Anfang der Woche verabschiedete die Knesset mit überwältigender Mehrheit zwei Gesetze, die darauf abzielen, die Aktivitäten des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, kurz UNRWA, zu unterbinden und zu kriminalisieren. Die UNRWA wurde gegründet, um den damals 750.000 Palästinenser:innen Hilfe zu leisten, die im Zuge der israelischen Staatsgründung geflohen und vertrieben wurden. In Ermangelung eines palästinensischen Staates oder einer formellen Lösung der Flüchtlingsfrage wurde ihr Mandat seit 1950 jährlich verlängert.
Trotz öffentlicher Erklärungen und der Lobbyarbeit der Vereinigten Staaten und einer Reihe europäischer Länder hat die Knesset die Gesetze mit Unterstützung fast aller Parteien verabschiedet. Debattiert wird jetzt zwar, ob es sich „nur“ um symbolische Akte handelt, die auch nur begrenzt umgesetzt werden. Doch bis zum Beweis des Gegenteils muss man vom Schlimmsten ausgehen, denn Regierung, Opposition und große Teile der israelischen Gesellschaft eint der Versuch, die UNRWA zum Sündenbock für die Anschläge des 7. Oktober 2023 zu machen.
Der neuen Gesetzgebung zufolge darf die UNRWA weder direkt noch indirekt auf israelischem Hoheitsgebiet vertreten sein, Dienstleistungen erbringen oder Tätigkeiten ausüben. Außerdem werden sämtliche Privilegien aufgehoben, die UN-Einrichtungen gemäß der von allen Mitgliedsstaaten ratifizierten Charta genießen, darunter Steuerbefreiungen, diplomatischer Status, Immunität und die Erteilung von Arbeitsvisa. Ziel der Entfernung der UNRWA ist im Kern die Zerstörung der „palästinensischen Flüchtlingsfrage“. Schon lange vor dem 7. Oktober hat die derzeitige Koalition der extremen Rechten in Israel bei zahlreichen Gelegenheiten die Absicht bekundet, nicht nur die UNRWA, sondern letztlich alle Einrichtungen, die an der Versorgung der palästinensischen Flüchtlinge beteiligt sind, aufzulösen – einschließlich der Palästinensischen Autonomiebehörde.
Die UNRWA ist die einzige internationale Einrichtung, die sich ausschließlich der Palästinafrage widmet und über das Budget, die Erfahrung, das Fachwissen und die Legitimität verfügt, um diese Arbeit zu leisten. Es gibt keine internationale Institution, die die UNRWA auch nur annähernd ersetzen könnte. Die Auswirkungen dieser Gesetze können deshalb gar nicht dramatisch genug eingeschätzt werden. Sie leiten den langsamen Verfall des sozialen, gesundheitlichen und bildungspolitischen Sicherheitsnetzes der palästinensischen Gesellschaft ein. Millionen Palästinenser:innen werden den Zugang zu Bildung und Gesundheit verlieren – auch wenn die meisten aufgrund des Krieges beides bereits verloren haben. Die Möglichkeiten internationaler NGOs oder der Palästinensischen Autonomiebehörde, dies zu kompensieren, sind gleich null. Das bestmögliche Szenario wäre Flickschustereien, die nicht nachhaltig und qualitativ minderwertig wären.
Kriminalisierung des humanitären Völkerrechts
Eine der ersten offensichtlichen Fragen an die Gesetze betrifft das Problem, was überhaupt „israelisches Hoheitsgebiet“ bedeutet, da Israel seine Grenzen nie offiziell erklärt hat. Als international anerkannte Grenze gilt die „Grüne Linie“, die Waffenstillstandslinie von 1949. Israel fungiert jedoch als Besatzungsmacht sowohl im Westjordanland als auch im Gazastreifen, wo ein großer Teil der gesamten Arbeit der UNRWA stattfindet. Israelische Behörden und Ministerien kontrollieren vollständig die Ein- und Ausreise sowie die Genehmigungen, an diesen Orten zu arbeiten. Israelisches Hoheitsgebiet sind sie aber nicht. Deshalb dürfte eine solche Kontrolle eigentlich nur innerhalb der „Grünen Linie“ und im illegal annektierten Ost-Jerusalem ausgeübt werden. Die Arbeit der UNRWA in diesen beiden Gebieten macht jedoch nur einen geringen Teil der Gesamtarbeit aus. Zwar befindet sich der Hauptsitz des Hilfswerks in Ost-Jerusalem, aber seine Dienste hier beschränken sich auf das Flüchtlingslager Shua'afat. Israel könnte deshalb versuchen, auch die juristische Hoheit über Aktivitäten im Westjordanland und im Gazastreifen zu beanspruchen, wo Millionen von Palästinenser:innen von der UNRWA unterstützt werden. Aussicht auf internationale Anerkennung hätte das aber kaum.
Als Mitglied der Vereinten Nationen ist Israel an die UN-Charta gebunden, die vorschreibt, dass die Mitgliedsstaaten Hilfsprogramme für Menschen in Not „mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln“ unterstützen müssen. Norwegen hat bereits bekundet, eine Resolution der UN-Generalversammlung zu beantragen, damit der Internationale Gerichtshof die Verpflichtungen Israels ausdrücklich dokumentiert und festlegt. Das könnte zu Sanktionen gegen Israel wegen der Verletzung grundlegender internationaler Normen führen. Und das während gleichzeitig der Internationale Gerichtshof den Vorwurf prüft, ob Israel in Gaza einen Genozid begeht.
