Wiederaufbau Beirut

„Wir sind die Gesellschaft“

21.04.2021   Lesezeit: 8 min

Wiederaufbau ist ein politischer Prozess, an dem die lokalen Communities beteiligt sein müssen: Eine Erklärung des medico-Partners Public Works anlässlich der Pläne europäischer Investor:innen für den Wiederaufbau des Beiruter Hafens.

Anfang April wurde in Beirut ein von deutschen Firmen und Unternehmensberatungen erarbeiteter Plan zum Wiederaufbau des Hafens und der umliegenden Stadtteile vorgestellt, der laut Präsentation 50.000 Menschen dauerhaft in Arbeit bringen soll. Federführend an der Ausarbeitung beteiligt waren die deutschen Immobilienberater Colliers, die Hamburg Port Consulting (HPC) und das Beratungsunternehmen Roland Berger. Das Projekt soll zwischen 5 und 15 Milliarden Dollar kosten und private Investitionen anlocken. Während die Pläne in bunten Farben gemalt und präsentiert wurden, erinnern sie in Beirut viele an das letzte große, städtische „Wiederaufbauprogramm“:

Nach dem Bürgerkrieg war das Bau- und Immobilienunternehmen „Solidere“, das dem später ermordeten Premierminister Rafik Hariri gehörte, wesentlicher Akteur des Wiederaufbaus. Hariri war als Premierminister gleichzeitig Vorsitzender des Unternehmens – eine außergewöhnliche Art von Public-Privat-Partnership, die das Unternehmen mit besonderen Möglichkeiten ausstattete: Durch Vertreibungen und Enteignungen, die mit Solidere-Aktien „entschädigt“ wurden, durchlebten ehemals ärmer geprägte Viertel eine Transformation in Orte luxuriöser Wohnkomplexe und Privatkliniken. Große Teile des Zentrums von Beirut sind in diesem Prozess zu einer morbiden Shoppingmall mit Wolkenkratzern, Büros, Tiefgaragen und einer überdimensionierten Moschee umfunktioniert worden.

Die Erklärung von Public Works:

Zerstörte Häuser, Geschäfte und Nachbarschaften, der Verlust von Angehörigen und ein allgemein entsetzlicher Anblick der Zerstörung: Ähnlich wie in den Zeiten nach dem Bürgerkrieg durchleben die Menschen nach der Explosion im Hafen Beiruts und in den umliegenden Stadtteilen ein Trauma. Am Freitag vergangener Woche haben deutsche Unternehmen den libanesischen Behörden ein Milliarden-Dollar-Projekt zum Wiederaufbau und zur Entwicklung des Hafens von Beirut und seiner Umgebung vorgelegt. Im Falle seiner Annahme soll der Plan unter anderem von der Europäischen Investitionsbank finanziert werden. Inmitten der Zerstörung und des Traumas mag der vorgestellte Wiederaufbauplan für den Hafen von Beirut und die umliegenden Gebiete scheinbar ein Grund zur Hoffnung sein. Doch es geht um mehr als bunte Graphiken und beruhigende Schlagzeilen. Das vorgeschlagene Projekt – oder ähnlich lautende Vorschläge – hätten erhebliche Auswirkungen auf die betroffenen Stadtteile und die Stadt insgesamt. Wenn wir nicht jetzt die entsprechenden Fragen stellen und die Prioritäten der vertriebenen und betroffenen Menschen ansprechen und priorisieren, werden die Folgen dieser Projekte nur eine stärkere Zerstörung der betroffenen Gebiete und eine stärkere Missachtung der Rechte der Menschen sein.

Der Plan zielt darauf ab, einen modernen und extravaganten  Hafen zu entwerfen, der Beiruts historische und geografische Lage als Tor zu anderen libanesischen Regionen wiederherstellt. Dies umfasst die Verlagerung des Hafens auf die Ostseite des Beirut-Flusses, wobei der Lagerbereich auf ein Grundstück verlegt wird, das derzeit von der Mülldeponie in Bourj Hammoud besetzt ist.

Der Plan umfasst auch den Bau von Hochhäusern für touristische Zwecke sowie eine Reihe von Hochhäusern mit Meerblick und einen zentralen Park in der Mitte des Gebiets. Außerdem ist ein Wohnkomplex für Familien mit Sportanlagen, Kindergärten und Schulen vorgesehen. Das Projekt soll erklärtermaßen mit Geld von privaten Investor:innen finanziert werden, das in die öffentliche Infrastruktur investiert wird.

