Nachruf

Wahrheit als Provokation

05.02.2021   Lesezeit: 8 min

Wir trauern um unseren Freund und langjährigen Partner, den libanesischen Aktivisten, Journalisten, Verleger und Intellektuellen Lokman Slim. Er wurde am 3. Februar 2021 ermordet.

Vier Schüsse in den Kopf und einen in den Rücken. Das ist die schrecklich sachliche Beschreibung einer Hinrichtung. Der Mord an Lokman Slim am 3. Februar war ein politischer Mord an einem Menschen, mit dem viele Kolleginnen und Kollegen bei medico über viele Jahre zusammen gearbeitet haben.

Lokman Slim war mit allen Wassern gewaschen. Wohl auch deswegen mochte er keine einfachen Antworten. Wenn er sprach, dann ging er immer über den Horizont traditioneller Weltbilder, über festgefahrene Grenzen und falsche Gewissheiten hinaus. Gegen die Kultur der Gewalt und Feindschaft stellte er eine universelle Idee des Libanon und der Region. Er verfolgte unbeeindruckt die Idee, dass Feindbilder und Frontstellungen nur gelockert werden können, wenn sich alle mit den für sie unbequemen Wahrheiten auseinandersetzen.

Die Wahrheiten der Gegenwart legte Lokman mit seinem scharfsinnigen Denken frei. Die der Vergangenheit – besonders des Bürgerkriegs – mit einer akribischen Spurensuche. Lokman hob buchstäblich jeden Teppich hoch. Seine Idee von Erinnerungsarbeit war nahezu einzigartig für die arabische Welt. Er pflegte zu sagen: „Es ist offensichtlich, dass eine Strategie der Amnesie versagen muss“ – ohne die Wirkungen von Erinnerungsarbeit zu überschätzen. Gemeinsam mit seiner Partnerin und Ehefrau Monika Borgmann gründete er im Sommer 2004 die libanesische Initiative UMAM D&R, die sich der Aufarbeitung des Krieges verschrieben hat.

Die medico-Zusammenarbeit mit UMAM begann, als sich der Beginn des libanesischen Bürgerkrieges im Jahr 2005 zum dreißigsten Mal jährte. Doch der Krieg war damals – und ist es bis heute – immer noch Gegenwart und stand stets im Zentrum von Lokmans Aufmerksamkeit. Denn das libanesische Modell der gegenseitigen „Amnestie“ am Ende des Krieges ging mit einer Amnesie einher, einem öffentlichen Vergessen und Verdrängen.

Welche Geschichten werden gehört und welche nicht? Wie werden die Folgen politischer Gewalt individualisiert und wie kann die Aufarbeitung und die Erinnerung repolitisiert werden? Das waren Ausgangspunkte der Arbeit von Lokman, der schon vor der Gründung von UMAM begonnen hatte, das bis heute einzige umfangreiche Archiv des libanesischen Bürgerkrieges zusammenzustellen – und immer wieder darum kämpfen musste, es auch zu erhalten: Als die israelischen Bomben in der zweiwöchigen Eskalation mit der Hisbollah 2006 auch Ziele in Südbeirut erreichten, war das Lebenswerk von Lokman Slim in Gefahr. Die Bewohner*innen und das Archiv mussten kurzfristig evakuiert werden, denn die Druckwellen hatten auch das benachbarte Grundstück der Slims beschädigt.

Sich der Geschichte und ihrer Wahrheit zu stellen, in der er auch selbst ein Teil und ein Akteur war – als Sohn einer angesehenen, wohlhabenden schiitischen Familie im Süden Beiruts; als Intellektueller mit einer für diese Klasse „klassischen“ Karriereschritt an französischen Universitäten, der einen wichtigen Verlag in Beirut gründete und bis zu seiner Ermordung betrieb; aber vor allem immer wieder als intervenierender Journalist, Politiker und Künstler, der auf die Geschichte Einfluss nehmen wollte: Das war das Lebenswerk von Lokman Slim.

