Von Mario Neumann und Till Küster.
Der Satz von Karl Marx, demzufolge sich Geschichte „einmal als Tragödie, einmal als Farce“ wiederhole, ist allgemein bekannt. Im gleichen Text schreibt er wenige Zeilen später: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“ Für den Libanon scheinen beide geschichtsphilosophischen Thesen zu gelten, und zwar in besonderem Maße. Die „Tradition“ der Straf- und Verantwortungslosigkeit ist seit dem Ende des Bürgerkriegs immer wieder kritisiert und herausgefordert worden, nicht zuletzt von der großen Protestbewegung im Herbst 2019. Doch es kam keine demokratische Revolution, stattdessen machten die Eliten einfach weiter und ruinierten das Land. Dann flog der Hafen in die Luft, die Regierung trat zurück und als neuer Premierminister ist nun der von der Protestbewegung gestürzte Saad Hariri im Gespräch: von der Tragödie zur Farce, allerdings mit demselben Personal.
Im August 2020, kurz nach der Explosion in Beirut, reisten wir für medico in die weitgehend zerstörten Stadtteile Karantina, Mar Mikhael und Gemmayze. Als wir die kaputten Wohnungen sahen und die Geschichten von ruinierten Existenzen hörten, dachten wir, dass der Libanon definitiv am Tiefpunkt einer lang andauernden Katastrophe angelangt sein müsste – dass es nun sprichwörtlich nur noch bergauf gehen könne. Es hatte sogar kurz den Anschein, dass sich die Revolte aus dem Oktober 2019 fortsetzen würde. Die Explosion war schließlich Folge jener politischen Kultur der organisierten Verantwortungslosigkeit, gegen die Hunderttausende Libanes:innen ein knappes Jahr zuvor aufbegehrt hatten. Die Explosion müsse das definitive Ende eines faulen politischen Systems sein, dachten und sagten viele. Doch der Eindruck trog. Etwas mehr als ein halbes Jahr später sind nicht mehr nur der Hafen und die angrenzenden Stadtteile zerstört, inzwischen liegt das ganze Land in Trümmern. Der Niedergang, über Jahrzehnte vorangeschritten, hat sich seit Oktober 2019 massiv beschleunigt und – verstärkt durch die Corona-Pandemie – zu einer umfassenden gesellschaftlichen und gesundheitlichen Krise zugespitzt.
Gesellschaft im freien Fall
Im März 2021 war das Libanesische Pfund zeitweise nur noch ein Zehntel dessen wert, was bis Oktober 2019 der übliche Straßenpreis war. In Angst vor weiteren Verlusten horten Menschen panisch Lebensmittel. Immer wieder kommt es zu Plünderungen in Supermärkten, jüngst wurde ein Helfer, der Essensrationen an Bedürftige verteilte, beraubt und erschossen. Seit August 2020 ist das Land ohne arbeitsfähige Regierung, über eine Million Kinder werden seit über einem Jahr nicht beschult und es wird befürchtet, dass viele von ihnen niemals wieder in ein Klassenzimmer zurückkehren werden. Inmitten der Pandemie und ihren sozialen Folgen sind die Menschen weitgehend sich selbst überlassen, während und weil die herrschenden Gruppen ihre politische Macht kompromisslos verteidigen.
Umso wichtiger sind die Auseinandersetzungen um den Wiederaufbau des Hafens. Denn sie und der Kampf für Gerechtigkeit und Aufklärung stehen auch symbolisch für die Frage, ob und wie eine Neuordnung des gesamten politischen Systems nach der Katastrophe aussehen kann. In der Explosion im Hafen und in der fortdauernden Katastrophe kulminierten zwei Stränge eines maroden Systems und seiner langen Geschichte: zum einen die Kultur der Straflosigkeit, die mindestens seit Beginn des Bürgerkrieg im Jahr 1975 das Land beherrscht; zum Zweiten eine politische Ökonomie der Verantwortungslosigkeit, in der Land und Menschen nicht mehr sind als die Beute der herrschenden Cliquen.
