Israel/Palästina

Das Töten von Ikonen

24.03.2025   Lesezeit: 7 min  
#gaza 

Am 24. März 2025 tötete die israelische Armee im Gazastreifen gezielt zwei Journalisten. Dabei geht es um mehr, als bloß zu verhindern, dass über Gaza berichtet wird.

Von Riad Othman

Die Tötung von Mohammed Mansour und seiner Frau im südlichen Gazastreifen (Khan Younis) und von Hossam Shabat in Nord-Gaza (Beit Lahia) setzt das bereits bekannte Vorgehen der israelischen Armee gegen Medienarbeiter:innen fort; insbesondere in Gaza, zu einem gewissen Grad aber auch im Westjordanland und bisweilen selbst im Libanon. In anderthalb Jahren wurden hier laut dem internationalen Committee to Protect Journalists (CPJ) mindestens 170 Journalist:innen durch israelische Militärgewalt getötet, viele von ihnen offenbar gezielt. Andere Quellen gehen von weit mehr als 200 getöteten Angehörigen der Zunft aus.

Hossam Shabat war kein gewöhnlicher Journalist. Als nach den Anschlägen der Hamas am 7. Oktober 2023 der nächste Krieg über Gaza hereinbrach, war er erst 21 Jahre alt und hatte schon mehrere Kriege hinter sich. Eigentlich war er auch noch nicht mit seinem Journalistik-Studium fertig. Mit dem Beginn der Angriffe auf Gaza berichtete er über die Lage vor Ort, und je länger der Krieg andauerte, desto mehr geriet er in die Situation eines Kriegsreporters, der von Ort zu Ort hastete, um über die Massenverbrechen im Gazastreifen zu berichten.

Am 24.März fiel er der Tötung durch das israelische Militär zum Opfer, wie schon so viele Medienschaffende in Gaza vor ihm. Das offensichtliche Ziel dieser Tötungen ist die Unterbindung der Berichterstattung über Kriegsverbrechen, wie sie die deutsche Noch-Außenministerin Annalena Baerbock Anfang Mai 2022 anlässlich des Tages der Pressefreiheit mit Blick auf die den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit eindeutigen Worten verurteilte. Sie sagte, dass „Regierungen versuchen, Presse- und Informationsfreiheit einzuschränken, Debatten zu unterbinden, Fehlinformationen zu verbreiten, Journalistinnen und Journalisten einzuschüchtern oder gar verschwinden zu lassen.“ In Gaza tötet eine solche Regierung seit nunmehr anderthalb Jahren auch (gezielt) Journalist:innen. „Sie sind das Sprachrohr der Opfer“, so Baerbock weiter, „die sonst kein Gehör finden und nicht sichtbar wären, sie belegen Menschenrechtsverletzungen, aber auch Kriegsverbrechen.“ Genau das tat Hossam Shabat, indem er entschied, ohne seine Familie im Norden Gazas zu bleiben und sein Leben riskierte, um täglich über den Genozid zu berichten. Baerbocks Ministerium, das Auswärtige Amt, scheint bis heute zur gezielten Tötung von Journalist:innen im Gazastreifen zu schweigen.

Seine Ermordung hat aber noch einen anderen Aspekt: Hossam Shabat hatte seit dem 7. Oktober 2023 über 150.000 Follower:innen auf X (ehemals Twitter) und mehr als eine halbe Million auf Instagram, Er war Korrespondent des Senders Al-Jazeera – vor allen Dingen aber respektierte ihn die palästinensische Bevölkerung als ihr Sprachrohr und als Kronzeuge dessen, was ihr in Gaza angetan wird.

Als seine gesamte Familie infolge der Zwangsräumungsbefehle der israelischen Armee vertrieben wurde, blieb er trotz des Wissens um bereits getötete Kolleg:innen im Norden des Gazastreifens, um von dort aus über die völlig entgrenzte Kriegsführung der Regierung Netanjahu und später die ethnische Säuberung Nord-Gazas zu berichten. Seine Mutter sah er erst nach 492 Tagen wieder, nach Inkrafttreten der Waffenruhe. Am 6. Oktober 2024 sagte er in einem Tweet in Gedenken an seine von der israelischen Armee getöteten Freunde Ismail Al-Ghoul und Hassan Hamad, beide ebenfalls Journalisten: „Ich verspreche euch, dass ich die Fackel weitertragen werde. Ruhet in Frieden, meine geliebten Ismail und Hassan.“ Die Menschen in Gaza liebten ihn, weil er mit diesem Entschluss und mit seiner Arbeit Hoffnung ausstrahlte. Hoffnung auf Gerechtigkeit, Hoffnung auf ein Einschreiten der Welt angesichts schwerster Verbrechen in der Enklave. Eine Hoffnung, die sich bis zu seinem Tod nicht erfüllte. Für Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten und weltweit war er durch seinen Mut und seine Opferbereitschaft zur Ikone geworden, für Interessierte im Ausland zur einer wichtigen Quelle und für viele internationale Journalist:innen zu einem geschätzten Kollegen.

Die Reaktionen auf seinen Tod in den sozialen Medien erinnern an die Bekundungen von Trauer, Fassungslosigkeit und Wut nach der Ermordung der palästinensisch-amerikanischen Journalistin Shireen Abu Akleh durch einen israelischen Soldaten am 11. Mai 2022 in Jenin. Anders als im Fall des viel zu jung verstorbenen Hossam Shabat waren viele mit Abu Akleh, Jahrgang 1971, aufgewachsen. Sie hatte bis zu ihrem gewaltsamen Tod seit Jahrzehnten über die illegale Besatzung und Gewalt berichtet, oftmals unter Einsatz ihres Lebens. Als Gesicht in den Medien gehörte die Journalistin für Millionen Palästinenser:innen zu ihrem Alltag. Sie war ihre Stimme.

