Enquete-Bericht

Lehren aus Afghanistan?

18.03.2024   Lesezeit: 5 min

Die Enquetekommission des Bundestages hat ihren Zwischenbericht zum Kriegseinsatz der Bundeswehr vorgelegt. Ein Kommentar

Von Imad Mustafa

Die Bilder vom überstürzten Abzug der Besatzungstruppen aus Afghanistan im Jahr 2021 sind noch nicht verblasst: Menschen, die an den Toren des Kabuler Flughafens verzweifelt auf eine der wenigen Ausreisegenehmigungen warten, bewaffnete Taliban, die kontrollieren, wer zum Flughafen will und nicht zuletzt die schrecklichen Bilder derjenigen, die sich an startende Flugzeuge klammern und aus großer Höhe abstürzen.

Der Afghanistankrieg symbolisierte wie wenige andere Kriege unserer Zeit den neokolonialen Charakter des westlichen Anspruchs auf Dominanz und zugleich dessen Scheitern. In Anlehnung an die sogenannte Zivilisierungsmission, mit der die koloniale Eroberung der Welt begründet wurde, inszenierten sich die USA und ihre Verbündeten als Verteidiger von Freiheit, Frauenrechten und Demokratie, die die zivilisierte Welt gegen die „muslimischen Anderen“ verteidigen müsste.

Die Zustimmung zur deutschen Beteiligung an diesem Krieg verband der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder noch mit der Vertrauensfrage im Bundestag. Die Bundeswehr war in den folgenden Jahren aber nicht nur in den von der UNO legitimierten Kriegseinsatz in Afghanistan eingebunden, sondern auch am völkerrechtlich umstrittenen war on terror, den die USA nach den Anschlägen des 11. September ausriefen. Dass sich Deutschland knapp zwei Jahrzehnte lang am Krieg in Afghanistan beteiligen würde, war damals zwar noch nicht abzusehen. Es war indessen ein entscheidender Schritt in der Normalisierung deutscher Kriegseinsätze nach der Vereinigung mit der DDR.

Nun hat die 2022 eingesetzte Enquete-Kommission zur deutschen Beteiligung am Afghanistan-Krieg ihren Zwischenbericht „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ vorgelegt. Wenig überraschend reproduziert er einen Blick auf den Krieg, der schon in den letzten 20 Jahren in die Irre führte: Ein übermäßiger Fokus auf Sicherheitsaspekte sowie die Betonung eigener und die Vernachlässigung afghanischer Perspektiven und Interessen. Deutschlands Rolle als verlässlicher Bündnispartner und Truppensteller wird herausgestellt und seine Führungsqualitäten für künftige Kriegseinsätze betont. Auf eine etwas grundsätzlichere Kritik hätte man dennoch hoffen können.

Deutsches Doublespeak

Die bereits im Titel verwendete Formel vom „vernetzten Engagement“, auf die immer wieder rekurriert wird, stammt aus dem Instrumentenkasten eines sicherheitspolitischen Doublespeak, das Krieg zur Durchsetzung eigener Ziele als „Verzahnung militärischer, polizeilicher, diplomatischer, entwicklungspolitischer, humanitärer und ökonomischer Instrumente im Rahmen von […] Friedensmissionen“ verbrämt. Mit diesen Bildern sollen Kriegseinsätze in der Öffentlichkeit aufgewertet und legitimiert werden.

Lediglich auf der operativen Ebene zeigt sich die Kommission zum Teil sehr kritisch gegenüber Versäumnissen und Fehlern von Politik und Bundeswehr. Das zu Beginn des Krieges geflügelte Wort vom sogenannten state- und nation building – also dem Aufbau von funktionierenden staatlichen Institutionen, mit dem der Krieg gegen und die Besatzung Afghanistans gerechtfertigt wurden – sei als politische Strategie nicht erkennbar gewesen, so die Autor:innen des Berichts. Es habe unter anderem Versäumnisse in der Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Aussöhnung gegeben. 

