EU-Ägypten-Deal

Die nützliche Diktatur

22.04.2024   Lesezeit: 6 min

Mit einem milliardenschweren Migrationsdeal stützt die EU die auf externe Wirtschaftshilfen angewiesene Sisi-Diktatur – auch in Vorbereitung auf eine mögliche erzwungene Massenflucht aus Gaza.

Von Sofian Philip Naceur

Die EU macht in Sachen Auslagerung und Verschärfung ihres Grenzkontrollregimes abermals Nägel mit Köpfen. Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), die nun nach jahrelangen Verhandlungen und extensiver Lobbyarbeit ihrer Befürworter:innen vom EU-Parlament verabschiedet wurde, ist nicht nur ein weiterer Nagel im Sarg des Grundrechtes auf Asyl und Schutz, sondern auch ein weiterer Schritt bei der Auslagerung migrationsbezogener Repressalien über die Außengrenzen der EU hinaus.

Nur wenige Wochen vor der finalen Abstimmung über das GEAS ist es den europäischen Grenzregimearchitekt:innen gelungen, ein Migrationsabkommen mit Ägypten abzuschließen – mit weitreichenden Konsequenzen für Migrant:innen und Geflüchtete, aber auch für Ägypter:innen. Obwohl das Land unter Präsident Abdel Fattah Al-Sisi seit 2013 mit eiserner Faust regiert wird, reisten zur Unterzeichnung des Abkommens im März 2024 gemeinsam mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gleich fünf EU-Staats- und Regierungschefs nach Kairo.

Nach Tunesien und Mauretanien ist dies seit letztem Sommer schon der dritte derartige Migrationsdeal zwischen der EU und einem nordafrikanischen Staat. Im Ergebnis dürften diese Abkommen und das GEAS das Asylrecht in der EU auf unabsehbare Zeit wirkungsvoll untergraben oder gar de facto abschaffen und gleichzeitig die repressive Eindämmung jedweder Form von Migration und Flucht in nordafrikanischen Staaten signifikant ausweiten – und das trotz ausgiebig dokumentierter systematischer Menschenrechtsverletzungen ebenjener Staaten.

Im Rahmen des neuen Deals will Brüssel dem wirtschaftlich und monetär kurz vor dem Kollaps stehenden Ägypten bis 2027 insgesamt 7,4 Milliarden Euro in Form von Krediten und Zuschüssen zur Verfügung stellen, 200 Millionen Euro davon zugunsten ägyptischer Polizei- und Grenzbehörden für Ausbildungs- und Ausrüstungsmaßnahmen. Mehr als die Hälfte der Mittel ist gebunden an die Umsetzung eines neuen Abkommens mit dem Internationalen Währungsfund (IWF), der Ägypten zusätzliche Milliardenkredite zur Verfügung stellen will. Europa instrumentalisiert damit abermals eine Notlage und die Strukturschwäche einer peripheren Ökonomie, um einen von einer Armee regierten, für Brüssels Interessen aber nützlichen, Polizeistaat am Leben zu halten. Durch den Deal wird die EU Ägyptens Militärregime mit ebenjenen polizeilichen Hilfsmitteln beliefern, die dieses braucht, um seine diktatorische Herrschaft im Land zu konsolidieren.

Ebenfalls mit von der Partie bei diesem großangelegten Stabilisierungsunterfangen zugunsten der seit den 1970ern auf regelmäßige externe Hilfe angewiesenen ägyptischen Volkswirtschaft sind die Vereinigten Arabischen Emirate. Diese hatten Anfang März einen 35 Milliarden US-Dollar schweren Immobiliendeal mit Ägypten verkündet, der frische Mittel ins Land spülen und langfristig Milliardenzuflüsse und Jobs garantieren soll. Ähnliche Versprechen sind zwar schon seit Jahren aus ägyptischen Regierungsstuben zu hören – das Megaprojekt einer neuen Verwaltungshauptstadt ist nur die Spitze des Eisberges. Doch als rettende Anker für eine von ausländischen Investitionen abhängige Volkswirtschaft taugen derlei Initiativen kaum, denn sie schaffen vor allem Spekulationsobjekte. Das ist auch im Interesse der Golfstaaten, aus denen das Kapital für viele dieser Großprojekte kommt.

„Too big to fail“

Bei dem Besuch europäischer Spitzenpolitiker:innen im März ging es also vor allem um die Sicherstellung der ägyptischen Zahlungsfähigkeit, Bereitstellung frischer Gelder für die auf Umverteilung von unten nach oben setzende Wirtschaftspolitik des Regimes sowie den Ausbau der Migrationskontrolle im Land selbst und an Ägyptens Außengrenzen. Europas Charmeoffensive in Kairo wird nicht zu Unrecht als Antwort auf den Anstieg irregulärer Ankünfte von Ägypter:innen in der EU eingeordnet. 2022 führten ägyptische Staatsbürger:innen die nach Nationalitäten aufgeschlüsselte Statistik über irreguläre Ankünfte in Italien mit 20 Prozent gar an – eine Entwicklung, die in Brüssel, Rom oder Berlin die Alarmglocken schrillen ließen. Wichtigster Antreiber des in Brüssel seit Monaten vorangetriebenen Abkommens sind aber die Entwicklungen an Ägyptens nordöstlicher Grenze und im Roten Meer.

