Am 26. Dezember 2004 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 9,1 den Meeresboden vor der Küste Sumatras, Minuten später rollten gewaltige Wellen auf die angrenzenden Küsten zu. Betroffen waren Indonesien, Sri Lanka, Indien, Thailand, Bangladesch, Malaysia, die Malediven, Mayanmar und Singapur. 230.000 Menschen starben und über 1,7 Millionen Bewohner:innen der Küstenregionen wurden obdachlos.
Für das Hilfsverständnis von medico war die Situation nach dem Tsunami eine große Herausforderung und markierte gleichzeitig den Beginn der Arbeit in Südasien. Darüber sprachen wir mit Thomas Rudhof-Seibert, damals medico-Menschenrechtsreferent.
medico: Mit dem Einstieg in die Tsunami-Hilfe hat medico seinen Grundsatz über Bord geworfen, nur dort in der Nothilfe aktiv zu werden, wo bereits Kontakte und Zusammenarbeit bestehen. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Thomas Seibert: Eine humanitäre Katastrophe dieses Ausmaßes war für alle ein Schock. Auf einer unmittelbar einberufenen Krisensitzung ergab sich für uns zwingend die Notwendigkeit, zum Tsunami tätig zu werden. Gleichzeitig war uns schon in diesem Moment klar, dass die Hilfe mit riesigen Herausforderungen verbunden sein würde. Bei einer Naturkatastrophe dieser Dimension würden zwangsläufig sämtliche Probleme der Hilfe auf den Tisch kommen, von denen wir bereits seit Jahren gesprochen hatten. Es wäre eine umfassende, systematische Bewährungsprobe für alles, was richtig und was falsch läuft an der Hilfe.
Über das People's Health Movement haben wir Kontakte nach Bangladesch, Indien und Sri Lanka aufgebaut und uns relativ schnell dazu entschieden, den Fokus unserer Arbeit auf Sri Lanka zu legen, obwohl dort nicht das Epizentrum der Zerstörung lag. Vor dem Hintergrund des langjährigen Bürgerkriegs war die Hilfe dort mit vor die größten Herausforderungen gestellt. Das Land war faktisch seit Jahren gespalten, wobei die Nordhälfte unter Kontrolle einer Guerilla stand. Obwohl man die politischen Verhältnisse eigentlich nicht ignorieren konnte, haben die meisten Hilfsorganisationen in völliger Nichtachtung dieser gearbeitet. Wir haben genau das Gegenteil versucht.
Worin bestand die medico-Arbeit zum Tsunami konkret?
Im Wesentlichen hatte sie drei Teile. Von Beginn an haben wir mit einem indischen Journalisten den politischen Informationsdienst Tsunami Response Watch aufgebaut. Drei Jahre lang wurden dort das Ausmaß der Katastrophe, der Stand der Hilfe, die Probleme, die guten wie schlechten Lösungen dokumentiert. Das Portal richtete sich an internationale Journalist:innen, NGOs und politische Stellen und war weltweit abrufbar.
Daran anschließend haben wir ein Jahr nach dem Tsunami gemeinsam mit Brot für die Welt und der Heinrich-Böll-Stiftung eine Fact-Finding-Mission zur Reflexion der Hilfe durchgeführt. Wir wollten die aufgetauchten Probleme der Hilfe nicht einfach bei unserer persönlichen Erfahrung belassen, sondern gezielt erforschen. Zwei Forschungsteams aus sri-lankischen und internationalen Entwicklungs-Expert:innen sind parallel in den Norden und Süden des Landes gereist, haben alle Orte besucht und Interviews geführt. Die Ergebnisse wurden in einem mehrtägigen Diskussionsprozess zusammengetragen. Die daraus entstehende Broschüre wurde auch in Deutschland verteilt, zu einem erheblichen Teil aber in Sri Lanka selbst, um die Arbeit der Zivilgesellschaft dort zu unterstützen.
