Im Dezember 1995 hatte ich genau fünfzehn Jahre im Gefängnis gesessen. Zu dieser Strafe hatte mich das Oberste Staatssicherheitsgericht in Damaskus verurteilt – allerdings erst nach elfeinhalb Jahren Haft! Nach Ablauf der fünfzehn Jahre wurde ich aber nicht etwa freigelassen, sondern vor ein Sicherheitstribunal gebracht, das aus drei Geheimdienstoffizieren bestand. Zufällig war das am 10. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschenrechte. Die Militärs begannen mit mir um meine Entlassung zu feilschen. Die Bedingung dafür lautete, dass ich mit dem Regime „kooperieren“ solle. Ich erwiderte, ein Ausnahmegericht habe mich zu fünfzehn Jahren verurteilt, diese seien nun vorbei und der Gerechtigkeit sei somit Genüge getan. Schließlich hätte auch ich Rechte. Einer der drei Tribunalvertreter, ein General im politischen Sicherheitsapparat, der später zum Staatsminister befördert wurde, erwiderte: „Bei uns haben Sie überhaupt keine Rechte.“ Ich musste ein weiteres Jahr in Haft; die meiste Zeit davon verbrachte ich im Schreckensgefängnis von Palmyra.
Der Satz „Bei uns haben Sie keine Rechte“ taugt als Kurzdefinition der mittlerweile 53 Jahre dauernden Assad-Herrschaft in Syrien. Niemand hat ein Recht auf irgendetwas, es sei denn, die herrschende Clique gewährt es gnädig. Vor allem hat niemand ein Recht darauf, definierte und garantierte Rechte zu haben. Das „Recht, Rechte zu haben“ geht zurück auf Hannah Arendt und ihr Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, wo es heißt: „Daß es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben – und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man aufgrund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird –, wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben und zufolge der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen.“
Mehr als individuelle Rechte
Arendt schrieb dies unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als Millionen von Menschen in Europa zu Flüchtlingen geworden waren, die kein Zuhause, keinen Staat und keine Rechte hatten. Sie verband das Recht auf Rechte demnach nicht mit Individuen, wie es die Allgemeine Erklärung der Menschrechte festschreibt (diese wurde zeitgleich mit dem Erscheinen ihres Buches im Jahr 1948 verabschiedet), sondern damit, dass man Teil einer organisierten politischen Gruppierung im Rahmen eines Staates oder einer anderweitig geordneten politischen Gemeinschaft ist.
Ebendies wurde in Syrien in den ersten beiden Jahrzehnten der Herrschaft von Hafiz al-Assad ab 1970 zerstört. Seither leben wir mit den Folgen: Uns Syrer:innen wird kontinuierlich Gerechtigkeit vorenthalten. Wir leben wie Flüchtlinge im eigenen Land oder wurden jenseits unserer Landesgrenzen in den vergangenen zehn Jahren zu Menschenmassen. In einigen Ländern werden wir als Almosenempfänger:innen behandelt, in anderen diskriminierend und feindselig, in dritten genießen wir zwar humanitäre Flüchtlingsrechte – aber nirgendwo ein Recht auf Rechte. Auch in Deutschland nicht, das annähernd eine Million Menschen aus Syrien aufgenommen hat und wo ich seit etwa sechs Jahren lebe. Immerhin wurden hier in Koblenz zwei Syrer wegen ihrer Verbrechen verurteilt, die sie in Syrien begangen haben. Einer erhielt eine Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren, der andere sogar lebenslänglich. Weitere Gerichtsprozesse gegen syrische Straftäter laufen oder werden demnächst beginnen; die meisten Angeklagten waren Schergen des Regimes.
