Wenn man etwas über eine Gesellschaft wissen möchte, sollte man sich ihre Gefängnisse anschauen, sagt eine alte Weisheit. Das gilt auch und insbesondere in der sogenannten MENA-Region, also in den Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas. So zumindest lautet die These des MENA Prison Forums (MPF), einem interdisziplinären Projekt, das medicos Partnerorganisation UMAM aus Beirut vor einigen Jahren ins Leben gerufen hat.
Das MENA Prison Forum
Monika Borgmann und Lokman Slim, die Gründer:innen des MPF, drehten mit ehemaligen libanesischen Häftlingen des syrischen Gefängnisses Tadmor den gleichnamigen Film. Während der Dreharbeiten und nach Fertigstellung des Films 2016 waren sie konfrontiert mit der Kontinuität des Gefängnisses in der Region, das nicht zuletzt als Reaktion auf die im Jahr 2011 begonnenen Aufstände noch an Bedeutung gewonnen hatte. „Das Thema ließ uns nicht mehr los. Die verschwundene Revolution, die Gefängnisse der Region, insbesondere die des Assad-Regimes: Fast überall, ob in Syrien, in Ägypten oder in Tunesien, bekam das Gefängnis eine zentralere, mehr und mehr öffentliche Rolle. Deswegen haben wir fast ein Jahr reflektiert, wie wir mit dieser immer offensichtlicheren Tatsache umgehen können. Und so ist das MPF entstanden“, erklärt Borgmann.
Das Gefängnis verstehen zu wollen, ist kein abseitiges Gedankenspiel. Es ist vielmehr ein Schlüssel zum Verständnis einer Gesellschaft und eines Regimes. Man sieht die Welt vom Gefängnis aus mit anderen Augen. Doch das ist nicht einfach, denn den üblichen Methoden der Forschung und Dokumentation bleiben die dicken Wände verschlossen. Zunehmend jedoch veröffentlichen ehemalige Häftlinge ihre Erinnerungen. Das MPF initiierte daher einen Prozess mit ehemaligen Häftlingen, Menschenrechtsaktivist:innen, Kunstschaffenden, Filmemacher:innen, Anwält:innen und anderen, um den Komplex von Gefängnis, Folter und Trauma zu entschlüsseln.
Einer der vielen, die von ihren Jahren im Gefängnis schreiben und auch dem MPF verbunden sind, ist Yassin al-Haj Saleh. Sie haben vielleicht seinen aktuellen Text für medico gelesen. Er war von 1980 bis 1996 in Syrien inhaftiert, die letzten Jahre im oben bereits erwähnten Gefängnis Tadmor. Soll man hier noch einmal an die Hölle und die Qualen der syrischen Gefängnisse erinnern und die Foltermethoden – unter ihnen der „Deutsche Stuhl“ – aufzählen, die Zahlen der Verschwundenen und Vermissten, der Getöteten und Inhaftierten auflisten, das Leid der Familien und Freunde aufschreiben? Beim Prozess in Koblenz zu syrischer Staatsfolter konnte man Berichte von dem Grauen hören, das ein Regime begeht, dessen Charakter in Deutschland immer noch von vielen bestritten wird, auch von Linken. Der von medico unterstützte Podcast Branch 251 berichtet von diesem Prozess, Monika Borgmann und das MPF haben ihn abgeschrieben und jetzt als Buch herausgebracht, in Arabisch und Englisch: „A Podcast to read“. Jede einzelne Seite ist unerträglich. Borgmanns Mann Lokman Slim hat das nicht mehr erlebt, er wurde im Libanon erschossen. Die Täter sind bislang nicht gefasst, doch ein politischer Mord war es allemal, nicht der erste und nicht der letzte im Libanon.
Internationale der Grausamkeit
Yassin al-Haj Saleh besteht trotz der teils unbeschreiblichen Grausamkeit der syrischen Erfahrungen darauf, dass sie nicht einzigartig und unvergleichlich sind, sondern sich vermitteln und in andere Kontexte übersetzen lassen. „Es scheint, dass Traumata die Menschen an ihre eigene Geschichte binden, von der sie fälschlicherweise glauben, sie sei einzigartig. Hätte das Trauma eine Zunge, würde es seine Einzigartigkeit verkünden und beanspruchen, ein absoluter Anfang zu sein.“ Dem müsse man widersprechen. Die syrischen Verhältnisse müssten, so sagt er, „entprovinzialisiert“ werden in einer Welt, die sich „zu syrisieren scheint“.
