Von Zilan Kizilates
Eine Welle von Feminiziden brach jüngst über der Türkei herein. Innerhalb von nur vier Tagen im Oktober wurden sechzehn Frauen und Mädchen brutal ermordet. Die Männer dahinter und die Orte, die sie dafür aussuchten, verdeutlichen vor allem eines: das Patriarchat in seiner extremsten Ausprägung kann überall zuschlagen. Es schlägt nieder auf offener Straße oder in den eigenen vier Wänden; es zeigt sich im eigenen Nahumfeld oder taucht von unbekannter Seite auf. Was die Taten allesamt eint, ist der Grad an Brutalisierung, mit der sich die Täter über die Körper hermachten und diese zum Teil im öffentlichen Raum ausstellten. Aysenur H., Ikbal U., Bedriye I., Sonay Ö., Sila Y. und 47 weitere wurden im Oktober getötet, weil sie Frauen und Mädchen waren. Im laufenden Jahr sind bisher insgesamt 343 Frauen getötet worden.
Über diese normalisierte sexualisierte Gewalt hat sich in den vergangenen Wochen eine breit getragene Wut auf den türkischen Straßen entladen. Eine der Trägerinnen der Proteste ist die medico-Partnerorganisation Rosa Women‘s Association, die ihren Sitz in der kurdischen Stadt Amed (türkisch: Diyarbakir) hat, und jüngst dazu erklärte: „Wegen des männerdominierten Justizsystems und der Politik der Straflosigkeit werden weltweit täglich hunderte Frauen ermordet. Wir demonstrieren gegen Gewalt an Frauen und für die ermordeten Frauen!“ Rosa ist seit vielen Jahren eine kraftvolle Stimme innerhalb der landesweiten feministischen Bewegung.
Täglich wird in der Türkei mehr als eine Frau Opfer eines Feminizids. Immer mehr Mädchen sind sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Queers erleben die grausamsten Folgen patriarchaler Gewalt. Gleichzeitig steigt die Zahl verschwunden gelassener Frauen und Queers alarmierend. Die Hilferufe der Frauen und Queers gegenüber den Behörden bleiben häufig ungehört. Politische Debatten bevorzugen oft die Perspektive der Täter, während die Stimmen der Opfer ignoriert werden. In Parlamenten wird mit schockierender Selbstverständlichkeit behauptet, Frauen müssten sich anständiger kleiden oder Kinder würden Missbrauch gar zustimmen. Solche Aussagen zeigen die tief verwurzelten patriarchalen Strukturen, die die ganze türkische Gesellschaft durch alle Klassen hindurch durchdringen.
Straflosigkeit und Reviktimisierung
Inmitten dieser seit Langem schon andauernden bedenklichen Lage entschied sich Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan in der Nacht zum 20. März 2021 dazu, die Istanbul-Konvention des Europarates per Dekret für ungültig zu erklären. Die Istanbul-Konvention ist ein völkerrechtlich bindender Vertrag, der den Anspruch hat, geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und Mädchen und häusliche Gewalt zu bekämpfen. Erdoğan begründete diesen Schritt mit der Behauptung, die Konvention werde von einer Gruppe von Personen manipuliert, die Homosexualität normalisiere, was mit den sozialen sowie familiären Werten der Türkei unvereinbar sei.
