Der Leitartikel

Der lange Weg nach rechts

27.05.2024   Lesezeit: 7 min

Der Grundstein des Rechtsrucks in Europa wurde in der Migrationspolitik gelegt. Der Leitartikel des medico-Rundschreibens 02/2024.

Von Ramona Lenz

Wenn Anfang Juni in der EU gewählt wird, ist ein weiterer enormer Rechtsruck zu erwarten und damit die Gefährdung des europäischen Projektes selbst. Eines Projektes, dessen Erfolg gern und häufig daran gemessen wird, den Frieden in Europa über Jahrzehnte gesichert zu haben. Um Europa auch in Zukunft „vor globalen Bedrohungen“ zu schützen, forderte Frankreichs Präsident Macron unter Zustimmung von Bundeskanzler Scholz erst kürzlich den Aufbau „einer europäischen Verteidigungsinitiative“, ohne die „unser heutiges Europa“ sterben könne. Bei den immer lauter werdenden Forderungen nach Aufrüstung und Militarisierung bleibt die Frage offen: Wie steht es eigentlich um die Verteidigungsfähigkeit Europas gegenüber seinen inneren Feind:innen, den rechtsextremen und nationalistischen Kräften, die nicht zuletzt zur Europawahl antreten, um „unser heutiges Europa“ abzuschaffen?

Rechten Kräften ist es in den letzten Jahren und Jahrzehnten gelungen, das Thema Migration auf eine Weise zu thematisieren, dass die Europäische Union daran zu zerbrechen droht. Inzwischen gehören das Leiden und Sterben an Europas Grenzen zur Normalität. Brutale Pushbacks an Land und auf See haben nicht nur Gewöhnungseffekte erzeugt, es wird auch immer schwerer, gegen solche Menschenrechtsverstöße vorzugehen. Flüchtlinge und ihre Unterstützer:innen werden systematisch kriminalisiert. Vor kurzem wurde die seit vielen Jahren vorbereitete Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) von der Mehrheit der Fraktionen im Europaparlament beschlossen.

Diese Reform stellt eine Zäsur in der Geschichte des europäischen Asylrechts dar. Was im Fall von Elendslagern wie dem bei Moria auf Lesbos noch für Empörung gesorgt hat, erhält nun einen rechtlichen Rahmen: Der individuelle Rechtsanspruch auf Asyl wird weitgehend abgebaut. Wer über einen „sicheren Drittstaat“ einreist, darf nicht mehr auf ein faires Asylverfahren hoffen, sondern kann in Schnellverfahren an der Grenze abgewiesen werden. Während des gesamten Verfahrens, das Monate dauern kann, können Schutzsuchende unter haftähnlichen Bedingungen festgesetzt werden. Eine Ausnahme für Familien mit Kindern gibt es nicht. Und im Fall von „Krisen“ sind zusätzliche Verschärfungen möglich.

Die EU setzt außerdem seit vielen Jahren auf Rückübernahmeabkommen mit Ländern außerhalb Europas, unabhängig davon, wie es um deren rechtsstaatliche Verfasstheit geht und was Flüchtlinge dort erwartet. Nach Ägypten und Tunesien ist derzeit der Libanon im Fokus von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die zugleich Spitzenkandidatin der nach rechts offenen Europäischen Volkspartei für die Europawahl im Juni ist. Selbst das Bürgerkriegsland Syrien könnte bald als sicher genug für Rückführungen erachtet werden.

Solche Deals müssen lukrativ sein, damit die Verhandlungspartner:innen – häufig autoritäre Regierungen oder zerrüttete Staaten – sich darauf einlassen. So soll Ägypten unter dem Gewaltherrscher Abdel Fatah al-Sisi laut Ankündigung von der Leyens in den nächsten Jahren 7,4 Milliarden Euro erhalten. Die Zahlungen dürften vor allem al-Sisis Machterhalt nutzen. Wie es Flüchtlingen tatsächlich ergeht, interessiert die EU nicht. Sie lagert die mit der Schließung ihrer Außengrenzen verbundenen Menschenrechtsverletzungen aus und macht sich zunehmend erpressbar.

Fortschreitende Desintegration

Was im Rahmen der GEAS-Reform euphemistisch Solidaritätsmechanismus genannt wird und was im Rahmen von Rückübernahmeabkommen vorangetrieben wird, beschreibt das Gegenteil von Solidarität. Nicht nur weil damit die komplette Entsolidarisierung mit Menschen auf der Flucht einhergeht. Dieser Mechanismus ist zugleich Ausdruck des fortschreitenden Desintegrationsprozesses der EU, in dem einzelne Staaten sich einer gemeinsamen europäischen Verantwortung entziehen und nationalstaatliche Interessen in den Vordergrund stellen. Die EU hat mehr und mehr den rechten Kräften nachgegeben und damit fatale Fehler gemacht, die ihr nun das Fundament entziehen.

