Ende März versammelten sich im Norden Gazas Hunderte Menschen zu öffentlichen Protesten. Die Demonstrierenden warfen der De-Facto-Regierung Korruption und Gleichgültigkeit gegenüber den zivilen Opfern der israelischen Militäroffensive vor.
Auslöser der Protestwelle war das Scheitern der Waffenruhe – und Israels Wiederaufnahme von Luftangriffen, bei denen erneut Hunderte Zivilist:innen getötet worden waren. In Straßen riefen die Demonstrierenden Slogans wie „Hamas raus“ und „Wir wollen in Frieden leben“. Der Protest ebbte ab, auch nachdem einer ihrer Initiatoren, Uday Rabie, von Hamas entführt, gefoltert und schließlich vor dem Haus seiner Familie abgelegt worden war. Rabie starb kurze Zeit später.
Viele der Slogans dieser Proteste erinnerten an die Bidna N’eesh („Wir wollen leben“)-Bewegung, die sich 2019 bei Protesten in Gaza formiert hatte. Schon damals artikulierte sich dort Wut über die Art und Weise, wie die Hamas mit den Folgen der israelischen Blockade Gazas umging. Die damaligen Demonstrationen wurden von der Hamas gewaltsam unterdrückt. Sie erklärte damals, die Proteste seien vom politischen Rivalen Fatah inszeniert worden.
Die jüngsten Demonstrationen sind ein seltener Ausdruck offenen Widerstands gegen Hamas’ autoritäre Herrschaft in Gaza. Sie spiegeln eine weitverbreitete Kriegsmüdigkeit – und den Wunsch vieler Menschen nach einem Leben in Sicherheit und einem Ende der humanitären Katastrophe. Dass solche Szenen inmitten anhaltender Bombardierungen Israels überhaupt möglich sind, ist bemerkenswert. Bilder der Proteste verbreiteten sich schnell in den Medien. In westlichen Debatten wurden sie nicht selten als Beleg herangezogen: ‘Schaut her, selbst Menschen in Gaza lehnen die Hamas ab’.
Auch in Deutschland griffen einige Kommentator:innen die Proteste auf – allerdings oft weniger aus Anteilnahme mit der ausgehungerten Bevölkerung in Gaza, sondern um eine politische Botschaft zu transportieren: Wer gegen die Hamas demonstriert, kann nicht wirklich Opfer Israels sein. Die implizite Botschaft dahinter lautet: Wer schweigt, macht sich verdächtig. Oder gar: wird zum legitimen Ziel.
Diese gefährlich verkürzte Lesart der Proteste reiht sich in ein zentrales Narrativ israelischer Staatspropaganda der vergangenen eineinhalb Jahre ein. Demnach könne ein Großteil der Bevölkerung in Gaza nicht wirklich als unschuldig gelten, weil er den Angriff der Hamas vom 7. Oktober bejubelt oder Hamas’ Herrschaft stillschweigend unterstützt habe.
Viele deutschsprachige Medien nutzten die Proteste indes als willkommene Gelegenheit, um altbekannte verzerrte Narrative zu bedienen. Ein BILD-Beitrag über die Demonstrationen von Ende März stellte die Lage etwa so dar, als läge die Verantwortung für die humanitäre Katastrophe in Gaza ausschließlich bei der Hamas. Die seit seit dem 7. Oktober 2023 absichtlich und drastisch verschärfte israelische Blockade blieb völlig unerwähnt. Auch dass viele Demonstrierende sowohl gegen die Hamas als auch gegen Israels angekündigte Vertreibungen protestierten, fand in vielen Berichten schlicht keine Erwähnung.
Diese Art Vereinnahmung ist zynisch. In den vergangenen 18 Monaten haben Israels Blockade, die andauernden Luftangriffe und systematische Zwangsvertreibungen Zehntausenden Menschen in Gaza das Leben gekostet, die Gesundheitsversorgung nahezu vollständig zum Erliegen gebracht und weiteste Teile Gazas in Trümmer gelegt. Immer mehr Menschenrechtsorganisationen nennen Israels Vorgehen in Gaza einen Völkermord – ein Vorwurf, der sich angesichts der Sachlage kaum noch glaubwürdig zurückweisen lässt.
Die Proteste gegen die Hamas vor diesem Hintergrund als Wendepunkt zu deuten, greift sehr kurz – und verschleiert auch die Realität. Die Demonstrationen finden nicht in einem politischen Vakuum statt, sondern unter extremen Bedingungen von Belagerung und Zerstörung. Der palästinensische Analyst und Journalist Muhammad Shehada beschrieb sie kürzlich als Ausdruck des „Muts der Verzweifelten“.
Im Gespräch mit dem US-amerikanischen Publizisten Peter Beinart betont Shehada: Ja, viele Menschen in Gaza sind tief enttäuscht von der Hamas – jedoch nicht zwangsläufig deshalb, weil sie Widerstand gegen die israelische Besatzung grundsätzlich ablehnen. Vielmehr fühlen sie sich von ihrer eigenen Regierung im Stich gelassen. Es gehe um mangelnde Versorgung, um Korruption und um polizeiliche Gewalt, unter der die Menschen in Gaza leiden.