Selbstverständlich haben wir als medico auch konkrete Nothilfe und Wiederaufbau geleistet. In Bangladesch war das der Grundstein für unsere bis heute bestehende Kooperation mit der Gesundheitsorganisation Gonoshasthaya Kendra. In Sri Lanka wurde die Tsunami-Hilfe für uns zum Einstieg in eine mittlerweile über 20-jährige Menschenrechtsarbeit, in die Begleitung des Bürgerkriegs gegen die Tamil:innen und die Prozesse der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und transitional justice.
Ihr habt der Reflexion der geleisteten Hilfe viel Augenmerk gewidmet. Welche Beobachtungen habt ihr gemacht?
Die allermeisten der über 150 aktiv gewordenen internationalen NGOs hatten keine Ortskenntnis und haben ohne jeden partizipativen Prozess in einem imperialen Gestus Unmengen an Geld ausgeschüttet. Zwei Jahre später waren sie alle wieder wieder verschwunden. Ihre Arbeit hat unter völliger Nichtachtung der lokalen politischen Situation stattgefunden. Es gab vom sri-lankischen Staat eine Einrichtung, die den gesamten Tsunami-Wiederaufbau mit den NGOs koordinierte. Ihr Leiter war zuvor für die Privatisierung des öffentlichen Sektors zuständig gewesen. Er hat die Grundstruktur des Wiederaufbaus bestimmt und ihn von vornherein nach neoliberalen Kriterien organisiert. Sri Lanka war jahrzehntelang ein links-sozialdemokratisch regiertes Land mit einem starken öffentlichen Sektor und einem für südasiatische Verhältnisse sehr guten Gesundheits- und Bildungswesen. Schon vor dem Tsunami war dies durch neoliberale Reformen unter Druck, der Prozess wurde durch den Tsunami aber weiter vertieft. Durch die Art der Geldvergabe von Weltbank, IWF und die Asian Development Bank wurde diese Entwicklung von außen flankiert.
Der sri-lankische Staat konnte den Tsunami beispielsweise dafür nutzen, um sich die Kontrolle über die Küstengebiete anzueignen und diese zugunsten der Tourismusindustrie zu privatisieren. Es kam unter dem Vorwand der Einrichtung einer Sicherheitszone zur Vertreibung der armen und einfachen Fischerbevölkerung. Die Hilfsorganisationen haben das alles widerspruchslos als "natürliche" Verhältnisse ihrer Arbeitsbedingungen hingenommen.
Es gab aber auch andere Beispiel für scheiternde Hilfe: Internationale NGOs wollten ihre Arbeit besonders gut machen und warben mit dem doppelten Gehalt die besten Mitarbeiter:innen lokaler Organisationen ab, mit dem Ergebnis, dass diese zusammenbrachen.
Und medico hat das besser gemacht?
Das Problem für medico war, dass sich alle unsere Erwartungen erfüllt haben. Gleichzeitig fanden wir uns dann selbst vor der Herausforderung: wie kann man das besser machen? Wie hilft man 'gut'? Wir hatten das Glück, Partnerorganisationen zu finden, die dieselbe Idee von Hilfe hatten und für die auch klar war, dass Hilfe eine politische Arbeit ist. In Sri Lanka war das insbesondere die Arbeit von Social Economic & Environmental Developers [Seed].
Was uns zu ihnen geführt hat, ist aber unsere Herangehensweise: Welche Fragen wir uns gestellt haben und der grundsätzliche Ansatz unserer Partner-basierten Arbeit. Darin haben wir uns auch mit Brot für die Welt, misereor und der Kindernothilfe getroffen und festgestellt, dass wir ein ähnliches Verhältnis zu den Herausforderungen der Hilfe haben. Wir teilen die Haltung, dass Hilfe nicht neutral sein kann. Ohne die Unterstützung der Länderreferentin von Brot für die Welt oder die Kontakte zu den befreiungstheologisch inspirierten Bischöfen über misereor hätten auch wir so nicht arbeiten können.
