Zu wenig Hilfe

Aufatmen?

15.03.2025   Lesezeit: 7 min  
#israel/palästina  #nothilfe 

Während in Gaza eine fragile Waffenruhe herrscht, intensiviert Israel den Krieg in der Westbank.

Von Riad Othman

Es ist eine bittere Ironie: Donald Trump hat, zumindest fürs Erste, ein Ende der Bombardierung Gazas durchgesetzt. Ausgerechnet Trump, das Schreckgespenst vermeintlich geordneter internationaler Verhältnisse, zwingt die Regierung Netanjahu, einer Waffenruhe mit der Hamas zuzustimmen. Das zeigt auch, dass dies spätestens seit dem Sommer 2024 möglich gewesen wäre, hätten Joe Biden und Anthony Blinken sich dafür entschieden, ihre weitere Unterstützung Israels an entsprechende Bedingungen zu knüpfen und diese mit Druck durchzusetzen. Schon damals wurde ein fast gleichlautender Vorschlag einer in Phasen gestaffelten Waffenruhe unter anderem mit Unterstützung des UN-Sicherheitsrates und den USA verhandelt, dann aber von Netanjahu derangiert. Die Verzögerungstaktik und das internationale Versagen kosteten weitere Tausende das Leben.

Die Hamas ist militärisch geschwächt, selbst wenn sie die Geiselübergaben bewusst inszeniert: gegenüber der eigenen Bevölkerung als Siegesfeiern, aber auch als Machtdemonstration. Ihre Hauptadressatinnen dürften indessen die israelische Armee und Regierung sein, die durch die Zurschaustellung der Geiseln öffentlich gedemütigt werden sollen. Die Botschaft soll lauten: Israel ist mit militärischen Mitteln nicht einmal die Befreiung der Geiseln gelungen, geschweige denn die Vernichtung der Hamas, was das zweite offiziell verlautbarte Kriegsziel war.

Wie es jetzt weitergeht, hängt maßgeblich von Trump ab: Seit mindestens einem Jahr formuliert die Hamas einen dauerhaften Waffenstillstand und den vollständigen Abzug der israelischen Armee aus Gaza als Ziel von Verhandlungen. Die israelische Regierung beharrt ihrerseits weiterhin auf das Ende der Hamas in gleich welcher Rolle und wird wohl nur durch anhaltenden Druck von außen dazu gebracht werden können, die Verhandlungen über die Parameter der zweiten und dritten Phase des Waffenstillstands konstruktiv fortzusetzen. Angesichts der Äußerungen Trumps zu einer möglichen ethnischen Säuberung des Gazastreifens steht jedoch zu befürchten, dass er den Krieg kaum auf eine Art beenden wird, die die Rechte der palästinensischen Bevölkerung auch nur im Geringsten respektiert.

Viel zu wenig Hilfe

Der Überlebenskampf in Gaza geht auch ohne die Angriffe des israelischen Militärs weiter. Im Februar ließ die israelische Regierung humanitäre Hilfe nicht im vereinbarten Umfang hinein. In der ersten Phase der Waffenruhe wurde laut Berichten nur ein Zehntel der benötigten Zelte für die von Massenobdachlosigkeit schwer gebeutelte Bevölkerung zugelassen, und dies im Winter, der von den üblichen saisonalen Unwettern, Überschwemmungen und Temperaturstürzen geprägt war. Von den vereinbarten Container-Notunterkünften ist keine einzige in die Enklave gelangt, von dem im Abkommen verhandelten Treibstoff weniger als ein Drittel der verabredeten Menge. Gerade dieser wäre zur Räumung von Trümmern sowie für die Inbetriebnahme der Wasserversorgung oder für Krankenhäuser dringend notwendig. Dennoch ist alles, was wir seit Inkrafttreten der Waffenruhe in Gaza gesehen haben, besser als der blanke Horror der 15 vorangegangenen Monate.

Unsere Partner:innen in Gaza können vorerst aufatmen, dass sie noch am Leben sind. Wie große Teile der über zwei Millionen Menschen in der Enklave sind sie nach oft mehrfacher Vertreibung an Orte zurückgekehrt, von denen sie hatten fliehen müssen. Viele von ihnen stehen vor dem Nichts, können bestenfalls auf übriggebliebene Bruchstücke ihres früheren Lebens und ihrer Arbeit blicken – wie die Frauen der Culture & Free Thought Association um Majeda Al-Saqqa, von deren Zentrum für Frauen, Kinder und Jugendliche in Khan Younis nur Ruinen übriggeblieben sind. In vielen Fällen, wie dem unserer Kolleg:innen des Künstlerkollektivs Shababeek, sind ganze Lebenswerke zerstört worden: Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen, künstlerische Arbeiten aus drei Jahrzehnten: zerbombt, verbrannt, geplündert.

Mohammed Abu Lehia, Gründer und Direktor der Mayasem Association for Culture and Arts, Gaza
Kultur im Krieg

Unmögliche Erinnerung

Über ein Museum in Gaza und das Bemühen, nicht alles zu verlieren.

Der nächste Krieg?