Dass eine genuine Menschenrechtspolitik von Anfang an der Durchsetzung von Interessen und dem Primat der politischen Stabilisierung eines für die USA und ihren Verbündeten geopolitisch wichtigen Landes unterworfen wurde, scheint bei solchen Formulierungen zwar durch. Jedoch unterbleibt eine konsequente Verurteilung von Kriegsverbrechen und der Tötung Zehntausender afghanischer Zivilist:innen durch westliche Truppen. Nur am Rande referiert der Bericht etwa, dass die regelmäßigen nächtlichen Razzien als besonders demütigend empfunden wurden und dort die drittmeisten Opfer unter Zivilist:innen zu beklagen waren. Rechenschaftspflicht, juristische Aufarbeitung der Verantwortung der Besatzungstruppen? Die Gewährung von Recht und Gerechtigkeit sind leider noch allzu häufig abhängig von den Machtverhältnissen. So musste sich bis heute kein (ehemaliger) Regierungschef eines westlichen Landes vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) verantworten.

In dürren Worten konstatieren die Autor:innen des Berichts lediglich, dass der IStGH die Verfolgung der Verbrechen der Taliban sowie weiterer Gruppen „priorisiert“ und die Verfolgung von Drohnenangriffen auf Zivilist:innen etwa oder Folter seitens der Besatzungstruppen „zurückstellt“. Es ist genau diese Art der schulterzuckenden Indifferenz in der Verfolgung von Kriegsverbrechen und Völkerstraftaten westlicher Staaten, die das Ansehen internationaler Institutionen im Globalen Süden untergräbt und die westliche Politik sowie Menschenrechtsdiskurse als heuchlerisch und selbstgerecht entlarvt.

Dieser Eindruck verstärkt sich, betrachtet man die verheerenden Folgen des überstürzten Abzugs auf das soziale Gefüge und die Menschenrechtslage in Afghanistan. Auf einen Schlag wurden die wenigen Fortschritte etwa im Bereich der Schuldbildung für Mädchen, die während der Besatzung erreicht wurden, sehenden Auges zunichte gemacht und die afghanische Zivilgesellschaft der Herrschaft und Willkür der Taliban ausgeliefert. So haben die Taliban inzwischen ein Willkürregime errichtet, in dem Frauenrechte vollkommen außer Kraft gesetzt wurden.

Der Sonderberichterstatter für die Menschenrechtslage in Afghanistan berichtete dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen im Juni 2023, dass die systematische Diskriminierung von Frauen unter den Taliban in den Bereichen Bildung, sozialer und ökonomischer Gleichheit sowie Bewegungs-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit „eine institutionalisierte Form von Gender-Apartheid“ darstelle und geschlechtsspezifische Verfolgung an der Tagesordnung sei.

Keine Aufnahme von gefährdeten Afghan:innen in Deutschland

Trotzdem sieht es mit dem Schutz für verfolgte Afghan:innen in Deutschland schlecht aus. Die Rechte auf sichere Flucht und Ankunft, die über das im Oktober 2022 aufgelegte Bundesaufnahmeprogramm zumindest für besonders gefährdete Afghan: innen gewährt werden könnten, bleiben weiterhin leere Versprechen. Von 1000 möglichen Aufnahmen pro Monat sind bis Mitte März 2024 insgesamt nur 288 Personen tatsächlich nach Deutschland eingereist. Das sind gerade einmal 1,7 Prozent.

Aber im Zwischenbericht der Enquete-Kommission spielt das Bundesaufnahmeprogramm überhaupt keine Rolle. Es bleibt der Eindruck, dass Menschenrechtsschutz, wertegeleitete Außenpolitik und „vernetztes Engagement“ letztlich doch bloß diskursive Fassaden sind, hinter sich Selbstentlastung und doppelte Standards verbergen. Keine Übernahme von Verantwortung, keine Unteilbarkeit des Rechts. Will Deutschland anders wahrgenommen werden denn als Kriegspartei und Sachwalter hegemonialer Interessen, dann müssen die hohen moralischen Ansprüche, die die deutsche Außenpolitik für sich reklamiert, endlich für alle gelten und nicht nur für Manche.

Imad Mustafa (Foto:medico)

Imad Mustafa ist Referent für Menschenrechte bei medico. Außerdem ist der Politologe und Islamwissenschaftler für die Öffentlichkeitsarbeit zu Afghanistan sowie Nordafrika und Westasien zuständig.

Twitter: @imadmustafa_


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