Lunge palästinensischen Lebens
Warum wären die Folgen einer Verhinderung der UNRWA-Arbeit so dramatisch? Alleine im Gazastreifen beschäftigt die UNRWA in den oben genannten Arbeitsbereichen rund 13.000 Angestellte. Sie sind Teil der v. a. regional und zu einem sehr kleinen Teil auch global tätigen 30.000 UNRWA-Mitarbeiter:innen. Vor Ort sind zahlreiche Unternehmen mit der UNRWA verbunden. Die UNRWA ist die größte in den besetzten Palästinensergebieten tätige Institution, sowohl in Bezug auf die Zahl der Beschäftigten als auch hinsichtlich des Ansehens in internationalen Gremien. Im Falle von Kriegen oder Großereignissen ist die UNRWA stets als erste vor Ort und verfügt über einen Pool von Expert:innen, Analyst:innen und Logistiker:innen sowie ein ganzes System zur Durchführung von Hilfsmaßnahmen. Die UNRWA hat sich schon vor langer Zeit zur Vorreiterin bei der Entwicklung und Durchführung von Programmen mit lokalen und internationalen Partnerorganisationen entwickelt.
Die Arbeit der UNRWA erstreckt sich auf alle Bereiche der palästinensischen Gesellschaft. Mehr als 70 Prozent der Palästinenser:innen im Gazastreifen und 18 Prozent der Palästinenser:innen im Westjordanland zwischen 3 und 18 Jahren besuchen eine UNRWA-Schule. Ihr umfangreiches Gesundheitsnetz umfasst zahlreiche Krankenhäuser, medizinische Zentren, mobile Kliniken usw., in denen jährlich Hunderttausende behandelt werden. Im Gazastreifen ist die UNRWA seit vielen Jahrzehnten eng in die Stadtplanung, den Wohnungsbau, die Beschaffung und Verteilung von Hilfsgütern und den Bau von Unterkünften eingebunden. In vielerlei Hinsicht ist die UNRWA also eine quasi-staatliche Einrichtung, die soziale und zivile Dienste für einen großen Teil der palästinensischen Flüchtlinge bereitstellt.
Die Angriffe auf die UNRWA und der Versuch, sie zum Sündenbock zu machen, sind nicht neu. Israel hatte schon immer ein wechselhaftes Verhältnis zu dieser UN-Institution. Immer wurde aber auch bis zu einem gewissen Grad verstanden, dass die Erbringung von Dienstleistungen durch die UNRWA im israelischen Interesse liegt, da so der israelische Haushalt von der Versorgung der Palästinenser:innen entlastet wird. Denn völkerrechtlich ist Israel dafür in den besetzten Gebieten voll verantwortlich. Der UNRWA-Haushalt ist überwiegend spendenbasiert und beläuft sich auf durchschnittlich 800 Millionen bis 1,5 Milliarden US-Dollar jährlich; die Vereinigten Staaten und Deutschland gehörten in der Vergangenheit zu den größten Gebern.
Unbelegte Anschuldigungen
Seit dem von der Hamas angeführten Angriff am 7. Oktober2023 hat die israelische Regierung ausdrücklich ihre Absicht erklärt, die UNRWA zur Strafe aufzulösen, da sie die Organisation beschuldigt, direkt und indirekt an den Angriffen beteiligt gewesen zu sein. Obwohl die von israelischer Seite vorgelegten Beweise für diesen Vorwurf spärlich sind, wurde die Finanzierung von einer Reihe der Geber-Länder vorübergehend eingestellt. Nachdem handfeste Beweise weiter ausblieben, nahmen die meisten Länder ihre Finanzierung der UNRWA wieder auf. Gleichzeitig nutzt Israel die Anschuldigungen, um direkte physische Angriffe auf UNRWA-Mitarbeiter:innen zu legitimieren. Seit dem 7. Oktober 2023 wurden Dutzende Mitarbeiter:innen in Gaza getötet. Am 31. Oktober 2024 zerstörte die israelische Armee das UNRWA-Büro in Tulkarem im Westjordanland.
Seit Beginn des Krieges im Gazastreifen hat die israelische Regierung zahlreiche Versuche unternommen, um die UNRWA strukturell aus den Hilfsmaßnahmen für den Gazastreifen auszuschließen. Dazu gehören die systematische Behinderung von Hilfslieferungen im Zusammenhang mit den Vereinten Nationen, die Ermordung von mehr als 200 UN-Mitarbeiter:innen (viele von ihnen wurden bei der Ausübung ihres Dienstes getötet) und die Angriffe auf Hunderte von UN-Einrichtungen im Gazastreifen.
Gleichzeitig versucht Israels Regierung, „befreundete“ unpolitische Einrichtungen heranzuziehen, um die UNRWA zu ersetzen. Bisher sind all diese Versuche gescheitert. Die jüngsten Vorschläge, die vor allem aus der israelischen Zivilverwaltung kommen, befürworten die Förderung eines Hilfs-Regimes privater militärischer Auftragnehmer, beginnend im nördlichen Gazastreifen. Dies würde dem ähneln, was wir im Irak mit Firmen wie Blackwater gesehen haben. Sollte sich dieser Vorschlag durchsetzen, würden Palästinenser:innen in dicht gedrängte Enklaven gesteckt, bewacht von militärischen Firmen, die auf Profitbasis den Zugang zu Hilfsgütern nach israelischem Diktat bestimmen würden. So oder so befinden wir uns auf einem Weg in Richtung Eliminierung der palästinensischen Flüchtlingsfrage.