Nicht nur in syrischen Gefängnissen wird gefoltert. Monika Borgmann, die unzählige Geschichten darüber gehört und gesammelt hat, erzählt: Repressions- und Foltermethoden zirkulieren durch alle Welt, sie werden von einer Internationale der Grausamkeit weitergegeben. Und nicht nur das. „Es gibt die psychologische Folter und es gibt die physische Folter. Der Fantasie der Täter und der repressiven Systeme sind keine Grenzen gesetzt. Ich erinnere mich an einen Bericht über inoffizielle Gefängnisse, wo einfach mit Kälte gefoltert wurde. Das heißt, du brauchst nichts, du setzt nur Leute extremer Kälte aus. Irgendwie entwickeln sich diese ganzen Foltermethoden wie sich die forensische Medizin entwickelt.“ Wer so etwas erlebe, habe das Gefängnis für immer in sich, auch außerhalb der Gefängnismauern noch.
Und Europa?
Wenn man bei aller Unvergleichbarkeit über Ähnlichkeiten und Kontinuitäten nachdenkt, wie Yassin al-Haj Saleh fordert, und zum Beispiel auf die europäisch-ägyptischen Beziehungen schaut, fällt auf: Seit Jahren schlagen Menschenrechtsorganisationen Alarm. Ein Bericht über Folter, unfaire Prozesse, überbelegte Knäste und Unterversorgung jagt den nächsten. Und dennoch unterhält die Bundesregierung beste Beziehungen zum ägyptischen Regime, nicht zuletzt um Geflüchtete fernzuhalten. Die Lager, in denen diejenigen, die trotzdem bis nach Europa gelangen, dann eingesperrt werden, sind voll, nicht zuletzt von Menschen, die vor der Gefahr der Inhaftierung und Repression in Ägypten geflohen sind. Das Gefängnis der MENA-Region ist so gesehen nicht nur Dreh- und Angelpunkt der Repression der dortigen Regime und ihrer Stabilität. Es dehnt sich auch nach Europa aus. Mit den Bewegungen der Menschen wandern auch die Gefängnisse um die Welt. Auch das kann „syrisieren“ bedeuten.
Auch im Westen spielt die Politik des Gefängnisses eine wachsende Rolle. Nicht selten ist sie mit kolonialen und rassistischen Traditionen verwoben. Das prominenteste Beispiel: Innerhalb von vier Jahrzehnten hat sich die Gefängnispopulation in den USA versiebenfacht. Die Wahrscheinlichkeit, im Gefängnis zu landen, ist für Schwarze in den USA sechs Mal so hoch wie für Weiße. Hier wie dort gilt: Das Gefängnis ist ein Ort, der die Welt draußen prägt und auf sie Einfluss nimmt. An dem immer wieder neue Ideen, Bewegungen oder auch Clans entstehen, wo zugleich Kultur, Musik und Literatur produziert werden. Die Muslimbrüder in Ägypten sind im Gefängnis entstanden. Das Kartell Comando Vermelho, dessen Tausende Mitglieder Rio de Janeiros Favelas beherrschen, wurde im Gefängnis gegründet. Und noch etwas: Während in unseren Breitengraden für die Entstehung persönlicher Hoffnungslosigkeit manchmal deprimierende Schlagzeilen ausreichen, bauten Gefangene in der Hölle der syrischen Foltergefängnisse in den 1980er-Jahren Instrumente aus abgekauten Hühnerknochen, Müll und dem, was ihnen sonst so blieb, und sangen Lieder von Freiheit. Sie werden im Rahmen der Konferenz in Berlin zu hören und zu sehen sein.
Konferenz: Understanding Prison
Das MENA Prison Forum hat in Absprache mit medico und dem HAU die Entscheidung getroffen, die Konferenz zu verschieben.
Ehemalige Gefangene, Filmemacher:innen, Aktivist:innen, Wissenschaftler:innen, Jurist:innen und Kunstschaffende berichten, präsentieren, diskutieren und stellen aus.
30. November bis 2. Dezember 2023 im HAU in Berlin
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!