Gaza-Krieg

Die Gesetzlosen

20.03.2025   Lesezeit: 7 min  
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Was die Wiederaufnahme der israelischen Angriffe in Gaza mit Netanjahus Machterhalt zu tun hat.

Von Riad Othman

In der Nacht vom 17. auf den 18. März startete die israelische Regierung erneut massive Angriffe auf Gaza mit bislang fast 500 Toten und hunderten Verletzten. Dieser faktischen Beerdigung der ohnehin auf tönernen Füßen stehenden Waffenruhe waren wochenlange Sabotageversuche der Regierung Netanjahu vorausgegangen. Bereits kurz nach ihrem Inkrafttreten am 19. Januar verletzte Israel in mehrfacher Hinsicht die Vereinbarung. In der durch flächendeckende Zerstörung von Wohnhäusern entstandenen Massenobdachlosigkeit in Gaza gehörten mitten im Winter Zelte und Container als Notunterkünfte zu den dringend benötigten Hilfsgütern. Nur ein Bruchteil der vereinbarten Menge an Zelten wurde allerdings von der israelischen Armee nach Gaza gelassen, von den Containern kein einziger. Vom vereinbarten Treibstoff – in Gaza dringend für den Betrieb von Maschinen zur Beseitigung von Trümmern und zur Stromerzeugung in Gesundheitseinrichtungen benötigt – kam nur etwa ein Drittel an.

Während sich die Welt über die zynischen Inszenierungen der Hamas bei der Übergabe israelischer Geiseln aufregte, blieb ein internationaler Aufschrei angesichts der Demütigung palästinensischer Gefangener bei ihrer Freilassung aus. Auch die mehr als 100 Menschen, die israelische Streitkräfte während der Waffenruhe in Gaza töteten, versetzten die hiesige Öffentlichkeit nicht in Empörung.

Was dann kam, folgte dem üblichen Drehbuch: Die völkerrechtswidrige Totalverweigerung von humanitärer Hilfe und damit die Fortsetzung des zuvor schon 15 Monate lang begangenen Kriegsverbrechens. Ab 9. März dann die Abstellung der Stromzufuhr. Begründet wurde dies offiziell mit mangelnden Fortschritten bei den Verhandlungen mit der Hamas zur Freilassung der restlichen Geiseln.

Vieles daran konnte einen an den Sommer 2024 erinnern, als die israelische Regierung durch inakzeptable nachgeschobene Forderungen eine Waffenruhe torpedierte, die beinahe in trockenen Tüchern gewesen war und deren Parameter bereits größtenteils mit denen der Waffenruhe seit Januar 2025 übereingestimmt hatten. Ähnlich wie damals änderte auch diesmal die Regierung Netanjahu plötzlich ihren Kurs und drängte auf eine Verlängerung der ersten Phase und die Freilassung der verbliebenen Geiseln statt – wie ursprünglich vorgesehen – in die Verhandlungen über die anstehende Phase 2 der Waffenruhe einzutreten. Als deren Gegenstand war nicht nur die Freilassung weiterer Geiseln vorgesehen gewesen, sondern auch Vereinbarungen, die zur Umsetzung weiterreichender Schritte in Gaza seitens Israels – über die humanitäre Hilfe hinaus – hätten führen sollen.

Macht um jeden Preis

Neben dem offensichtlichen Unwillen, den Krieg gegen Gaza zu beenden, gab es für Netanjahus Manöver handfeste innenpolitische Gründe und – damit eng verbunden – das Eigeninteresse des Machterhalts und der damit bislang einhergehenden Straffreiheit. Der wichtigste Punkt hierbei war sicherlich die längst überfällige Verabschiedung des neuen, dringend fälligen Staatshaushalts.  Zwar hätte Netanjahu mit den Stimmen der Ultraorthodoxen in der Knesset das Budget verabschieden können, aber das Risiko hierfür schien groß: Hätten sie im Gegenzug nicht nur eine zusätzliche Förderung ihrer Thora-Schulen gefordert, sondern ein Gesetz, das (Ultra-) Orthodoxe von der Wehrpflicht ausnimmt, hätte dies innenpolitisch unter Umständen sehr viel mehr politischen Sprengstoff geboten als die Wiederaufnahme des Krieges. Die Freistellung orthodoxer Juden von der Militärpflicht wird in Israel seit vielen Jahren sehr kontrovers diskutiert. Die Mehrheit der Gesellschaft empfindet sie als große Ungerechtigkeit. Solche Verhandlungen wären extrem unpopulär gewesen.