Die Orte dieser Interventionen waren ebenso wichtig wie ihr Inhalt. Die südlichen Vorstädte von Beirut, die sich im und nach dem Bürgerkrieg zu Hochburgen der mehrheitlich schiitischen Libanes*innen und ihrer starken Parteien Amal und Hisbollah verwandelten, waren auch 2005 für die liberale Mittel- und Oberschicht der Hauptstadt noch „No-Go areas“. Hier, in der Dahiye, lebte Lokman. Hier sitzt UMAM und hier finden regelmäßig Veranstaltungen statt. So wollte UMAM mit seinen Aktionen sichtbare und unsichtbare Grenzen überwinden – in beide Richtungen: Nicht nur sollten die Reichen zu Ausstellungen, Filmabenden und Debatten zu UMAM in den „Hangar“ kommen, umgekehrt organisierte UMAM Veranstaltungen in der Beiruter Innenstadt mit Jugendlichen aus den Vorstädten, die sich das „glitzernde Beirut“ der Nachkriegszeit nie selbst leisten konnten.

Auch die Filmproduktionen von UMAM, die wesentlich von Monika Borgmann verantwortet werden, legen den Finger gezielt dorthin, wo niemand im Libanon hinschauen wollte: Mit ihrem ersten Film „Massaker“ thematisierten die Beiden den Massenmord in den palästinensischen Vierteln Sabra und Shatila 1982. Der Film besteht aus einer langen, kaum aushaltbaren Abfolge von emotionslosen oder gar eitlen Bekenntnissen der Täter der Falange-Milizen, die nie zur Rechenschaft gezogen wurden und hier im Schutz der Anonymität erstmals über ihre Taten sprachen. „Die Erinnerung wachzurufen, ist wie ein Urteilsspruch und seine Vollstreckung“, sagt ein ehemaliger Milizionär in dem auf der Berlinale 2005 prämierten Film. Lokman Slim lebte zur Zeit des Massakers nur einen Kilometer von den Camps entfernt im schiitischen Stadtteil Harat Hraik im Süden Beiruts. Auch deshalb war es ihm wichtig, nachzuspüren, was Menschen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft veranlasste, förmlich in einen Blutrausch zu verfallen.

Mit ihrem letzten gemeinsamen Film betraten Monika Borgmann und Lokman Slim eine Zone des Schweigens, die im Libanon nicht selten tödlich enden konnte: Sie spürten den libanesischen Gefangenen nach, die im Zuge des Bürgerkriegs von pro-syrischen Milizen oder der syrischen Armee nach Syrien verschleppt und dort inhaftiert wurden. Während nahezu jeder libanesische Gefangene, der im Zuge der israelischen Besatzung des Südlibanons in israelischen Gefängnissen einsaß, in der libanesischen Öffentlichkeit als „Märtyrer des Widerstands“ gefeiert und gewürdigt wurde, lag über den libanesischen Gefangenen in den syrischen Kerkern allerdings ein Schweigegebot. So wurden all jene, die in Assads Folterkellern einsaßen, zu Verfemten ohne Namen und ohne Geschichte. Der Film „Tadmor“ zerriss diesen Mantel des Schweigens. Tadmor ist der Name des vielleicht furchtbarsten Gefängnisses in Syrien. Ein Ort der Folter, der Schikane und Willkür. Ein Ort ohne Zeit, in dem nur die Erniedrigung regiert. Monika Borgmann und Lokman Slim fanden die wenigen Gefangenen, die diese Hölle überlebt hatten und gaben ihnen die Möglichkeit zu sprechen; erst untereinander, dann öffentlich. 

