Kultur im Krieg

Unmögliche Erinnerung

03.03.2025   Lesezeit: 4 min  
#gaza  #psychosoziale arbeit 

Über ein Museum in Gaza und das Bemühen, nicht alles zu verlieren.

Heute erzähle ich Ihnen meine Geschichte, die Geschichte eines palästinensischen Künstlers. Ich heiße Mohammed Akram Shehdeh Abu Lehia und komme aus Al-Qarara. Das liegt nördlich von Khan Younis in der südlichen Hälfte des Gazastreifens. Ich bin 34 Jahre alt. Schon als Kind liebte ich es, mich bildnerisch mit palästinensischer Kultur und Geschichte zu beschäftigen und die Geschichten von Menschen visuell zu erzählen. Ich erstellte Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen. In meiner Freizeit war ich als Mentor für Kinder und Jugendliche aktiv. Ich habe dabei immer versucht, sie zu befähigen, Kunst zu lieben, sie zu schätzen und in ihrem Leben zu nutzen.

2016 begann ich, einen lang gehegten Traum zu verwirklichen: Ich wollte historische Artefakte sammeln, um die Kulturgeschichte meiner Region und der palästinensischen Identität zu bewahren. Das ist unglaublich wichtig, denn sie ist immer wieder von der Auslöschung bedroht. Meine Reise begann mit einer Laterne aus der Römerzeit. Ich sammelte so viele Objekte, dass ich in meinem Zuhause irgendwann keinen Platz mehr hatte. Ein Jahr später hatte ich die Idee zu einer Ausstellung. Ich mietete einen Raum von der örtlichen Stadtverwaltung, putzte und renovierte ihn, bis er bereit war, Gäste, Tourist:innen, Schulklassen und Studierende zu empfangen. Ich nannte ihn „Al-Qarara Cultural Museum“. Junge Leute kamen von überallher. Ich machte weiter. Bis zum 7. Oktober 2023 hatte ich über 5.000 Objekte gesammelt.

An diesem Tag füllte sich der Himmel über Gaza mit schwarzem Rauch. Ich hörte Schreie und Explosionen. Mein vorherrschendes Gefühl war Angst, um meine Zukunft, meine Arbeit und mein Museum, das ich über Jahre mit so viel Mühe aus dem Nichts aufgebaut hatte. In der ersten Woche des Krieges fühlte ich mich völlig hilflos. Gleichzeitig verspürte ich den Drang, aus dieser Situation auszubrechen und eine neue Rolle zu finden. Inmitten eines Kriegs, der anscheinend unsere Existenz in Gaza auslöschen sollte, begann ich, gemeinnützige Arbeit zu leisten – auch, weil ich meinen Verstand behalten wollte. Als die ersten Vertriebenen aus dem Norden in Al-Qarara eintrafen, bereitete ich mit den Frauen aus der Stadt Mahlzeiten und Brot in Lehmbacköfen zu. Wir arbeiteten ohne Unterlass, um so viele Menschen wie möglich zu versorgen. Zehntausende kamen an. Wir versuchten sicherzustellen, dass sie in Häusern, Hallen oder Moscheen untergebracht werden konnten. Wir sammelten und verteilten auch Winterkleidung und organisierten soziale Veranstaltungen, um die Menschen zu beschäftigen und ihnen eine Pause vom Horror des Krieges zu verschaffen. Im Januar 2024 waren dann auch wir gezwungen zu fliehen. Zunächst wurden wir nach Khan Younis vertrieben, aber angesichts der dortigen Zerstörung flüchteten wir nach Rafah im Süden Gazas. Aus seinem Haus vertrieben zu werden, ist nicht nur ein physisches Ereignis. Man lässt Erinnerungen zurück, verliert das Zuhause der Kindheit, die Arbeit, Hobbys und in meinem Fall ein ganzes Museum. In Rafah setzte ich meine Arbeit für die Community fort. Ich verteilte Lebensmittelpakete und organisierte Veranstaltungen.

In der Zwischenzeit zerstörte die israelische Armee einen großen Teil von Al-Qarara. Ende Januar 2024 zog sie sich teilweise aus der Stadt zurück. Ich nutzte die Gelegenheit, um nach dem Museum und meinem Haus zu sehen. Schockiert musste ich feststellen, dass sie beschädigt und geplündert worden waren. Zahlreiche Gegenstände und Geräte waren gestohlen worden. Ich sammelte schnell die Habseligkeiten ein, die ich finden konnte, sicherte die verbliebenen Objekte und fuhr zurück nach Rafah.

Im Mai wurde auch Rafah eingenommen. Wir mussten in die Dünen von Al-Mawasi fliehen. Auch hier setzten wir unsere Arbeit für die Vertriebenen fort. Inzwischen wurde meine Stadt weiter zerstört. Als ich im Juli 2024 zurückkehrte, waren mein Haus und das Museum noch stärker beschädigt. Für mich war aber noch verheerender, dass weitere Stücke aus meiner Sammlung verschwunden waren. Ich nahm so viel mit, wie ich konnte, war aber gezwungen, größere Objekte zurückzulassen. Der Gedanke, alles zu verlieren, trieb mich in die Verzweiflung.

Bis heute lebe ich in einem Zelt in der Gegend von Al-Mawasi, trotz des Waffenstillstands. Ich wäre gerne nach Hause zurückgekehrt, um wieder mit dem Rest meiner Familie zusammenzuleben und bei meinen Freunden zu sein. Aber meine Angst ist stärker. Was, wenn der Krieg zurückkommt? Fürs Erste bringe ich nur Objekte, die ich retten konnte, zurück nach Al-Qarara und versuche, das Museum so weit wie möglich dafür herzurichten. Natürlich muss ich auch mein Haus wieder aufbauen und versuchen, wieder das Gefühl zurückzugewinnen, ein Zuhause zu haben. Auch das hat uns die israelische Armee genommen. Vom Gefühl der ständigen Unsicherheit und der Erschütterung des grundlegenden Vertrauens in die Sicherheit der eigenen Existenz will ich gar nicht erst reden. Der Tag der Rückkehr wird kommen. Das ist die Hoffnung, die ich in meinem Herzen trage.

Mohammed Abu Lehia

Im Ausnahmezustand: medico-Partner:innen in Israel und Palästina leisten Nothilfe, verteidigen Menschenrechte und widersetzen sich staatlicher Repressionen.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 01/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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