Der Wiederaufbau ist also ein politischer Prozess, der die geltenden Machtstrukturen herausfordern muss, wenn er erfolgreich sein will. Viele der Probleme lassen sich jedenfalls nicht allein mit Hilfsmaßnahmen beheben. Daran ändern auch die 384 offiziell bei der Armee registrierten Hilfsorganisationen im Hafen nichts. Der Journalist und Aktivist Kareem Chehayeb vom medico-Partner The Public Source, einem Beiruter Medienkollektiv, spricht wie viele andere längst von einer „NGO-Republik“. Damit ist sowohl die Omnipräsenz der Hilfsorganisationen gemeint als auch die Tatsache, dass öffentliche soziale Infrastrukturen oder gar Fürsorge schlicht nicht existieren: Viele Menschen sind auf Zuwendungen von privaten Hilfsorganisationen oder religiösen Gemeinschaften angewiesen, also auch von deren Güte oder Willkür abhängig. An den strukturellen Problemen ändert das wenig.
Recht auf Stadt, Kampf um Rechte
Bereits am Tag nach der Explosion haben viele zivilgesellschaftliche Organisationen den Wiederaufbau und damit die politische Auseinandersetzung um einen Neuanfang in Angriff genommen. So hat Public Works, medicos Partnerorganisation, seine langjährige Arbeit in den betroffenen Stadtvierteln intensiviert. Das Kollektiv vernetzt Nachbarschaftskomitees und Bewohner:innen mit Aktivist:innen, Urbanist:innen und Stadtplaner:innen. Im Fokus stehen drei strategische Aufgaben: Erstens das Monitoring von Schäden sowie drohenden oder bestätigten Verdrängungen. Die Betroffenen sollen rechtliche Unterstützung erhalten, eine schnelle Vermittlung bzw. Instandsetzung von Wohnraum soll verhindern, dass Hausbesitzer und Investoren Gebäude als unbewohnbar deklarieren können. Zweitens bieten „Neighbourhood Meetings“ den Bewohner:innen die Möglichkeit, ihre Prioritäten beim Wiederaufbau zu diskutieren. Ziel ist ein „Fahrplan“ für den lokalen Wiederaufbau, bei dem die Prioritäten der Bewohner:innen im Vordergrund stehen. Drittens begleitet Public Works die Arbeit in den Stadtteilen mit einer größer angelegten Öffentlichkeits- und Aufklärungsarbeit. Denn die Finanzialisierung der Bau- und Immobilienwirtschaft hat die Entwicklung der Stadtviertel rund um den Hafen schon im vergangenen Jahrzehnt geprägt. Sollte die gegenwärtige Krise überwunden werden, drohen Gentrifizierung, Stadttourismus, Spekulation und Vertreibung raum-und besitzergreifend zurückzukehren. Die ersten veröffentlichten Pläne internationaler Akteure für den Wiederaufbau – unter ihnen auch deutsche Beratungs- und Immobilienfirmen – bestätigen die Befürchtungen, dass ein Wiederaufbau ohne und gegen die ansässige Bevölkerung droht.
Der Kampf um Wohnraum für alle und für das „Recht auf Stadt“ ist Teil eines umfassenden Kampfes um soziale und politische Rechte im Libanon, in dem vielschichtige Formen der Entrechtung ein zentrales Element des politisch-gesellschaftlichen Lebens und damit kollektive Erfahrung sind. Das gilt besonders für jene Menschen ohne libanesischen Pass; seien es syrische Flüchtlinge, die in der Illegalität gehalten werden; seien es Palästinenser:innen, die als Staatenlose seit Jahrzehnten systematisch benachteiligt werden; seien es Arbeitsmigrantinnen, die als „Dienstmädchen“ ihre Rechte an ihre „Hausherren“ abtreten mussten und im Zuge der Krise zu Tausenden auf die Straße gesetzt wurden. Ihnen allen wird jeden Tag aufs Neue klar gemacht, dass sie nicht erwünscht sind und keine Unterstützung zu erwarten haben. Indem die Partnerorganisationen von medico sich dem vor Ort und auf der Seite der Entrechteten entgegenstellen, bewahren und erstreiten sie auch Perspektiven für einen anderen Libanon. Dass sie dabei viel und manche sogar ihr Leben riskieren, lässt erahnen, wie schwierig die kommenden Zeiten im Libanon werden dürften.
Mario Neumann ist verantwortlicher Redakteur des medico-Rundschreibens und vertritt medico im politischen Berlin.
Twitter: @neumann_aktuell
Till Küster ist Politikwissenschaftler und leitete bis 2023 die Abteilung für transnationale Kooperation bei medico international.
Twitter: @KuesterTill