Drei Monate nach dem Sturz Assads ist die Zukunft Syriens ungewisser denn je. Die Euphorie über den Sturz des Regimes ist nach den Massakern an der alawitischen Minderheit überschattet von Verzweiflung und Angst. Überraschend kam nun die Einigung zwischen syrischer Zentralregierung und der kurdischen Selbstverwaltung in Nordostsyrien zustande. Über allem schwebt die Frage der gesellschaftlichen und juristischen Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen in Syrien.
„Ohne Gerechtigkeit, ohne eine vollständige Aufarbeitung der Diktatur in Syrien, kann es zu einem Bürgerkrieg kommen“, sagt Anas al-Rawi, Leiter des Hooz-Zentrums für politische Bildung in A´zaz und medico-Partner, bei unserer Begegnung vor knapp vier Wochen in Syrien. Dabei geht es nicht nur um die Verbrechen der Diktatur und deren Aufklärung, sondern auch um die Verbrechen, die von bewaffneten Gruppen während des 14-jährigen Bürgerkrieges begangen wurden.
Neu hinzugekommen sind nun die massenhaften Tötungen von Alawiten – mindestens 1000 Zivilist:innen sollen getötet worden sein. Die Nachrichtenlage ist unübersichtlich, Opferzahlen sind kaum präzise zu verifizieren. Klar ist indes, darin sind sich alle Beobachter:innen einig, dass das Massaker zu den schlimmsten Verbrechen der letzten 14 Jahre in Syrien gehört. Die offenen Wunden der syrischen Gesellschaft haben sich weiter vertieft. Was passiert ist, wird den Übergangsprozess auf eine harte Probe stellen.
Nachhallende Gewalt
Entzündet hatte sich der regelrechte Blutrausch letzten Donnerstag, nachdem bewaffnete Anhänger Assads Sicherheitskräfte der Regierung in einen Hinterhalt lockten, überfielen und 16 von ihnen töteten. Es folgten koordinierte Angriffe gegen Einrichtungen der Übergangsregierung, scheinbar mit dem Ziel ihrer Destabilisierung. Daraufhin mobilisierte die Übergangsregierung ihre eigenen Einheiten, um die Angriffe abzuwehren und zurückzuschlagen. Auch Milizen der von der Türkei gestützten Syrian National Army, kurz SNA, schlossen sich dem Aufruf an. Weitere Zehntausende Bewaffnete haben sich aus Homs, Aleppo, Idlib und anderen Städten Syriens auf den Weg an die Küste gemacht - Milizen, die weder der HTS noch der SNA angehören. Es folgten tagelange, unkontrollierte Massaker an der schutzlosen Zivilbevölkerung der Alawiten in der Küstenregion. Befehle der Übergangsregierung, Massaker und Plünderungen zu unterlassen, wurden ignoriert.
Es dauerte mehrere Tage, bis Sicherheitskräfte der Übergangsregierung dem Töten schließlich ein Ende setzten. In den schwer zugänglichen Bergen der Region ist die Lage aber weiterhin angespannt, wie wir von unseren Partnern vor Ort hören. Der syrische Übergangspräsident Ahmad al-Sharaa setzte eine Untersuchungskommission ein und versprach, innerhalb von dreißig Tagen, Ergebnisse zu präsentieren und Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen. Aufgrund des erschütterten Vertrauens in die Regierung, ist Transparenz bei diesem Prozess von großer Bedeutung. Die Vorgaben und Verpflichtungen, die sich aus dem humanitären Völkerrecht zum Schutz von Zivilist:innen in bewaffneten Konflikten für die Übergangsregierung ergeben, sind der Maßstab und müssen eingehalten werden. Die Möglichkeit, ein politisch integratives Syrien aufzubauen, dass alle sozialen Gruppen einschließt, ist sonst Geschichte, noch bevor es begonnen hat.
Auch in der Bevölkerung ist das Vertrauen in die Übergangsregierung schwer erschüttert. In Damaskus und anderen Teilen Syriens kam es zu Protesten und Solidaritätsbekundungen mit den Opfern und zu wichtigen Akten der Solidarität: Aus Damaskus, Afrin, Qamishlo und anderen Städten sind Gruppen und Initiativen der syrischen Zivilgesellschaft an die Küste unterwegs, um den betroffenen Menschen zu helfen und Nothilfe zu leisten.
Ungewisse Zukunft
An den Massakern und den verschiedenen – offiziellen und zivilgesellschaftlichen Reaktionen - wird deutlich, dass Aufklärung und Rechenschaft allein nicht reichen. Es bedarf Anstrengungen, die verschiedenen Gesellschaften Syriens zusammenzuführen. Nach 54 Jahren Diktatur und 14 Jahren Krieg ist das Land tief gespalten. Menschen, die keinen Krieg erlebt haben, leben neben Menschen, die seit Jahren in befreiten Gebieten leben, neben Menschen, die vertrieben wurden, neben Menschen, die Angehörige verloren haben, neben Menschen, die seit Jahren in Zelten leben, neben Menschen, die wie die syrischen Kurd:innen, aus einer vollkommen anderen historisch-politischen Konstellation heraus um ihre Anerkennung und Freiheit kämpfen. Realitäten zwischen denen Welten liegen, und die einander nicht selten als Ursache des eigenen Leids ansehen.
Die Schatten des Krieges und die über Jahrzehnte forcierten Fraktionierungen werden noch lange schwer auf dem Land lasten. Der Eindruck, den wir bei unserer Reise durch Syrien im Februar gewonnen haben, stimmt vorsichtig optimistisch: Viele Menschen sind von den Jahren des Bürgerkrieges erschöpft und wollen nicht mehr, dass Politik, Alltag und Gesellschaft von Gewalt bestimmt sind. In der solidarischen Anteilnahme mit den Betroffenen der Massaker zeigt sich, worauf es weiterhin ankommen wird – eine kritische Zivilgesellschaft, die für ein multiethnisches und friedliches Syrien einsteht und sich nicht einschüchtern lässt.
Seit 2011 unterstützt medico diejenigen, die ein demokratisches Syrien trotz Bürgerkrieg und Terror nicht aufgegeben haben – von Rojava bis Damaskus. Dabei ging und geht es um Nothilfe, Aufarbeitung von Verbrechen, Gesundheitsversorgung und die Stärkung feministischer Kämpfe.
Ob die Spendenkampagne „Solardarity“ oder das MENA Prison Forum, ob Artikel oder Podcast: medico versucht auch hierzulande, das Interesse und die Solidarität für die Region wachzuhalten. Dies ist nur möglich dank Ihrer großen Spendenbereitschaft.