouyahia ebneten einer neuen Normalität den Weg. Seither zählen willkürliche Verhaftungen, Massenabschiebungen und die systematische Ausbeutung auf Baustellen oder in der Landwirtschaft zum Alltag von Geflüchteten in Algerien, einem Land, das auf dem afrikanischen Kontinent einst den Ruf genossen hatte, Europa die Stirn geboten zu haben. Heute jedoch imitiert es Europa und hat sich vom afrikanischen Kontinent abgewandt.
Die EU hat ihre südlichen Außengrenzen in die Sahelzone vorverlagert. medico-Kooperationen machen die Gewalt der Abschottung sichtbar und leisten solidarische Unterstützung auf den Flucht- und Migrationsrouten. Mit einer Spende unterstützen Sie die solidarischen Netzwerke auf den Fluchtrouten, direkte Hilfe in Notsituationen und Öffentlichkeitsarbeit von unten – hier wie dort.