Gleichzeitig sind die aktuellen Entwicklungen im Westjordanland so alarmierend, dass man über die anhaltende internationale Untätigkeit nur entsetzt sein kann: Kaum war die Waffenruhe an der Südwestflanke Israels in Kraft getreten, setzte die Regierung Netanjahu einen Trend fort, der im völkerrechtswidrig besetzten Westjordanland schon in den letzten vier Jahren deutlich wahrnehmbar war. Die Zahl der durch die israelische Armee und Siedler getöteten Palästinenser:innen hatte sich dort seit 2020 binnen zwei Jahren mehr als versechsfacht. Die Militarisierung im Umgang mit der Westbank wird nicht nur in den rapide steigenden Todesraten deutlich. Sie zeigt sich auch am Einsatz von bewaffneten Drohnen und Kampfhubschraubern. Die Zeitschrift Foreign Policy schrieb mit Blick darauf bereits im Januar 2023: „Ob bewaffnet oder nicht, Drohnen fungieren als psychologischer Terror für jene, die unter ihnen leben.“

Im Westjordanland zerteilen Siedlungen und die mit ihnen verbundenen Straßen, Kontrollposten und Militärzonen das Land in immer kleinere Einheiten – mit immer weniger Bewegungsfreiheit für Palästinenser:innen und ohne Kontrolle über die eigenen Ressourcen. All das ist seit dem 7. Oktober intensiviert worden. Mit ihren Angriffen auf Städte und besonders Flüchtlingslager in der nördlichen Westbank wie Jenin und Tulkarem oder Tammun im nördlichen Jordantal hat die israelische Armee rund 40.000 Menschen zur Flucht gezwungen. Fast 1.800 weitere wurden aus 21 Dörfern und Weilern vertrieben, rund die Hälfte von ihnen Kinder und eigentlich alle Hirtenfamilien. In diesen Fällen wurde zur Begründung nicht einmal ein vorgeschobener Terrorismusverdacht geäußert. Die Dynamik in Richtung ethnischer Säuberungen nimmt zu, wenn sich die israelischen Begehrlichkeiten nun auch auf (halb-)ländliche Gemeinden richten. Sind es bisher rund 60 Prozent des Westjordanlandes, die Israel faktisch für sich beansprucht, so drohen es künftig eher 80 Prozent zu werden. Unterdessen verschmilzt die Lebenswelt der Siedler:innen immer weiter mit Israels Kernland. „From the river to the sea“ ist das öffentlich formulierte, aktiv verfolgte und grundgesetzlich festgeschriebene Ziel der Regierungspolitik in Israel.

Während in Gaza eine „Re-Kantonisierung“ droht, weil nicht davon auszugehen ist, dass die territoriale Fragmentierung und Verkleinerung der Enklave durch die israelische Armee vollständig zurückgenommen werden wird, gleichen die Bilder zerstörter Flüchtlingslager im Westjordanland immer mehr denen aus Gaza. Die „Gazaisierung“ der Westbank bedeutet die Ausweitung des Krieges – mit allem, was dazugehört. Was hier als Terrorismusbekämpfung firmiert, ist ein Krieg, der keineswegs nur den wenigen militanten Gruppierungen gilt. Vielmehr geht er mit der breit angelegten Zerstörung ziviler In- frastruktur und Vertreibungen einher.

Regellose Ordnung

Es gibt wenig Grund zur Hoffnung, dass den Geschehnissen der letzten 15 Monate eine Initiative mächtiger Staaten folgt, die substanziell etwas an der katastrophalen Lage ändert. Im Gegenteil: Nicht nur der Versuch des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, all das nicht völlig straffrei geschehen zu lassen, wird frontal angegriffen. Israel – gewohnt, andere straffrei gängeln zu können – versuchte, Mitarbeiter:innen des Gerichtshofs durch Drohungen einzuschüchtern. Doch auch Deutschland hat gegen die beantragten Haftbefehle für Yoav Gallant und Benjamin Netanjahu opponiert und die Bundesregierung kanzelte die südafrikanische Klage gegen Israel wegen des Verdachts auf Verletzung der Genozid-Konvention als haltlos ab, noch bevor der Internationale Gerichtshof seine Entscheidung zur Eröffnung eines Verfahrens bekanntgab. Mit diesen Schritten widerspricht Berlin dem selbst lange verfolgten Ziel einer funktionierenden Weltgerichtsbarkeit und der Schaffung genau dieses IStGH. Die Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz, der in seiner Rede zur „Zeitenwende“ als zentrale Frage ausmachte, ob die Macht Recht brechen dürfe, entschied sich im Falle Israels für eine Antwort: Sie hat den Rechtsbruch nicht nur toleriert, sondern versucht, ihn durch Eingaben beim IStGH und öffentliche Äußerungen politisch und juristisch mit abzusichern. Zudem unterstützt sie ihn militärisch. Solche Doppelstandards machen Schule: So hatte die polnische Regierung im Januar 2025 angekündigt, Netanjahu nicht festnehmen zu wollen, obwohl Polen – wie auch Deutschland – als Vertragsparteien des Römischen Statuts dazu verpflichtet sind, Haftbefehle des IStGH auf ihrem Territorium durchzusetzen.

Das nun von Trump verkündete Dekret zur Sanktionierung des Gerichts wegen seiner Ermittlungen gegen Israel bringt auch die künftige Bundesregierung in eine prekäre Lage. Berlin kann nicht aus dem vielstimmigen Chor der Vertragsstaaten des Römischen Statuts ausscheren, der sich hinter den IStGH gestellt hat. Die Bundesregierung nimmt den Gerichtshof gegenüber Trump in Schutz, tut dies aber ausgerechnet im Zusammenhang mit Ermittlungen, die sie selbst am liebsten eingestellt sähe. Solange sich Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland nicht konsequent für die Seite des Rechts entscheiden, werden die Straflosigkeit und jene schwersten Verbrechen, für die das Gericht geschaffen wurde, nicht nur fortdauern, sondern in der Tendenz zunehmen.

Im Ausnahmezustand: medico-Partner:innen in Israel und Palästina leisten Nothilfe, verteidigen Menschenrechte und widersetzen sich staatlicher Repressionen.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 01/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Riad Othman

Riad Othman arbeitet seit 2016 als Nahostreferent für medico international von Berlin aus. Davor war er medico-Büroleiter für Israel und Palästina.

Twitter: @othman_riad


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