Diese enge Zusammenarbeit hat später zur Gründung des Netzwerks Sri Lanka Advocacy mit geführt, mit dem wir lange Jahre bis hin zur Durchsetzung einer UN-Resolution die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen eingefordert haben. Eine andere Konsequenz aus der geteilten Erfahrung in der Tsunami-Hilfe war die Gründung des Bündnis Entwicklung Hilft. Die Idee gab es zwar schon vorher, die Tsunami-Hilfe war dann aber das erste praktische Betätigungsfeld, in dem sich gezeigt hat, ob wir auch tatsächlich miteinander kooperieren konnten.
Seit 2002 gab es in Sri Lanka einen fragilen Waffenstillstand zwischen zwei territorialen Kontrollmächten: die tamilische Guerilla im Norden und der singhalesische Staat im Süden. Wie hat die Hilfe auf und in diesem Konflikt gewirkt?
Es gibt eine singhalesisch-buddhistische Mehrheitsbevölkerung, die eine dominante Position im Staat hat und diese Position bis hin zu rassistischen Angriffen auch kollektiv verteidigt hat. 2005, noch im Jahr nach dem Tsunami wurde Mahinda Rajapaksa, ein anti-tamilischer Rassist zum Präsidenten gewählt. Er wollte den Krieg und hat ihn schließlich 2009 in eliminatorischer Form zu Ende geführt. Das kann man als Hilfsorganisation nicht nicht zur Kenntnis nehmen. In dem Sinne kann man nicht neutral sein. Das bedeutet nicht, dass man sich deswegen an die Seite der tamilischen Guerilla stellt, aber doch wenigstens, dass man die berechtigten Ansprüche der Tamil:innen auf Gleichberechtigung, Sicherheit und Selbstbestimmung anerkennen muss.
Der Umstand, dass die sri-lankische Regierung und die Guerilla anlässlich der Tsunami-Katastrophe gemeinsame Mechanismen zur Verteilung von Hilfe gegründet haben, war eine großartige Chance für einen Friedensprozess, weil die beiden Kräfte einander anerkennen mussten. Die Hilfsorganisationen hätten das stärken können. Stattdessen haben sie ihre Arbeit mehrheitlich auf den leichter zugänglichen Süden konzentriert, weil sie den Kontakt mit der Guerilla, ohne den eine Arbeit im Norden nicht möglich gewesen wäre, vermeiden wollten. Durch dieses Ungleichgewicht in der Aufwendung von Hilfe wurde der Grundkonflikt des Bürgerkriegs letztlich befeuert. Ob es ohne den Tsunami besser gekommen wäre, ist eine offene Frage. Aber der Tsunami hat das Zerbrechen des Waffenstillstands durch die strukturelle Benachteiligung der Tamilen in der Hilfe befördert.
Was bedeutete es noch, dass der Tsunami auf diese Bürgerkriegssituation traf?
Zum Zeitpunkt des Tsunamis gab es bereits um die 300.000 Kriegsvertriebene im Land. Die Tsunami-Vertriebenen wurden zum Teil in denselben Flüchtlingslagern untergebracht und blieben auch dort, weil der neuentbrannte Krieg ab 2005 eine Rückkehr in ihr altes Leben nicht zuließ. In den meisten Lagen entstand sofort ein Kampf um den Zugang zu Hilfsmitteln. Und da gab es dann Leute unter den Betroffenen, die sich auf Kosten anderer einen möglichst guten Zugriff verschafft haben. Auch das ist von Hilfsorganisationen ignoriert worden. Für die Herausbildung solcher Strukturen tragen zwar weder der Staat noch die NGOs eine Verantwortung, aber man muss das wenigstens zur Kenntnis nehmen und sich die Frage stellen, wie man damit umgeht. Die Hilfsorganisationen haben das aber weitestgehend ignoriert und faktisch mit den mafiotischen Strukturen zusammengearbeitet. Die Menschen wurden im Ergebnis auf die Rolle als vereinzelte Hilfsempfänger:innen reduziert.
Eine andere unmittelbare Konsequenz war, dass über zwei Millionen Minen, die durch die Wucht des Tsunamis ausgeschwemmt wurden, die Böden kontaminierten. Noch heute sind Minenräumkommandos mit deren Beseitigung beschäftigt. Somit konnten die Bauern trotz Waffenstillstand nicht zurück auf ihre Felder.