Dabei darf nicht vergessen werden, dass die EU in kolonialer Manier von Beginn an auf die Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit im Inneren durch Gewalt und Verwüstung jenseits ihrer Grenzen setzte. Wenn die EU-Institutionen am „Europatag“ „Frieden und Einheit in Europa“ feiern, beziehen sie sich auf den 9. Mai 1950. Damals beschlossen Deutschland und Frankreich in der Schuman-Erklärung, ihre Kohle- und Stahlproduktion gemeinsam zu verwalten, um einen weiteren Krieg „nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich zu machen“, so der damalige französische Außenminister Robert Schuman. Dies führte zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), einer Vorläuferin der heutigen EU. Dass Frankreich zu diesem Zeitpunkt unter Beteiligung zigtausender deutscher Fremdenlegionäre in Indochina einen blutigen Kolonialkrieg führte, in dem Hunderttausende Menschen getötet wurden, spielt bis heute keine Rolle. Ebenso wenig das auch in der Schumann-Erklärung formulierte Ziel der „Entwicklung des afrikanischen Kontinents“, was nichts anderes bedeutete, als die fortgesetzte Ausbeutung von Menschen und Ressourcen in Afrika.

Immer deutlicher zeigt sich, dass die Externalisierung von Gewalt und Unrecht nicht ohne Schaden für Demokratie und Frieden im Inneren Europas bleiben kann. Was die EU an Menschenrechtsverletzungen an ihren mittlerweile vorverlagerten Außengrenzen zulässt, wird zunehmend von autoritären Entwicklungen im Inneren begleitet. Die angebliche Notwendigkeit der strengeren Regulierung von Flucht und Migration ist zu einem Instrument geworden, mit dem härteres Durchgreifen und totalitäres Regieren generell legitimiert werden. Oder wie Bernd Kasparek vom Rat für Migration es formuliert: „Den Rechten geht es nicht nur um Migration, sie wollen einen autoritären Umbau Europas.“

Autoritärer Umbau

Dieser Umbau ist längst in vollem Gange. Im kürzlich veröffentlichten State of Civil Society Report von CIVICUS für das Jahr 2023 wurde Deutschland in der Demokratie-Bewertung von „open“ to „narrowed“ herabgestuft, wobei sich der Bericht vor allem auf Repressionen gegen Klimaaktivist:innen bezieht. Darüber hinaus sieht er in der weltweiten Unterdrückung der Proteste gegen das Blutvergießen in Gaza mittels Antisemitismus- oder Terrorismusvorwürfen eine große Gefahr für die Demokratie. Nach dem Recht auf Asyl droht nun das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Europa erheblich Schaden zu nehmen.

Die neue Normalität scheint eine der Redeverbote und Veranstaltungsabsagen für linke und demokratische Kräfte zu werden. Das müsste nicht so sein. Es gab in den letzten zehn Jahren bedeutende Bewegungen und Ereignisse, an denen Europa hätte wachsen und sich entwickeln können. Sei es die Solidaritätsbewegung mit Geflüchteten nach 2015, die Klimaproteste vorwiegend junger Leute oder die Demonstrationen gegen die Sparpolitik der EU. Statt diese Bewegungen als Chance für die Demokratisierung der Europäischen Union und für eine zukunftsfähige Umsetzung des Friedensprojektes Europa zu sehen, hat man sie diffamiert und zurückgedrängt. Dabei bräuchte man sie jetzt so dringend, um den Durchmarsch der Rechten zu verhindern.

Die Demonstrationen in Deutschland infolge der Correctiv-Recherchen Anfang des Jahres sind schnell wieder abgeflaut. Sie haben zwar gezeigt, dass große Teile der Bevölkerung nicht bereit sind, autoritäre Entwicklungen einfach hinzunehmen. Nachhaltig Grund zur Hoffnung geben jedoch vor allem diejenigen, die trotz zunehmender Repressionen unbeirrbar gegen die Zerstörung des Klimas und für die Rechte von Flüchtlingen und Migrant:innen eintreten, sowie die Millionen von Menschen, die seit Beginn der israelischen Offensive infolge des Hamas-Massakers am 7. Oktober weltweit für Frieden in Gaza und für alle Menschen zwischen Mittelmeer und Jordan auf die Straße gehen.

Die Repressionen, denen dabei auch die vielen ausgesetzt sind, die sich deutlich gegen Antisemitismus und Hamas-Terror positionieren, haben von Israel über Deutschland bis in die USA dramatische Dimensionen angenommen. Längst treten die Protestierenden daher nicht mehr „nur“ für ein Ende des Gaza-Krieges ein, sondern zugleich für das in vielen demokratisch verfassten Gesellschaften zunehmend bedrohte Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Auch in zahlreichen europäischen Städten kam und kommt es trotz Repressionen zu Protesten gegen Krieg, Umweltzerstörung und Ausgrenzung, getragen vor allem von jungen Leuten. Wenn ein menschenrechtsbasiertes und lebenswertes Europa gerade irgendwo verteidigt wird, dann hier.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Ramona Lenz (Foto: medico)

Ramona Lenz ist Sprecherin der Stiftung medico. Über viele Jahre war die Kulturanthropologin in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für das Thema Flucht und Migration.

Twitter: @LenzRamona


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