Auch Wael Dahdouh kommt einem wieder in den Sinn: Als Bürochef von Al-Jazeera in Gaza berichtete er von Tag 1 des Krieges an über die Lage vor Ort. Dahdouh verlor bereits im Oktober 2023 seine Frau, zwei seiner Kinder (15 und 7 Jahre alt) und einen seiner Enkel (18 Monate). Dahdouh machte dennoch weiter. Im Dezember wurde Dahdouh bei einem israelischen Angriff verletzt, er machte trotzdem weiter. Auch nachdem er im Januar 2024 ein weiteres Kind verlor, seinen erwachsenen Sohn Hamza, der wie er als Journalist für Al-Jazeera tätig war, setzte er seine Arbeit fort – obwohl er genau wusste, dass sie ihn zum Ziel machte. Schließlich gelang es ihm, zwecks medizinischer Behandlung den Gazastreifen zu verlassen.

Seitdem versucht Wael Dahdouh, einen Weg zurück in ein einigermaßen „normales“ Leben zu finden und kommentiert den Genozid von außerhalb. In der arabischen Welt und in Palästina gibt es von ihm, wie auch von Shireen Abu Akleh, zahlreiche Graffiti. Beide waren schon zu Lebzeiten Ikonen der Standhaftigkeit gegen die Besatzung und gelten seit ihrer Ermordung bzw. der ihrer Familie umso mehr als Symbole der unbeugsamen Zeugenschaft des Genozids gegen die palästinensische Bevölkerung. Für die Rolle, die Dahdouh für die palästinensische Bevölkerung spielte, hat er einen sehr hohen Preis bezahlt. Seitdem er Gaza den Rücken gekehrt hat, vermutlich auch, um das Leben seiner übrigen Kinder zu schützen, hat er stark an Aufmerksamkeit eingebüßt. Auf eine andere Art ist so auch er zum Verstummen gebracht worden.

Es trifft aber keineswegs nur Journalist:innen. Die israelischen Streitkräfte haben seit dem 7. Oktober 2023 in Gaza so viele Hochschullehrer:innen und Studierende getötet, dass die Vereinten Nationen bereits im April 2024 vor einem Scholastizid, also einer gezielten Vernichtung der Hochschulbildung und ihrer Gelehrten, warnte. Ein besonders bekanntes Beispiel ist Refaat Al-Areer, Professor für Englische Literatur und international ein anerkannter Schriftsteller und Herausgeber, ein Dichter und ein öffentlicher Intellektueller in Gaza. Er versuchte, junge Leute dazu zu ermächtigen ihre Stimme zu erheben, darauf zu vertrauen, dass sie gegen alle Widerstände eine Stimme haben können. Im Jahr 2013 brachte er eine Sammlung von Texten von Nachwuchsschriftsteller:innen unter dem Titel „Gaza Writes Back“ heraus. Wenige Wochen vor seiner Tötung durch die israelische Armee im Dezember 2023 veröffentlichte er das Gedicht „If I must die“, das seitdem weltweit Proteste gegen das Morden in Gaza begleitet hat.

Bei den Tötungen von Journalist:innen geht es natürlich unter anderem darum, die Kontrolle darüber zu erlangen, welche Nachrichten Gaza verlassen, was in die Berichterstattung gelangt. Es geht aber auch um bedeutend mehr als das, wenn man sich die Liste getöteter Medienarbeiter:innen, Hochschullehrer:innen, Schriftsteller:innen und Künstler:innen ansieht.

Es scheint, als müsse jede Person, die für Palästinenser:innen in Gaza in dieser schrecklichsten aller Zeiten öffentlich die Funktion erfüllt, auch nur einen Funken Hoffnung zu geben, mundtot gemacht werden: durch Vertreibung, durch Verhaftung und Folter oder eben durch den Tod. Die Tötung jener, die anderen in der palästinensischen Gesellschaft ein Vorbild waren, eine Inspiration, auch im Angesicht des Abgrunds zu versuchen, nicht aufzugeben, die manchen als Idole des Widerstands galten, müssen sterben. Nicht etwa, weil sie in der Lage gewesen wären, die Welt aus ihrem Tiefschlaf zu wecken. Nein, die Welt hat Gaza den Rücken gekehrt, so wie es jüngst erst wieder auf einem über Gaza abgeworfenen israelischen Flugblatt geschrieben stand. Sie mussten sterben, weil sie sich vor den Augen ihrer eigenen, der palästinensischen, Gesellschaft ihrer drohenden Auslöschung widersetzten, der Auslöschung ihrer Kultur, Geschichte und Identität als Palästinenser:innen. Sie mussten sterben, weil die israelische Führung glaubt, damit die vollständige Unterwerfung der palästinensischen Bevölkerung herbeiführen zu können.

In seinem posthum veröffentlichten Abschiedspost auf X mahnte Hossam Shabat: „Hört nicht auf über Gaza zu sprechen. Lasst die Welt nicht wegsehen, kämpft weiter, erzählt weiter eure Geschichten – bis Palästina frei ist.“

Riad Othman

Riad Othman arbeitet seit 2016 als Nahostreferent für medico international von Berlin aus. Davor war er medico-Büroleiter für Israel und Palästina.

Twitter: @othman_riad


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