Was hat die Arbeit der medico-Partnerorganisationen ausgemacht?
Unsere Partner:innen von SEED haben vor allem im tamilisch geprägten Norden Sri Lankas gearbeitet. Hier haben sie versucht, die Menschen in den Prozess der Hilfe einzubinden und mit dem Wiederaufbau der Dörfer die Selbstorganisation der Bevölkerung systematisch zu stärken. Der politische Gedanke dahinter war, dass eine Bestärkung der Bevölkerung den Menschen hilft, in ein möglichst freies Verhältnis zur Guerilla treten zu können.
Als dann 2009, nach dem blutigen Ende des Krieges, 400.000 Tamil:innen in KZ-ähnlichen Lagern gefangen gehalten wurden, handelte es sich zum Teil um dieselben Menschen, die bereits im Krieg vertrieben, dann durch den Tsunami vertrieben und nun erneut vertrieben wurden. In diesen Lagern war es verboten, humanitär zu arbeiten. Unsere Partner:innen von Seed haben sich illegal Zugang verschafft, indem sie jeden Tag die Wachen bestachen. Seed hatte ein Haus in der Nähe der Lager angemietet und die Mitarbeiter:innen haben dort schichtweise geschlafen, um rund um die Uhr im Lager präsent sein und die Willkür und Gewalt begrenzen zu können.
Die früher entstandenen Selbstverwaltungsstrukturen aus den tamilischen Dörfern haben im Lager dann wieder zusammengefunden. Das haben unsere Partner:innen unterstützt und mit ausgebaut – gegen alle Bestrebungen des singhalesischen Militärs, die Lagerinsassen zu vereinzeln. SEED hat versucht, die autoritären Strukturen des Lagers aktiv zu unterlaufen und es ermöglicht, dass die Menschen den singhalesischen Wachen organisiert gegenübertreten konnten. So kann man natürlich nur arbeiten, wenn man die ganze Problematik des politischen Kontextes zur Kenntnis nimmt.
Was hat die Tsunami-Hilfe hinterlassen?
Es gab einen Gründungs-Boom von circa 3000 neuen sri-lankischen NGOs. Der größte Teil wurde von Leuten betrieben, die das als Geschäftsmodell begriffen und ihre Arbeit dementsprechend schlecht gemacht haben. Die Erfahrung, dass der Tsunami relativ schnell in ein Wiederaufflammen des Krieges umgeschlagen ist, bildete aber auch eine Motivationsquelle für die Zivilgesellschaft, sich ihrerseits politisch auf die neue Situation einzustellen und zu versuchen, eine aktive Rolle zu spielen. Sri-lankische NGOs, aber auch Gewerkschaften und politische Parteien haben sich beispielsweise in der Platform for Freedom zusammengeschlossen. Für sie war sowohl das, was in der Tsunami-Hilfe schiefgelaufen ist und von uns dokumentiert und aufgearbeitet worden war, ein wesentlicher Bezugspunkt als auch der neue Krieg und die Art und Weise, wie dieser Krieg geführt wurde.
Dass wir die Platform for Freedom unterstützt haben, war folgerichtiges Resultat unseres Ansatzes. Das heißt nicht, dass wir für eine der Parteien vor Ort einseitig Partei ergriffen hätten, aber dass wir unsere Hilfe nicht unter Ignoranz der politischen Situation sehen können, sondern uns dazu ins Verhältnis setzen müssen. Deshalb haben wir uns an der Seite all der Leute verortet, deren wesentliches Interesse die Wiederherstellung eines Friedensverhältnisses und der Versuch einer Lösung der sogenannten Minderheitenfrage oder der tamilischen Frage war. Die so bestärkten zivilgesellschaftlichen Akteure waren schließlich zentrale Handelnde in der Regenbogenkoalition, der 2015 die Absetzung Rajapaksa Regierung gelungen ist.
Das Interview führte Karin Zennig.