Ein Geschäftsmodell, das Menschen und kommunale Strukturen ausschließt

Zur Kritik am Vorschlag selbst wurde bereits viel gesagt. In der Tat wird der Fehler von „Solidere“, dem Beiruter Wiederaufbauprogramm nach dem Bürgerkrieg, durch das Überstülpen architektonischer Vorstellungen über das bestehende soziale Stadtgefüge erneut begangen. Die Merkmale der umliegenden Gebiete, die bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen oder bereits verabschiedete politische Maßnahmen werden nicht berücksichtigt. Der Fehler, den der libanesische Staat im Rahmen des Solidere-Projekts begangen hat, als er die Planungs- und Entwicklungsentscheidung in die Hände eines privaten Unternehmens legte, wiederholt sich im aktuellen Wiederaufbauplan.

Das Projekt ist ein Geschäftsmodell, das sich in Privatbesitz befinden und international kontrolliert werden soll. Während es darauf abzielt, die großen lokalen Akteur:innen zu marginalisieren, schlägt es kein alternatives  Modell vor, sondern stützt sich in seinem Ansatz auf europäische Immobilien-Entwicklungsprojekte, die je nach lokalem Kontext implementiert wurden. Das Projekt erwähnt nicht einmal die lokale Bevölkerung: Wir wissen nicht, wer die vorgesehenen Schulen besuchen wird, wer diese Parks besuchen soll und wer in der Wohnanlage wohnen wird. Wir wissen auch nicht, in welchem ​​Verhältnis die öffentlichen Programme zur Umgebung stehen und welche Rolle die Behörden spielen. Die Rolle des Staates in all dem wird ebenfalls nicht erwähnt.

Dem Wiederaufbaugesetz fehlt eine Politik, die Lehren aus der Vergangenheit zieht

Abgesehen von der Kritik des deutschen Vorschlags muss jedoch der Rahmen erörtert werden, der sich um all dies kümmern soll. Bevor wir beginnen, Teile der betroffenen Gebiete den Zuständigen anzuvertrauen oder sie ausländischen Gebern, Investoren und Architekten zu übergeben, muss vor Ort entschieden werden, welche Wiederaufbaupolitik wir wollen.

Vielleicht ist das kürzlich erlassene Wiederaufbaugesetz der wichtigste Beweis dafür, wie wichtig es ist, über den Rahmen und die Vision des Wiederaufbaus zu diskutieren. Das Gesetz sieht ein Koordinierungskomitee für den Wiederaufbau vor, dem der Gouverneur von Beirut, ein Vertreter des Armeekommandos und Vertreter des Ministeriums für öffentliche Arbeiten, des Finanzministeriums, des Kulturministeriums, des Rates für Entwicklung und Wiederaufbau, der öffentlichen Einrichtung für Wohnungswesen, der Hochhilfekommission und das Ingenieurskonsortium in Beirut angehören sollen. Nicht vorgesehen ist in diesem Komitee die Vertretung der Stimme und der Rechte von Betroffenen und der Bevölkerung. Letzteres würde die Transparenz und Beteiligung fördern, die nach dem gesellschaftlichen Vertrauensverlust in die offiziellen Prozesse erforderlich wäre.

Trotz aller Forderungen nach der Einrichtung partizipativer und transparenter Mechanismen, die die Arbeit offizieller Stellen begleiten, sind die meisten Betroffenen immer noch von den Entscheidungsstrukturen ausgeschlossen, in denen ihr Schicksal bestimmt wird. Dem Gesetz fehlt auch jede Politik oder Vision, die aus der Vergangenheit die angemessenen Lehren zieht und von ihnen profitieren kann. Vielmehr verfolgt es einen Ansatz ohne soziale Aspekte, der die urbane Stadt auf Gebäude und Immobilien reduziert. Außerdem fehlen gesetzlich verankerte Schritte, wie die Rehabilitation der am stärksten betroffenen Stadtteile aussehen soll oder wie das Recht auf Zugang zu erschwinglichem Wohnraum, um der Vertreibung der alten und neuen Bewohner:innen dieser Stadtteile entgegenzuwirken, implementiert wird, anstatt sie mit Gutverdiener*innen zu ersetzen. Es enthält auch keine Anreize für die wirtschaftliche und soziale Erholung der betroffenen Gebiete oder einen Plan zur Wiederbelebung des öffentlichen Raums.