In dieser von Straflosigkeit geprägten politischen Atmosphäre ist es nahezu unmöglich geworden, das Leben von Frauen, Mädchen und Queers zu schützen. Dies verdeutlicht nicht nur die deutliche Abkehr von den Bemühungen, patriarchale Gewalt zu bekämpfen. Auch mildere oder gar keine Strafen sowie ein Klima der Reviktimisierung der Opfer legitimieren die Verbrechen. Männer, die ihre Partnerinnen, Schwestern oder Freundinnen töten, werden oft nach wenigen Jahren Haft aufgrund von vermeintlich gutem Verhalten wieder auf freien Fuß gesetzt. Der Staat wird somit zum Komplizen der Gewalt. Dennoch geben die Frauenorganisationen in der Türkei nicht auf. Sie leisten wichtige Aufklärungsarbeit, bieten Unterstützung für von Gewalt betroffene Frauen und Mädchen, begleiten juristische Verfahren und protestieren gegen patriarchale Gewalt. Zu denjenigen, die sich nicht unterkriegen lassen, zählt auch Rosa: „In dieser korrupten Ordnung, in der die Mittel der Gewalt und des Massakers so weit verbreitet sind, werden wir unseren Kampf fortsetzen.“
Am 7. Oktober organisierte Rosa in Zusammenarbeit mit der Dicle Amed Frauenplattform und dem Netzwerk zur Bekämpfung von Gewalt in der Stadt Amed eine bedeutende Demonstration. Unter dem Motto Wegen eures männerdominierten Justizsystems und eurer Politik der Straflosigkeit werden täglich hunderte Frauen ermordet. Wir demonstrieren gegen Gewalt an Frauen und für die ermordeten Frauen zogen die Protestierenden vom Dagkapi-Platz nach Sur, dem Stadtteil, in dem Bedriye I. ermordet wurde.
Das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben
Die feministische Bewegung ist mehr als nur ein Ausdruck von Solidarität. Sie ist ein Appell dafür, die tief verwurzelten Ursachen von patriarchaler Gewalt und Feminiziden zu erkennen und zu bekämpfen. Davon würde am Ende das ganze Land profitieren. Dies war auch das zentrale Thema einer Pressekonferenz, die Rosa gemeinsam mit Vertreter:innen weiterer Frauenorganisationen veranstaltete, die an einem Workshop zur Frauenpolitik in den Kommunalverwaltungen teilgenommen hatten. Unter den Anwesenden waren auch Gültan Kisanak, die ehemalige Ko-Oberbürgermeisterin von Amed, sowie Neslihan Sedal, die Ko-Oberbürgermeisterin von Wan, einer weiteren Stadt, in der im Oktober Feminizide stattfanden.
In ihrer Rede machte die Rosa-Vorsitzende Suzan Isbilen deutlich, wie sehr das Recht der Frauen auf ein selbstbestimmtes Leben untergraben wird. Sie kritisierte die Legitimierung der Gewalt und verdeutlichte, dass die steigende Zahl der Feminizide unter der autoritären AKP-MHP-Regierung die tiefe Geschlechterungleichheit offenbart. „Männer wenden Gewalt an, um Frauen zu kontrollieren und ihre eigene Macht zu festigen“, so Isbilen. Ferner führte sie aus, dass der Mord an einer Frau in Amed, die vor den Augen ihrer Kinder von ihrem Ehemann getötet wurde, die „schreckliche Dimension der Feminizide“ verdeutliche. „Es handelt sich nicht um einen individuellen Mord, sondern um ein politisches Verbrechen. Der Wunsch, Frauen in ihren eigenen vier Wänden einzusperren und ihnen das Recht auf ein freies Leben zu verwehren, ist eine der vielen Ursachen, die diese Taten legitimieren.“
In den Feminziden steckt indes neben der Gewalt noch etwas Anderes: eine tiefe Angst vor der Macht von Frauen und Queers, vor ihrem Streben nach Unabhängigkeit und Autonomie. Frauen, die ökonomisch eigenständig sein wollen, Lesben, die keine Männer zum Lieben brauchen, Queers, die die eng gesteckten Grenzen der Geschlechter überschreiten – all sie unterwandern die patriarchale Autorität. Wenn sie sich patriarchalen Logiken und männlichen Dominanzen entziehen, erzeugt das eine Form der Entmachtung, die unter bestimmten Umständen in Hass auf diejenigen umschlägt, die sich ihrer Körper und der Räume, die ihnen zustehen, selbst bemächtigen.
Zilan Kizilates macht zurzeit in Praktikum in der Abteilung für transnationale Kooperation von medico international.