Weltrechtsprinzip in Koblenzer Prozess
Ein Prozess wie der in Koblenz ist Thema eines bemerkenswerten Buchs, das vor wenigen Monaten in arabischer, englischer und deutscher Sprache erschienen ist, herausgegeben von Wolfgang Kaleck und Patrick Kroker: „Syrische Staatsfolter vor Gericht“. Darin schreibt Hannah El-Hitami, freie Journalistin aus Berlin, dass sich das Oberlandesgericht Koblenz an das „Weltrechtsprinzip“ gehalten habe. Dieses gehe davon aus, dass bestimmte Verbrechen „so gravierend (sind), dass sie die Weltbevölkerung unabhängig von Landesgrenzen betreffen“. El-Hitami konstatiert jedoch auch, dass die Gerichtssprache in Koblenz auf Deutsch beschränkt blieb, womit staatliche Grenzen, die das Weltrechtsprinzip doch vermeintlich aufheben will, affirmiert worden seien, denn es wurde syrischen Prozessbeobachter:innen im Gericht und außerhalb verwehrt, die simultane Verdolmetschung der Verhandlung zu nutzen. „Welchen Sinn hat Gerechtigkeit“, fragt die Autorin, „wenn die Betroffenen ihr nicht folgen können?“
Zudem verweigerte das Gericht eine Aufzeichnung der Verhandlung und begründete dies damit, dass Prozesse nur aufgezeichnet werden, wenn sie von „historischer Bedeutung für Deutschland“ seien – dass „dieser Prozess aber nur von historischer Bedeutung für Syrer:innen“ sei. Diese respektlose Wortwahl machte Rechtsanwältin und Legal Advisor Antonia Klein zum Titel ihres Buchbeitrags: „Keine zeitgeschichtliche Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland“. Ihr zufolge verweigerte man den Syrer:innen damit das Recht auf Erinnerung in Deutschland.
In Deutschland und anderen europäischen Ländern haben wir, anders als in der Türkei, im Libanon und Jordanien, als Flüchtlinge Rechte. Aber weder in Deutschland noch anderswo haben wir ein Recht auf Rechte. Wer die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hat, hat zwar Staatsbürgerrechte und genießt allgemein den Schutz des Gesetzes, aber als Syrer:innen haben wir kein Recht darauf, Rechte zu haben. Das Koblenzer Gericht ist in Bezug auf seine Statuten, die Gesetze, auf deren Grundlage es Urteile erlässt, seine Richter:innen und seine Sprache zu hundert Prozent deutsch. Tatsächlich war das Verfahren grundsätzlich nichts, worauf wir ein Recht gehabt hätten. Syrer:innen hatten ein Teilrecht, im Prozess als Zeug:innen auszusagen, aber nur, weil das deutsche Rechtssystem seinen Justizorganen die Möglichkeit bietet, auf der Grundlage des Weltrechtsprinzips tätig zu werden.
Damit soll der Wert des Koblenzer Prozesses keineswegs geschmälert werden. Er hat es einigen Syrer:innen ermöglicht, im Rahmen eines juristischen Vorgangs ihre Geschichten vorzubringen. Zugleich bleibt das Recht, Rechte zu haben, darauf beschränkt, dass es Staaten und Nationen gibt. Der Prozess hat jedoch ein Licht darauf geworfen, dass die Assad-Herrschaft auf permanenter Folter beruht, was Kaleck und Kroker zu Recht als „DNA des Regimes“ bezeichnen. Vor allem aber konnte er eine Vorstellung davon vermitteln, wie in Syrien jede gesellschaftspolitische Grundlage eines Rechts auf Rechte untergraben wird. Er zeigte, dass ohne juristische Gerechtigkeit keine politische Gerechtigkeit entstehen kann.
Politizid und Privatisierung des Staates
Als ich 1980 wie Hunderte meiner Genoss:innen verhaftet wurde, geschah dies im Zuge der Zerstörung sämtlicher unabhängiger politischer Organisationen, die sich offen gegen das syrische Regime stellten. Die 1980er-Jahre erlebten zwei Gesichter des Politizids gegen Oppositionelle: erstens die Vernichtung linker Organisationen, indem man deren Mitglieder für Jahre ins Gefängnis steckte, sie dort zunächst folterte und später oft auch ermordete; zweitens die Vernichtung der islamistischen Opposition, deren Anhänger:innen zu Tausenden getötet und deren soziales Umfeld tausendfach ausgerottet wurde. Dies war so etwas wie ein politischer Mord an der syrischen Gesellschaft und begünstigte die Machtvererbung an Bashar al-Assad durch seinen Vater.
Mit dem Politizid ging die Vernichtung des Staates als einer öffentlichen Institution einher, die auf bekannten und konstanten Regeln sowie auf einer klaren Vorstellung davon aufbaut, was im staatlichen Interesse liegt und dass dieses sich vom Interesse der Herrschenden unterscheidet. Auch in Syrien unterscheidet man zwischen Staat und Macht, und man sagt, eine private Macht habe den Staat als res publica geschluckt. Das war selbst für Syrien etwas relativ Neues. Angesichts der Privatisierung des Staates und der Blutjahre wurde es Aufgabe der Opposition, zugleich die Freiheit und die Idee eines öffentlichen Staates gegen eine besitzende herrschende Clique zu verteidigen, die sich zu einer Dynastie entwickelte. Es ist bekannt, dass Hafiz al-Assad seinen Sohn Bashar von seinem Medizinstudium aus England zurückholte, um ihn darauf vorzubereiten, ihm als Präsident nachzufolgen. Im Jahr 2000 war es dann so weit.
