Syrien

Historisches Urteil

29.03.2022   Lesezeit: 6 min

Ein Koblenzer Gericht verurteilt den Leiter eines syrischen Foltergefängnisses. Ein Interview mit dem Anwalt Anwar al Bunni über diesen Erfolg der Diaspora.

medico: Nach 107 Prozesstagen hat das Oberlandesgericht Koblenz Mitte Januar Anwar Raslan, der bis Dezember 2012 Leiter des berüchtigten Foltergefängnisses „Branch 251“ in Damaskus war und in 4.000 Fällen der Folter und in 58 Fällen des Mordes angeklagt war, zu einer hohen Haftstrafe verurteilt. Wie beurteilen Sie die Gerichtsverfahren in Deutschland wegen Menschenrechtsverletzungen in Syrien?

Anwar al Bunni: Die Verurteilung von Anwar Raslan in Koblenz ist ein historisches Ereignis. Es ist das erste Mal, dass ein hochrangiges Mitglied des syrischen Regimes wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wird. Folter und Verhaftungen sind das zentrale Unterdrückungsmittel des syrischen Regimes. Seit 2011 sind über eine Million Syrerinnen und Syrer verhaftet worden, alle Verhafteten werden gefoltert. Bis heute sind 105.000 Menschen aus den Haftanstalten verschwunden. Niemand weiß, ob sie noch leben. Die Chemiewaffen, die in Syrien eingesetzt wurden, kosteten 6.000 Menschenleben. Die Waffe aus Verhaftung und Folter hat mindestens 70.000 Leben gekostet. Deshalb ist das Urteil in Koblenz wegen Folter so wichtig. Es ist auch deshalb historisch, weil zum ersten Mal Gerechtigkeit vor einer politischen oder militärischen Lösung kommt. Bisher war es umgekehrt und haben die politischen Umstände darüber entschieden, wer vor Gericht gestellt wird und wem aus Opportunitätsgründen eine Amnestie gewährt wird. In diesem Fall ist es anders.

Es finden weitere Gerichtsprozesse gegen syrische Verdächtigte statt. Welche sind die wichtigsten?

Gerade hat in Frankfurt ein Prozess begonnen. Der Angeklagte hat seinen Militärdienst im Militärhospital von Homs absolviert und wechselte dann zur Militärsicherheit nach Damaskus. Er wird der Folter von Oppositionellen beschuldigt. Einige seiner Opfer haben ihn identifiziert. Im Sommer wird es in Deutschland einen weiteren Prozess gegen ein Mitglied einer palästinensischen Miliz geben, die auf Seiten des Regimes im Jarmuk-Camp kämpfte. Der Mann war an einem Checkpoint tätig, der den Zugang zum Lager kontrollierte. Man wirft ihm Folter und die Tötung von mindestens neun Menschen vor. Über 30 Personen soll er Schussverletzungen zugefügt und mehrere Frauen in der Moschee neben dem Checkpoint vergewaltigt haben. Wir arbeiten als Rechtsanwält:innen mit den Behörden in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Österreich und Schweden zusammen daran, weitere Prozesse in die Wege zu leiten.

Sie haben die Zeugenaussagen gesammelt. Stammen sie alle, die Opfer und die Täter, aus der syrischen Diaspora in Europa?

Entweder haben Opfer die Täter erkannt oder sie wurden anderweitig entdeckt und die Opfer konnten sie anhand von Fotos identifizieren. Wir sammeln nicht nur Zeugenaussagen, sondern auch Beweise aus den sozialen Medien oder von anderen Organisationen, die Ereignisse so dokumentieren, dass wir sie vor Gericht verwerten können. Wir arbeiten auch eng mit der von der UNO eingerichteten Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission für die Arabische Republik Syrien (Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) und anderen internationalen Institutionen zusammen.

Könnte man sagen, dass die syrische Diaspora in Organisationen wie Ihrer eine eigene Art von parastaatlicher Infrastruktur besitzt, in der – trotz des Exils – das Recht aufscheint?

Genauso ist es. Viele syrische Organisationen haben in der Vergangenheit Verbrechen dokumentiert oder Lobbyarbeit geleistet. Das sind Aktivist:innen. Aber für die Rechtsprechung braucht es Anwält:innen, um rechtskräftige Beweise zu sichern und juristisch haltbare Zeugenaussagen zu bekommen. Deshalb besteht unsere Organisation nur aus Rechtsanwält:innen, hier und in Syrien. Derzeit bilden wir 30 syrische Anwält:innen in ganz Europa aus, Beweise so zu sammeln und Zeugenaussagen zu dokumentieren, dass sie in Europa rechtsgültig sind.