Shehada warnte zugleich auch vor einer verzerrten Deutung der Proteste. Sie seien eben nicht das palästinensische Äquivalent zum sogenannten Arabischen Frühling, kein politischer Aufbruch in eine neue Zeit. Vielmehr handle es sich um verzweifelte Reaktionen auf ein System der Unterdrückung, das sowohl von der Hamas als auch von Israel und seinen Verbündeten aufrechterhalten werde. Die Hoffnung auf Freiheit, so Shehada, richte sich nicht allein gegen die lokale Herrschaft, sondern gegen die gesamte Architektur des Eingesperrt-Seins.
Alaa Mohsen, ein palästinensischer Journalist aus Gaza, der monatelang vor Ort berichtet hat und mittlerweile nach Ägypten geflohen ist, teilte im Gespräch für diesen Artikel mit, dass die Hamas infolge des Krieges einen großen Teil ihrer Unterstützer:innen verloren habe. Die aktuellen Proteste seien aber, anders als oft behauptet, nicht neu, so Mohsen. Vielmehr stellten sie eine unmittelbare Reaktion auf die dramatische wirtschaftliche Lage in Gaza dar: die explodierenden Lebensmittelpreise, das weitgehende Ausbleiben von Geldflüssen seit dem 7. Oktober, das völlige Erliegen des Banksystems.
„Die Menschen in Gaza sind gegen die Hamas auf die Straße gegangen, weil sie keine andere Wahl hatten“, so Mohsen. Er sagt, er rechne mit weiteren Demonstrationen. Ein Sack Mehl (40 Kilogramm) koste derzeit 150 Dollar, berichtet er. Seit der Schließung der Grenzübergänge sei Fleisch in Gaza nicht mehr erhältlich. Auch die Preise für Gas und Treibstoff seien explodiert – ein Liter Benzin koste inzwischen 37 Dollar. Rund 98 Prozent der Bevölkerung hätten ihre Einkommensquellen, ihr Hab und Gut und ihr Haus verloren. Die allermeisten Menschen lebten in Zelten, auch Mitglieder seiner eigenen Familie.
Bereits vor etwa vier Monaten habe es Proteste gegeben, in denen Menschen in Gaza ein Ende der Hamas-Herrschaft forderten – aus Enttäuschung darüber, dass die Regierung selbst grundlegendste Bedürfnisse nicht mehr gewährleisten könne. Diese frühen Demos seien zunächst kaum beachtet worden. Seit Israels Verteidigungsminister Katz Ende März öffentlich dazu aufgerufen hatte, die Proteste gegen die Hamas zu verstärken, sei die Teilnehmerzahl deutlich zurückgegangen, betont Mohsen. „Die Protestierenden wollen sich nicht von Israel instrumentalisieren lassen.”
Gerade in Deutschland, wo die Debatte über Israel und Palästina oft von einem reduktionistischen Freund-Feind-Denken geprägt ist – und wo sich das Verständnis historischer Verantwortung nicht selten in bedingungsloser Loyalität zur israelischen Regierung erschöpft – wäre Differenzierung angemessen. Der Blick auf die Proteste in Gaza bietet in den Augen vieler Menschen derzeit einen allzu bequemen Ausweg. Der Verweis auf die Demonstrationen dient dabei als moralischer Kurzschluss.
Wer aber die Proteste gegen die Hamas hervorhebt, ohne zugleich die andauernde israelische Besatzung und Militäroperation in Gaza zu benennen – eine Operation, die sich längst nicht mehr nur gegen die Hamas, sondern gegen die Zivilbevölkerung als Ganzes richtet – betreibt fahrlässige Entpolitisierung. Und wer Sichtbarkeit nur dann gewährt, wenn sie sich in westliche Deutungsmuster fügt, dem geht es nicht um die Protestierenden – sondern um die eigene Agenda. Er instrumentalisiert damit auch den Mut derjenigen, die unter Lebensgefahr auf die Straße gehen.
Nein, man sollte diese Proteste keinesfalls ignorieren. Die autoritäre Herrschaft der Hamas in Gaza muss benennbar und kritisierbar sein. Doch wer die Proteste feiert, sollte sich auch fragen lassen, wo die Empathie war, als Gaza unter systematischem Beschuss lag – und warum palästinensische Stimmen erst dann als legitim gelten, wenn sie westliche Narrative bedienen.
Es geht nicht um ein Entweder-oder. Es geht nicht nur um Kritik an Hamas oder Kritik an Israel. Es geht um eine doppelte Realität: Menschen in Gaza leiden unter autoritärer Repression und systematischer militärischer Gewalt. Ihr Widerstand verdient Aufmerksamkeit – nicht zum Zweck der politischen Vereinnahmung.