In ihren oftmals dahingesagten Kommentaren werfen viele Menschen in Europa, aber auch im Nahen Osten, einen eher skeptischen Blick auf die Lage in Syrien nach dem Sturz des Assad-Regimes. Sie glauben zu erkennen, was sie ohnehin sehen wollen, und sind zugleich frustriert darüber, dass nicht alles ihren Vorstellungen entspricht. Anekdotisch werden Ereignisse aufgezählt, die den eigenen Blick bestätigen. Im syrischen Universum aber sind die Dinge im Moment flüssig und formlos. Man findet für jede mögliche These, die einem gefällt oder nicht, die passenden Beispiele. Der Blick von außen zwingt einem Land, das in den letzten 14, ja 54 Jahren so sehr gelitten hat, die eigenen Prioritäten auf und zeigt keinen Respekt für das syrische Volk. Aber abgesehen davon gelingt es diesem Blick nicht einmal, das, was er vermeintlich zu Recht sieht, auch ins rechte Licht zu rücken. Denn er hat keinen blassen Schimmer davon, was in Syrien zu Ende gegangen ist.
Ewigkeit
Ich möchte deshalb hier vier Elemente hervorheben, die die politische Herrschaft der Assads ausgezeichnet haben. Eine 54-jährige Herrschaft, die im Dezember 2024, also vor wenigen Wochen, untergegangen ist. Erstens muss die erdrückende, auf Ewigkeit ausgerichtete, unerbittliche Kontinuität genannt werden, die mehr als ein halbes Jahrhundert lang über eine extrem junge Gesellschaft herrschte. 96 Prozent der Bevölkerung sind unter 60 Jahre alt und kennen nichts anderes als die Assad-Herrschaft. Das Regime hatte das „Für immer“ zu seinem obersten Prinzip gemacht, ja zu seiner eigentlichen Verfassung. Jeden Morgen beschworen Schülerinnen und Schüler die Ewigkeit dieser Herrschaft. Seit den 1980erJahren, genauer gesagt seit dem Massaker von Hama im Februar 1982, dem bis zu 40.000 Einwohner:innen der Stadt zum Opfer fielen, mussten die Wehrpflichtigen in der Armee einen Eid darauf leisten. Zur selben Zeit errichtete man überall im Land Statuen von Hafiz al-Assad. Auch sie sollten die Unvergänglichkeit seiner Herrschaft versinnbildlichen.
Als sein Sohn Baschar im Jahr 2000 das Erbe des Vaters antrat, war dies lediglich eine Fortsetzung dieses Millenarismus. Das Prinzip der Ewigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch die Literatur und das Selbstbewusstsein politisch-theologischer Bewegungen. Seine Übertragung in die Moderne fand der Millenarismus etwa in der Heraufbeschwörung des Dritten Reiches, das 1000 Jahre währen sollte. Es ist deshalb nur logisch, dass diese Ewigkeit mit einer besonderen Modalität der Zeit einherging: Sie bestand in einer permanenten Gegenwart, die Vergangenheit und Zukunft aufhob und sich in einem ständigen Krieg gegen den Wandel befand, der jegliche denkbare Alternative zu vernichten suchte.
Herrschaft des Genos
Das zweite Element ist der Völkermord. Man kann durchaus eine Debatte darüber führen, ob das, was Syrien zwischen März 2011 und Ende 2024 erlebte, ein Fall von Völkermord war. Aber unbestreitbar ist, dass es genozidale Anteile gab. Das hängt im Wesentlichen mit dem zusammen, was wir in Syrien und im Nahen Osten tai‘fiyya, Sektarismus, nennen. Es handelt sich dabei um von oben gesteuerte Prozesse der Politisierung ererbter konfessioneller Differenzierungen, die zu ausgrenzenden politischen Einheiten, zu „Sekten“ wurden. Sie sind keine natürlichen Gemeinschaften in unseren Mosaik-Gesellschaften, wie eine überholte, aber immer noch vorherrschende Soziologie des Nahen Ostens meint; sie sind durch Diskriminierungsprozesse, das systematische Fördern von Misstrauen, das Schüren von Angst, aber auch durch Folter und Massaker politisch konstruiert worden. Das ist mit Sektarismus gemeint.