Wie sehen Sie die Rolle der deutschen Justiz? Sind diese Prozesse eine neue Form von transnationalem Recht?

Die Möglichkeit einer universellen Rechtsprechung wurde dem Grundgesetz 2002 zugefügt. Es gab schon andere internationale Prozesse. Es wurden spezielle Polizei- und juristische Einheiten in Deutschland geschaffen, die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit seither untersuchen. Bislang sind die meisten Untersuchungen dieser Einheiten allerdings aus unterschiedlichen Gründen nicht vor Gericht gekommen. Dass es jetzt zum ersten Mal gelungen ist, ein Gerichtsverfahren durchzuführen und zum Abschluss zu bringen, liegt auch daran, dass es in Deutschland eine sehr große syrische Diaspora gibt.

Warum haben die Täter Syrien verlassen?

Wir haben eine Studie in der nach 2015 in Deutschland entstandenen syrischen Diaspora gemacht und festgestellt, dass 60 bis 70 Prozent der Menschen nicht deshalb geflohen sind, weil sie in Schwierigkeiten mit dem Assad-Regime geraten waren. Viele derjenigen, die wirklich vor Assad geflohen sind, haben oft nicht das Geld, um bis nach Europa zu gelangen. Sie leben in der Türkei oder im Libanon. Die meisten Geflüchteten in Europa wollten dem Militärdienst oder der ökonomischen Misere entkommen. Wir haben sogar Berichte vorliegen, denen zufolge das Assad-Regime Getreue gezielt nach Europa geschickt hat, um auch hier auf eine treue Unterstützergemeinde zugreifen zu können. Der in Koblenz verurteilte Anwar Raslan etwa ist mit einem Sonderauftrag des Regimes hierher geschickt worden. Nie hätten Täter wie er gedacht, dass ihnen hier etwas zustoßen kann. Schließlich würde der Internationale Strafgerichtshof (ICC) aufgrund des Vetos von Russland und China nicht gegen syrische Verbrechen vorgehen. Alle der jetzt Angeklagten lebten in einer komfortablen Situation. Dass dieser Prozess stattfand und mit einem Urteil zu Ende ging, hat alle überrascht, selbst die Opfer. Die große Bedeutung des Koblenzer Prozesses besteht auch darin, dass er nicht von der internationalen Gemeinschaft ausging, sondern vom Willen der Opfer. Das Koblenzer Verfahren ist Teil von Strafanzeigen, die von etwa 100 Syrer:innen in Deutschland, Österreich, Schweden und Norwegen eingereicht wurden. So etwas hat es nie zuvor gegeben.

Was bedeuten die Verfahren für die offenkundig sehr diverse Diaspora in Europa?

Alle, die an ein demokratisches Syrien glauben, sind sehr froh über die Verfahren; alle, die Verbrechen begangen haben, fürchten sich nun. Wir gehen davon aus, dass mehr als 1.000 Kriegsverbrecher hier leben, nicht nur vom Regime, sondern auch von ISIS und an deren bewaffneten Gruppen. Wir versuchen das alles zu verfolgen. Der Prozess zeigt auch Wirkung auf die syrische Community, die schon lange in Deutschland lebt und unter denen es Assad-Anhänger:innen gibt. Sie glaubten die Propaganda des Regimes, wie sie über die staatlichen Medien-Kanäle übertragen wurde. Dieser Prozess hat herrschende Bilder und Gewissheiten verschoben. Was bedeuten diese Verfahren für ein künftiges Syrien? Jetzt ist klar, dass es keine Normalisierung mit diesem Regime und seinen Verbrechern geben kann. Jetzt gibt es nicht nur Vorwürfe, sondern rechtskräftige Urteile. Es handelt sich um Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und es wird weitere Verfahren geben, die das bestätigen.

Interview: Katja Maurer

medico international unterstützt seit vielen Jahren die Arbeit zur Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen in syrischen Gefängnissen. Dazu zählt auch die Unterstützung von juristischem Beistand für Inhaftierte in Syrien und die Arbeit des MENA Prison Forums. Letzteres beschäftigt sich mit der Aufarbeitung des Gefängnissystems als systematische Herrschaftsmethode im Mittleren Osten und Nordafrika.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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