Es schien leichter, über die Wiederaufnahme der Angriffe auf Gaza die Risse in der brüchigen Koalition (wenn vielleicht auch nur temporär) zu kitten. Der rechtsextreme Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, hatte die Koalition im Januar aus Protest gegen die Waffenruhe verlassen. Mit seiner noch am Tag der ersten neuen Bombardierungen in Gaza angekündigten Rückkehr in die Koalition dürfte die Mehrheit in der Knesset und damit auch der einstweilige Fortbestand der Regierung Netanjahu gesichert sein. Nebenbei wird der ebenfalls rechtsaußenstehende Finanzminister Bezalel Smotrich zufriedengestellt sein.

Nach den nächtlichen Angriffen auf Gaza wurde zudem die für den Folgetag terminierte Anhörung in einem der gegen Netanjahu laufenden Korruptionsverfahren abgesagt. Angesichts der Tatsache, dass er schon mehrmals vor Gericht zu Anhörungen erschienen ist, ist die Absage vielleicht eher ein aus seiner Sicht positiver Nebeneffekt als ein wirklicher Hauptgrund. Außerdem laufen die drei Verfahren gegen den Premierminister bereits seit fünf Jahren. Er hat es also zuvor auch schon ohne den Gaza-Krieg geschafft, nicht verurteilt zu werden. Vor allen Dingen wurde Netanjahu nie müde, sie als „Absurdität“ abzutun und als „politische Verfolgung mit juristischen Mitteln“ zu verunglimpfen.

Die Auseinandersetzung zwischen Netanjahu und der Generalanwältin Gali Baharav-Miara, die sich jüngst gegen die offensichtlich politisch motivierte Entlassung des Chefs des Inlandsgeheimdienstes, Ronen Bar, wandte, hat unterdessen vor allem mit ihrer Ablehnung des Justizcoups zu tun. Netanjahu brächte diesen gerne wieder voran, um seinen Machterhalt und gegebenenfalls eine mildere Strafe oder Straffreiheit zu sichern. Die politischen Differenzen scheinen hier aber auch zu enden. Selbst als Generalanwältin von den weit rechtsstehenden Politiker Gideon Saar und Naftali Bennett ausgewählt, geht es Baharav-Miara nicht um den Krieg in Gaza oder die Verbrechen der Siedlungspolitik, sondern um die Gewaltenteilung im Staat.  Die Generalanwältin stellte gegenüber Netanjahu mit Blick auf Ronen Bars Entlassung öffentlich klar, dass der Shin Bet nicht den persönlichen Interessen des Premierministers diene.

Männer über dem Gesetz

Mit den Angriffen und der sich abzeichnenden neuerlichen Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus Teilen Gazas scheint die Ambivalenz, die mit Trumps widersprüchlichen Handlungen und Äußerungen einherging, eine schreckliche Eindeutigkeit anzunehmen. Zwar war es Trump, der die israelische Regierung dazu genötigt hatte, die Bombardierung Gazas und die Tötung von – sehr vorsichtig geschätzt – durchschnittlich mehr als 120 Menschen täglich über einen Zeitraum von 15 Monaten zu beenden. Es war aber auch Trump, der die mögliche ethnische Säuberung Gazas begrüßte und zur Tötung der mehr als 100 Personen in Gaza während der von ihm mitherbeigeführten Waffenruhe schwieg. Auch zu den Vertreibungen von mehreren zehntausend Menschen aus Jenin, Tammoun und Tulkarem durch die israelische Armee, den umfassendsten Vertreibungen im Westjordanland seit 1967, hat Trump bisher nichts gesagt.