Die Sektarisierung der Sicherheitsdienste kurz nach der Machtergreifung von Hafiz al-Assad im Jahr 1970 war in Syrien entscheidend für die Konstruktion dieser Sekten aus konfessionellen und ethnischen Zuschreibungen. Denn zeitgleich machten die Geheimdienste Schluss mit politischen Parteien und sozialen Organisationen. Die Produktion von Sekten macht den Demos und damit die Möglichkeit von Demokratie zunichte und stellt stattdessen den Genos, den Stamm, die Herkunft in den Vordergrund. Es entsteht die kulturelle Gruppe, die fest installiert werden muss, egal, ob es sich dabei um die Herrschaft einer Mehrheit über eine Minderheit handelt oder umgekehrt. So wie die Abschaffung des Demos die Demokratie unmöglich macht, so macht die Herrschaft des Genos den Völkermord denkbar. So kann der Genozid zur legitimen Methode des Regierens werden. Als Herrschaft des Genos bezeichnen lassen sich so vermeintlich unterschiedliche Phänomene wie White Supremacy, die Hindutva, der Zionismus, der Islamismus, der Sektarismus der Assads und viele mehr. Alle diese Bewegungen bergen das Potenzial zum Völkermord oder zum Massaker, wenn sie nicht bereits in solche Verbrechen verwickelt sind.
Das Assad-Regime hatte sich lange Zeit mit dem Schutz von Minderheiten gerechtfertigt. Es stützte sich auf eine eingeübte koloniale Herrschaftsform, die heute, nach dem Sturz des Regimes, viele europäische Politiker:innen erneut zur Leitidee ihres Blickes auf Syrien machen. Mit der Etablierung des auf dem Genos beruhenden Herrschaftssystems standen der Völkermord oder völkermörderische Massaker jedoch vor der Tür; bereits vor dem Ende des ersten Jahrzehnts der Assad-Herrschaft fanden sie folgerichtig dann auch statt.
Deshalb gehen viele Beobachtungen aus dem Westen fehl, wenn sie von einem autoritären Regime oder einer Diktatur in Syrien sprechen. Denn sie übersehen, dass die Diskriminierung das Wesen des Regimes ausmachte. Eines Tages sollte man ein Buch über die westliche „Forschung“ zu Syrien und der nun vorübergegangenen Ära der Assads schreiben. Es würde sich möglicherweise herausstellen, dass viele Forscher:innen eine ethische und epistemologische Verantwortung für Hunderttausende Tote in Syrien tragen. Wahrscheinlich liegen die Gründe in einer dem Sektarismus wesensverwandten, kolonialen Denkart.
Politische Armut
Viele Menschen in Europa und selbst im Mittleren Osten können sich nicht vorstellen, dass gemeinsame Aktivitäten wie das Säubern eines Platzes oder einer Straße, der Aufruf, keine Bestechungsgelder zu zahlen oder entgegenzunehmen oder das Treffen in privaten Räumen, um Bücher zu lesen, systematisch mit Gewalt unterdrückt wurden. Wir reden nicht über die Organisierung von Protesten, die Gründung von Gewerkschaften oder politischer Parteien. Genau so geschah es beispielsweise in Darayya, einer Stadt in der Nähe von Damaskus, wo eine Gruppe junger Männer und Frauen sich genau das vornahm: Die Stadt zu säubern, das Nichtrauchen zu fördern, gemeinsam Bücher zu lesen und Bestechung zu bekämpfen. 2003 wurden sie verhaftet und einige von ihnen verbrachten drei Jahre im Gefängnis. Ein respektierter religiöser Denker, Abd el-Akram al-Sakka, hatte die Gruppe unter seiner Obhut. Er wurde 2011 wenige Monate nach Beginn der syrischen Revolution festgenommen, gefoltert und umgebracht. Seine Familie erfuhr von seinem Tod erst im August 2024.
2007 lebten 37 Prozent der syrischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze von zwei Dollar am Tag, aber 100 Prozent litten seit Jahrzehnten unter extremer politischer Armut. Das ist das dritte Kennzeichen, von dem ich hier reden möchte. Man konnte sich nicht auf öffentlichen Plätzen versammeln und für sich selbst sprechen. Der Preis der politischen Armut waren lange Jahre im Gefängnis, Folter und Massaker. Nebenbei wurde so auch der Weg für theologische Gruppen geebnet, die sich objektiv und organisch als Opposition in einer unpolitischen Politik entwickeln mussten. Denn die Versammlungen von Gläubigen in der Moschee oder von Betenden, die sich des Heiligen Textes annahmen, konnte das Regime nicht auflösen. Glaube war keine Meinung, die man zum Schweigen bringen konnte. Deshalb kam den religiösen Praktiken die Aufgabe zu, die politische Armut einzuschränken. Andere Praktiken gab es nicht.