Trotz dieser Usurpation der Macht durch Vererbung und Privatisierung und dem über zwei Jahrzehnte andauernden Politizid sammelten Syrer:innen im sogenannten Damaszener Frühling des Jahres 2000 ihre Kräfte, indem sie mit Symposien eine kreative Form der Aneignung des Rechts auf Rechte schufen. Es handelte sich dabei um Zusammenkünfte in Privatwohnungen, bei denen Dutzende bis Hunderte von Interessierten kritisch über öffentliche Belange sprachen. Diese Mischung aus Versammlung und Rede erinnert an den Politikbegriff von Hannah Arendt in „Vita activa oder Vom tätigen Leben“. Hier definierte sie Politik als Handeln und Sprechen, das implizit in einem öffentlichen Raum stattfindet. Der Damaszener Frühling wurde nach weniger als einem Jahr niedergeschlagen, seine aktivsten Initiatoren wurden eingesperrt.
Solchermaßen an Begegnung und am Sprechen gehindert und in Entbehrung öffentlicher Räume, lebten die Syrer:innen seither, in Zahlen gesprochen, zu 100 Prozent unter der politischen Armutsgrenze, während damals höchstens 20 Prozent unter der materiellen Armutsgrenze lebten (2007 waren es schon 37 Prozent, heute sind es über 90). Die syrische Revolution von 2011 war in erster Linie ein Aufstand gegen politische Armut und somit eine Fortsetzung des Damaszener Frühlings auf andere Art.
Gleichheit vor und hinter dem Gesetz
Ich führe das nicht nur deshalb an, weil kaum jemand in Deutschland davon weiß. Es ist ein Versuch, das, was in Syrien geschieht, in einer universalen Sprache zu erklären. Ein großer Teil der letzten vierzig Jahre der syrischen Geschichte ist einerseits an dem Politizid ablesbar, durch den die syrische Gesellschaft jedes Recht auf Rechte verloren hat, und andererseits an einem Staatsentzug, der dazu geführt hat, dass man auf den Gedanken an ein Recht gar nicht kommt. Vielmehr sieht man alles, was man hat, als Großzügigkeit und Geschenk des „Führers“ an – so sagt man in Syrien seit den 1980er-Jahren tatsächlich. Alle Syrer:innen, selbst die Regimeloyalist:innen, sind Untertanen und Gefolge, keine Staatsbürger:innen. Sie sind lebende Beispiele für das, was Georgio Agamben „Homo sacer“ genannt hat: Menschen, die so tief unten stehen, dass jeder Angriff gegen sie bis hin zum Mord nicht als Verbrechen gilt. Eben das erleben syrische Flüchtlinge seit kurzem in der Türkei und haben sie zuvor schon im Libanon erlebt.
Es ist diese chronische politische Realität, die sich ändern muss. Syrien müsste den Syrer:innen zunächst einmal gehören, damit sie möglicherweise Prozesse zur Herstellung von Gerechtigkeit einleiten und gegen alle vorgehen können, die sich, in welcher Weise auch immer, schuldig gemacht haben. Nur so könnten rechtsbezogene Konflikte unter Syrer:innen geregelt werden. Eine auf Rechten beruhende Gerechtigkeit bedeutet Gleichheit vor dem Gesetz, während politische Gerechtigkeit Gleichheit auch hinter dem Gesetz bedeutet, d.h. vermittels einer Gesetzgebung durch eine gewählte gesetzgebende Gewalt. Darin liegt die große Herausforderung für das heutige und zukünftige Syrien.
Lida Maxwell schreibt in dem Buch „The Right to Have Rights“, das an Hannah Arendts Ge[1]danken anknüpft: „Wir werden zu Teilnehmern am Projekt der Aneignung von Rechten (…), wenn wir an Protesten teilnehmen, an der Gesetzgebung, am Aufbau von Institutionen, an der Gründung von Vereinen. Damit trägt man dazu bei, eine Welt zu schaffen, die es jedem ermöglicht, seine Stimme hörbar zu machen, wenn er legitime Rechte einfordert.“ Genau darum geht es: Hörbar zu sein und legitime Rechte zu besitzen, zunächst aber darum, „Teilnehmer zu werden“. Dies wiederum erfordert, das System des Politizids zu überwinden.
Übersetzung aus dem Arabischen: Günther Orth
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!