Kurz gesagt, das Gesetz ermöglicht den Bewohner:innen keinen schnellen Wiederaufbau ihrer beschädigten Gebäude. Es klärt nicht den Weg zu Entschädigungen und schafft keine Anreize zur Erhaltung erschwinglichen Wohnraums, es eröffnet keinen Weg zur Wiederbelebung des öffentlichen Raums und legt keine Richtlinien zur Begrenzung von Spekulationen fest.

Die Rehabilitation der Nachbarschaft ist ein politischer Prozess

Der Wiederaufbau ist aber eine politische Frage und nicht technischer Natur. Der Prozess der Sanierung und Wiederbelebung der betroffenen Stadtteile Karantina, Mar Mikhael und Gemmayzeh bis Geaitawi wird ein echter politischer Kampf sein. Dazu müssen wir dringend Visionen und Prinzipien skizzieren, unabhängig davon, wer mit der Umsetzung oder Finanzierung beauftragt wird. Wenn das verkündete Gesetz keinen partizipativen und transparenten Rahmen schafft und keine umfassende, faire und solide Politik für den Wiederaufbau der betroffenen Stadtteile festlegt und wenn internationale Gremien wie deutsche Unternehmen nicht dazu beitragen, die Visionen der Menschen einzubeziehen, dann sollten wir einen alternativen Plan ausarbeiten und ihn in allen Orten der Entscheidungsfindung und -treffung durchsetzen.

Wir sind die Gesellschaft, die Gemeinden, die Familien der Opfer und alle Bewohner:innen der betroffenen Stadtteile.

  • Der Rehabilitationsplan soll den Wiederaufbau von Ökonomie und Gesellschaft in den betroffenen Stadtteilen sicherstellen und sich nicht auf Gebäude und Infrastruktur beschränken.
  • Ziel ist es, Nachbarschaften und das tägliche Leben wiederherzustellen sowie allen Menschen zu ermöglichen, so schnell wie möglich zurückzukehren, bevor es für sie zu spät ist.
  • Es muss ein Plan sein, der die Grundlagen der Stadtteile in den Mittelpunkt der Ausrichtung ihrer Zukunft stellt.
  • Er sollte das Recht auf Wohnraum für alle und die Menschen vor vorübergehender und dauerhafter Vertreibung schützen;
  • Es braucht einen Plan, der die Umwelt respektiert und darauf abzielt, gemeinsame und öffentliche Räume auf eine für alle zugängliche Weise wiederzubeleben;
  • Ein Plan, der die Gleichstellung der Opfer garantiert und verschiedene soziale Gruppen ohne Diskriminierung einbezieht; ein Plan, der eine faire Entschädigung garantiert und die Zahlungsmechanismen und den Zeitplan für die Verteilung klärt.
  • Schließlich muss es ein Plan sein, der darauf abzielt, einen allgemeinen Rahmen zu entwickeln, der die Beteiligung aller Opfer und Bewohner:innen der betroffenen Gebiete an der Planung, Organisation, Koordinierung und Umsetzung gewährleistet.

Wir haben das Ergebnis der in den letzten Jahren durchgeführten „Wiederaufbauprojekte“ gesehen. Heute wissen wir genau, was der Ausschluss der Betroffenen bedeutet, und wir sind der Ansicht, dass Projekte oder Vorschläge, die nicht auf allgemeinen Rahmenbedingungen und integrativen und soliden Wegen beruhen, nicht die von uns angestrebte Gerechtigkeit erreichen können. Gerade nicht solche Pläne, die von den Akteuren vorgestellt werden, die von der Finanzierung und Umsetzung profitieren würden.

Public Works ist ein Kollektiv aus Beirut, das sich kritisch und kreativ mit einer Reihe von städtischen und öffentlichen Themen im Libanon auseinandersetzt. Mit einem „Recht auf Stadt“-Ansatz wird versucht, die Ursachen für räumliche Ungleichheit und die  Herausforderungen für die Schaffung gerechter Städte und Entwicklung anzugehen. Public Works initiiert multidisziplinäre Projekte, die Gegenstrategien zur Stadtplanung und Politikgestaltung im Libanon entwickeln. Der Fokus liegt dabei auf der Frage, wie neoliberale Urbanisierung und Immobilienspekulationen die Lebensgrundlagen der Bewohner:innen, ihre Wohnungen und ihre Umgebung zerstört haben. medico unterstützt Public Works seit der Explosion im Hafen von Beirut unter anderem bei der Arbeit mit den Bewohner:innen der betroffenen Stadtteile.

Spendenstichwort: Libanon

Übersetzung: Radwa Khaled-Ibrahim


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