Die bisherige Inkohärenz in der Haltung des US-Präsidenten scheint mit der von ihm abgesegneten Rückkehr Israels in den Krieg gegen Gaza verschwunden zu sein. Die angeordnete Zwangsräumung der östlichen Sektoren in Nordgaza und bei Khan Younis betreffen 30 Prozent des Gazastreifens. Dafür scheint es nun keine Haltelinie mehr zu geben. Israelische Panzer haben unter anderem den Netzarim-Korridor wieder besetzt, der Gaza in eine nördliche und eine südliche Hälfte teilt. Der israelische Verteidigungsminister stellt der palästinensischen Bevölkerung in Gaza die nicht zu erfüllende Forderung, sich der Hamas zu entledigen und alle Geiseln zurückzugeben, und droht ihr andernfalls offen mit „der vollständigen Zerstörung“. Das Risiko einer ethnischen Säuberung der Enklave einschließlich der Rückkehr zu genozidaler Gewalt gegen die palästinensische Bevölkerung ist damit erheblich gestiegen.

Noch im Februar schien Trumps Haltung ambivalenter als sie sich heutzutage darstellt. Schon seinerzeit war aber klar, dass es ihm nicht um die Rechte der palästinensischen Bevölkerung ging, ja dass ihm diese – wie vielleicht Recht und Gesetz allgemein – gleichgültig zu sein schienen. Anschließend an die kritische Bemerkung der israelischen Generalanwältin, dass der Shin Bet nicht Netanjahus persönlichen Interessen diene, könnte man fragen: Besteht eine ganz zentrale Gemeinsamkeit zwischen Männern wie Benjamin Netanjahu und Donald Trump nicht genau darin, dass beide eine wesentliche Funktion des Staatswesens, dem sie vorstehen, darin sehen, bei der Erfüllung ihrer persönlichen Interessen zu helfen? Wenn sie dabei mit gesetzlichen Vorschriften in Konflikt geraten und dafür zur Rechenschaft gezogen werden sollen, legen das beide als politische Verfolgung und als Hexenjagd auf ihre jeweilige Person aus. Beide offenbaren regelmäßig einen gefestigten Glauben daran, dass sie über dem Gesetz stehen – und das aus ihrer Sicht völlig zurecht. Auf X fabulierte Netanjahu jüngst von einem „linken Schattenstaat“ in den USA und Israel, der das Justizsystem als Waffe gegen starke rechtsgerichtete Politiker missbrauche, um den Wählerwillen zu durchkreuzen. Der für die Verbreitung antisemitischer Verschwörungsmythen und Hitlergrüße bekannte Elon Musk stimmte ihm prompt zu.

Es ist eine grausame Ironie, dass ausgerechnet diejenigen, die für sich selbst das Privileg der ewigen Straffreiheit in Anspruch nehmen, und zur Verteidigung ihrer hervorgehobenen Stellung buchstäblich über Leichen gehen, in Gaza Hunderttausende, ja Millionen von unschuldigen Menschen mitunter tödlicher Kollektivbestrafung unterwerfen, wie es dieser Tage erneut geschieht. Sie inszenieren sich dabei selbst dann noch als Opfer, wenn sie als Scharfrichter fungieren. Die Welt steht wirklich auf dem Kopf. Und die politische Gemengelage in Europa und in Deutschland verheißt wenig Hoffnung darauf, dass sich nennenswerte Kräfte formieren werden, um diese Zustände zu verändern. Wir leben wahrlich in einer Zeit der Monster.

Riad Othman

Riad Othman arbeitet seit 2016 als Nahostreferent für medico international von Berlin aus. Davor war er medico-Büroleiter für Israel und Palästina.

Twitter: @othman_riad


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