Während seit Beginn des Krieges im Sudan mindestens eine halbe Million Menschen nach Ägypten geflüchtet sind, bereitet sich das Al-Sisi-Regime bereits auf die mögliche Ankunft Hunderttausender palästinensischer Flüchtlinge aus dem Gazastreifen vor. Die Aufrufe israelischer Politiker:innen, die Palästinenser:innen aus Gaza zu vertreiben, der bisherige Kriegsverlauf, Israels Ankündigung einer Bodenoffensive in der palästinensischen Stadt Rafah und die von ägyptischen Behörden im Nord-Sinai eingeleiteten Notfallmaßnahmen nähren weiterhin Befürchtungen, Massenvertreibungenvon Palästinenser:innen aus Gaza in den Nord-Sinai könnten früher oder später tatsächlich erzwungen werden. Ägyptens Vorbereitungen für das „Management“ palästinensischer Flüchtlinge laufen derweil auf Hochtouren, auch wenn Al-Sisis Regime weiterhin unablässig seine kategorische Ablehnung jedweder Vertreibungsszenarien zum Ausdruck bringt.

Angesichts jahrzehntelanger Debatten um einen palästinensischen Staat im Norden Sinais (aus vielerlei Gründen eher unrealistisch) und der Deklarierung eines großen Areals an der Grenze zum Sperrgebiet, den Aufrufen aus Israel zur Massenvertreibung der Menschen aus Gaza sowie der immer größer werdenden Not im Gazastreifen durch die israelischen Angriffe sollten Al-Sisis Zusicherungen jedoch keinesfalls für bare Münze genommen werden. Ägypten müsste die Aufnahme palästinensischer Flüchtlinge nicht nur politisch mittragen und dafür die starke Opposition in der ägyptischen Gesellschaft gegenüber jedweden Vertreibungsszenarien in Schach halten, sondern bräuchte vor allem wirtschaftlich einen langen Atem. Denn der Krieg in Gaza trifft die bereits am Abgrund stehende ägyptische Wirtschaft hart; der Raketenbeschuss von Containerschiffen im Roten Meer durch die jemenitischen Huthis hat Ägyptens Einnahmen aus dem Suez-Kanal massiv einbrechen lassen.

Israel und dessen Verbündete, die die israelische Besatzungsarmee trotz Kriegsverbrechen wie der Nutzung von Lebensmittel- und Medikamentenlieferungen als Kriegswaffe weiterhin fleißig mit Rüstungsgütern versorgen, sind auf stabile Machtverhältnisse in Kairo und eine weniger explosive soziale Lage in Ägypten zwingend angewiesen. Für die Regierungen in Rom, Tel Aviv, Abu Dhabi oder Berlin ist Ägypten auch deshalb heute mehr denn je „too big to fail“.

Im Fahrwasser Viktor Orbáns

Das beispiellose Schaulaufen europäischer Spitzenpolitiker:innen in Kairo zur Unterzeichnung des Migrationsdeals ist so auch Ausdruck sich verschiebender Kräfteverhältnisse in der EU. Abermals ist es das Duo von der Leyen und Meloni, das die Auslagerung des europäischen Grenzregimes vorantreibt und kurz vor den Europawahlen öffentlichkeitswirksam suggeriert, Deals mit autokratischen Regimen könnten dabei helfen, die Ankünfte von Migrant:innen zu reduzieren. Italiens postfaschistische Regierungschefin Meloni ist inzwischen die zentrale Vertreter:in dieser Politik in Europa, hatte sie doch mit ihren vier Besuchen in Tunesien im vergangenen Jahr maßgeblichen Anteil am Abschluss eines ähnlichen Deals mit Tunesiens immer autoritärer regierendem Präsidenten Kais Saïed.

Was von der Leyen und Meloni seit 2023 vorantreiben, entspricht weitgehend den wiederholten Forderungen von Ungarns Premier Viktor Orbán, dessen Regierung enge Kontakte mit Al-Sisi pflegt. Orbán fordert die EU schon seit Jahren regelmäßig dazu auf, ihre Zurückhaltung bei Ausrüstungslieferungen nach Ägypten endlich aufzugeben und in Sachen Migrationsabwehr enger mit Al-Sisi zu kooperieren. Das jüngste EU-Ägypten-Abkommen ist daher ein politischer Sieg für Orbán, die europäische extreme Rechte und Al-Sisi zugleich.

Melonis Ankündigung, im Umgang mit den postkolonialen afrikanischen Staaten künftig eine Politik auf Augenhöhe zu verfolgen kommt derweil gut an in Kairo, Tunis oder Algier. Schließlich sind diese Deals für nordafrikanische Eliten finanziell lukrativ und nützlich dafür, ihre Macht abzusichern oder auszubauen. Angesichts der Nützlichkeit dieser Abkommen für Eliten an den nördlichen und südlichen Ufern des Mittelmeeres ist es wenig überraschend, dass mit dem Libanon und dem Königreich Marokko schon zwei weitere migrationspolitisch gewichtige Mittelmeeranrainer auf der Wunschliste der EU für künftige Migrationsdeals stehen.

Sofian Philip Naceur ist Journalist und ehemaliger Ägypten-Korrespondent. Seit 2021 arbeitet er für das Nordafrikabüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tunis.


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