In den beiden letzten Jahren wurde medico Teil des von Lokman mitinitiierten „Mena Prison Forums“, ein neues regionales Netzwerk aus Organisationen, Initiativen, Künstler*innen, Anwält*innen und Journalist*innen. Das Forum hat sich zum Ziel gemacht, die brutale Geschichte und Gegenwart von Gefangenschaft und Folter in der arabischen Welt zu untersuchen und Gegenstrategien zu benennen. Auch in dieser Initiative zeigte sich der hohe Anspruch von Lokmans Ideen: Im Forum werden die lokalen Aktivist*innen und ihre Erfahrungen zusammengeführt gegen ein politisches Machtinstrument, das in seinen Ausprägungen und Gewalt vielleicht unterschiedlich ist, aber demselben Prinzip von brutaler Repression und Unterdrückung unterliegt.

Wer diese und andere Dinge tut, lebt im Libanon gefährlich. Das wusste Lokman. Doch es gab Dinge, die ihm wichtiger waren als seine eigene Sicherheit. Dass Lokman zu einem ausgesprochenen Kritiker der Hisbollah wurde, hat ihn auch im Westen bekannt gemacht. Dabei kam es ihm nicht nur auf die Verteidigung eines säkularen Verständnisses von Politik und Gesellschaft an. Immer wieder argumentierte er vor allem gegen die konfessionelle „Geiselhaft“, in die die Hisbollah, aber auch alle anderen politisch-konfessionellen Kräfte im Libanon ihre jeweiligen Communities nehmen.

Lokman Slim war ein langer Begleiter und Partner von medico international. Wir kannten ihn alle, wenn auch nicht alle persönlich. Aber wir wussten durch ihn und durch Monika Borgmann, dass zur Klage über die ungerechten Weltverhältnisse auch gehört, die autoritären Tendenzen der Eliten im Süden wahrzunehmen. Hinter deren antiimperialistischer Rhetorik verbirgt sich nicht selten ein religiöser Fundamentalismus, der sich mit dem Ende säkularer Freiheitsutopien in seiner Gewalttätigkeit und Monstrosität immer weiter ausbreitet.

Menschen wie Lokman haben uns beigebracht, dass man es sich niemals in bequemen politischen Positionen mit klaren Feindbildern gemütlich machen sollte. Der Platz zwischen den Stühlen ist heute der Ausgangspunkt von Emanzipation. Für uns hier ist dieser Platz lediglich unbequem. Für unsere Kolleginnen und Kollegen im Süden ist er oft lebensbedrohlich. Lokman wurde geradezu überschüttet mit Morddrohungen. Jede einzelne war ernst zu nehmen. Das wusste er. Doch er hat sich nicht zum Schweigen bringen lassen. Noch bei den Aufständen im Libanon im Herbst 2019 organisierte er auf dem zentralen Protestcamp mit anderen ein Zelt, in dem politische Debatten ausgetragen wurden – solange, bis die Hisbollah das Camp infiltrierte und zerstörte.

Wir werden Lokman vermissen, nicht bloß als Partner und politischen Weggefährten, sondern auch als einzigartigen, lebensfrohen, mutigen, klugen und beeindruckenden Menschen.

Der Mord an Lokman ist nicht der erste dieser Art in der jüngsten Vergangenheit im Libanon. Viel zu viele Menschen mussten allein in den letzten Monaten sterben, sei es durch gezielte Tötungen oder durch die organisierte Verantwortungslosigkeit der Eliten, die zur verheerenden Katastrophe am Beiruter Hafen führte. Bislang ist niemand für diese Opfer und diese Verbrechen zur Verantwortung gezogen worden. Es passt zu der Situation des Landes, dass genau sechs Monate nach der Explosion von Beirut nun die Ermordung Lokmans die Gesellschaft sowie die Protestbewegung im Libanon schwer erschüttert. 

Lokmans Leben war dem Streit für eine wirkliche und grundlegende Veränderung des Libanon gewidmet – nicht zuletzt für ein Land, in dem nicht mehr straflos gemordet wird. Trotz seines Scharfsinns und seines Realismus hat er diesen Horizont und die Hoffnung auf eine gerechte und friedliche Region niemals aufgegeben. Wenn es eines Tages so weit ist, wird man ihn noch lange nicht vergessen haben.


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