Verkommenheit
Das vierte Element, das Nicht-Syrer:innen häufig entgeht, ist die Verkommenheit der Assad-Familie und ihrer Regime-Elite, ihre extreme Gier, ihre dumpfe und dumme Gewalt aus Undiszipliniertheit, Erniedrigung, Rachedurst – und das alles immer gemischt mit obszönen Verbalinjurien, also schlicht ihre extreme Vulgarität. Folter definierte den Assadismus, so wie sie auch das Wesen des Nationalsozialismus war, wie Jean Améry schrieb. Die Assadis wollten alles für sich selbst: die Macht, das Geld, Immobilien, Frauen, Sklaven oder Halbsklaven, die für sie arbeiten mussten und meistens aus der Armee kamen, und Waffen. Sie hatten keinen anderen Wunsch, als ewig an der Macht zu bleiben, und genau deshalb gaben sie vor, altruistische Motive zu haben. Sie konstruierten ihr Regime so, dass es in der Lage war, jede Gefahr mit absoluter Gewalt niederzuschlagen, wenn es sein musste sogar mit chemischen Waffen.
Aber am Ende brach das Regime in sich selbst zusammen, und es fiel kaum ein Schuss. Sofort gab es überall große Feierlichkeiten der Bevölkerung, weil die Menschen in ihren Körpern und Seelen wussten, welchen Alptraum sie in den vergangenen Dekaden durchleben mussten. Politisch waren wir alle Sklav:innen, denn die Assadisten regierten Syrien nicht, es gehörte ihnen; den Staat hatten sie privatisiert und die Mehrheit der Menschen ausgeschlossen. Selbst die, die Angst hatten vor dem, was nach diesem Regime kommen würde, verachteten es zutiefst. Die feige Flucht von Assad, ohne eine letzte Erklärung an seine Unterstützer:innen, geschweige denn an das syrische Volk abzugeben, setzte dem Ganzen die Krone auf.
Assadismus ist dieses Amalgam aus behaupteter Ewigkeit, Massakern, Vernichtung, extremer politischer Armut und Verkommenheit, eine Kombination aus Blutrünstigkeit und Trivialität. Manche fordern nach dem 8. Dezember 2024, dass man ein nationales Gesetz verabschieden müsse, das die Verleugnung der Assad-Verbrechen unter Strafe stellt, angelehnt an das Verbot in Deutschland, die Nazi-Verbrechen zu leugnen. Man kann geteilter Meinung darüber sein, weil man den Missbrauch eines solchen Gesetzes fürchten muss, aber allein die Forderung symbolisiert die schreckliche Einzigartigkeit des Assad-Regimes. Sein Sturz war ein unerwartetes Wunder nach einer langen Zeit von Verlust, Vertreibung und Verzweiflung.
Die Herausforderungen sind immens und wirklich kraftraubend. Es handelt sich um nicht weniger als eine zweite Unabhängigkeit Syriens. Es geht um eine komplexe Angelegenheit der Nationswerdung. Dazu gehört ein wirtschaftlicher Kraftakt, eine Art Marshallplan, damit die Wirtschaft wieder ins Laufen kommt und um die wichtigsten öffentlichen Dienste zu gewährleisten. Aus einer syrischen Perspektive liegt die Priorität aber auf einem inklusiven System. Das ist die wirkliche Infrastruktur für Wirtschaftswachstum und eine neue, bessere nationale Moral. Die zentralen Prioritäten sollten klar sein: politische Pluralität und regelmäßige freie Wahlen, Staatsbürgerschaft und gleiche Rechte, Versammlungsfreiheit und eine freie Presse, die die Macht kritisieren kann. Die Ära der Ewigkeit, der Herrschaft des Genos, der politischen Armut und der Verkommenheit muss endgültig vorbei sein. In der neuen Zeit haben wir genügend neue Schlachten zu schlagen.
Regierungen und ausländische Journalist:innen haben bislang mit ihrem Blick von außen kein adäquates Verständnis, geschweige denn eine Antwort auf diese dramatische Situation und ihre Herausforderungen entwickelt. Jetzt geht es aber um uns und nicht um Euch, Ihr Politiker:innen der reichen, sicheren und prosperierenden Länder.
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Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 01/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!