Die Toten von Gaza

Hussam

09.04.2025   Lesezeit: 9 min  
#gaza 

Dokumentation der Rede von Alena Jabarine auf der Benefizveranstaltung "Make Freedom Ring" in München für die medico-Nothilfe in Gaza.

"Menschenrechte für alle heißt Menschenrechte für Palästinenser:innen". Unter diesem Motto fand das zweite „Make Freedom Ring“-Konzert am Montag, den 7. April in München statt. Vor ausverkauftem Haus musizierten das palästinensische Musiker:innen-Ensemble Nasmé (Arabisch für „Brise“), Michael Barenboim, Kristin von der Goltz und viele andere, um die Gaza-Nothilfe von medico international zu unterstützen. Den inhaltlichen Rahmen spannten Deborah Feldman und Alena Jabarine. Letztere entriss die zehntausenden getöteten Palästinenser:innen aus der Anonymität und schilderte das Schicksal von Hussam, Angestellter eines Supermarkts, der von Israel bombardiert wurde. Wir dokumentieren hier ihre Rede.

Wer mich kennt, weiß, wie gerne ich erzähle. Doch gestern dachte ich, es wäre angebracht, gemeinsam mit Euch zu schweigen. Vielleicht spüren wir dann etwas, dachte ich, wenn wir alle, hier in diesem Saal, die Hand der Person neben uns nehmen und fünfzehn Minuten lang einfach nur still sind. Denn, wenn ich nicht nur rede, um des Redens willen, dann muss ich mich fragen, ist nicht alles schon gesagt?

Diese Gedanken hatte ich, während ich meine Kleidung in meinen Koffer sortierte. Mein Kopf gefüllt von dem Aufschrei der Frau, die filmt, wie eine Explosion zwei Menschen, deren Namen ich nicht kenne, von denen ich nicht weiß, ob sie Kinder oder Alte waren, was sie träumten und ob sie noch Hoffnung hatten, gerettet zu werden, hunderte Meter in die Luft schleudert, so dass es aussieht, als seien sie Vögel am Horizont. Ich machte einen Screenshot und zoomte heran, denn ich hatte so etwas noch nie gesehen. Szenen so surreal, dass es schwer fällt zu realisieren, dass dies wirklich passiert.

Es passiert.

Die Stimme des Rettungssanitäters, der sich verabschiedet, kurz bevor er und seine vierzehn Kolleg:innen erschossen und in einem Massengrab verscharrt werden.
„Verzeih mir, Mama“, sagt er auf dem Video, „Ich habe diesen Weg gewählt, weil ich Menschen helfen wollte. Verzeih mir Mama. Sam7eene Yamma.“

Sein Name war Rifaat Radwan.

Ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken, dass dieser Mann – als ihm klar war, dass dies seine letzten Momente auf dieser Erde waren – dokumentierte. Wissend, dass dies sein Leben nicht retten würde.
Warum tat er es?
Vielleicht, weil er selbst in seinen letzten Minuten, in Angesicht des Todes, hoffte, dass wir sehen würden.



Sein Telefon wurde gefunden.


Die New York Times veröffentlichte das Video.

Doch sehen wir?



Was machen wir aus dem, was Rifaat Radwan uns hinterlassen hat?



Vor einigen Tagen fragte mein Freund Adnan aus Jerusalem:

Was wäre, wenn du ertrinken würdest, in einem Pool. Um den Pool herum stehen ein Dutzend Rettungsschwimmer, doch sie schauen nur, sie retten dich nicht. Würdest du nicht lieber allein ertrinken wollen?

Vielleicht sollten wir aufhören, die Geschichten der täglich Getöteten zu erzählen, sagte Adnan. Es tut weh, wenn Menschen einen angucken, aber nicht sehen. Es fühlt sich einsam an, vor den Augen der Welt ausgelöscht zu werden, noch einsamer, als wäre man allein.

Ich wünschte, wir wären allein, endete er seine Rede.

Ich verstand Adnan.

Es lebte sich einfacher, als ich noch glaubte, Apathie und Untätigkeit seien eine Folge von mangelnder Aufklärung. Dass wir uns, wären wir nur ausreichend informiert, einsetzen würden für die Werte, von denen ich dachte, dass sie die Grundlage unseres Zusammenlebens bilden. Es war diese Überzeugung, aus der heraus ich mich entschied, Journalistin zu werden.

Doch ich lag falsch. Denn an Informationen mangelt es nicht. Im Gegenteil, es liegt alles da. Heute weiß ich, dass manche Menschen bewusst entscheiden, wegzuschauen. Bereit sind, tatenlos zu bleiben, während alles droht, zu zerbrechen. Der Wert von Völkerrecht, Menschenrechte, Menschlichkeit. Niemand kann alles wissen, niemand je alles verstehen. Doch wir alle können uns bilden, Fragen stellen, hinterfragen. Ignoranz ist eine Entscheidung.

Andere schauen hin und sehen, doch haben Angst zu sprechen. Angst etwas Falsches zu sagen, einen Fehler zu machen, diffamiert und ausgeschlossen zu werden. Angst Aufträge zu verlieren, die eigene Existenz zu bedrohen. Angst wird geschürt, denn Faschismus nährt sich von ihr. Angst macht uns empfänglicher für autoritäre Strukturen, Angst tötet Freiheit.

Wann fühlte ich diese Angst zum ersten Mal? Den Selbstschutzmechanismus, der uns hier in Deutschland dazu bringt, das Thema Palästina zu vermeiden?

Das Schweigen, das nicht für die eigenen Werte einstehen, zerfrisst einen von innen. Bis es irgendwann nicht mehr geht. Denn was man gesehen hat, kann man nicht ungesehen machen. Und schweigen in Angesicht von Unrecht ist Gewalt. Niemand wird behaupten können, nichts gewusst zu haben.

Was bedeutet es, wenn die größten Menschenrechtsorganisationen seit Monaten warnen, verzweifelte Videos veröffentlichen, weil sie ihre Machtlosigkeit längst eingestehen mussten? Wenn Journalist:innen sich nicht trauen, so zu berichten, wie sie es gerne täten, auf was für eine Zukunft steuern wir zu, wenn Institutionen nichts mehr zählen, per Haftbefehl gesuchte mutmaßliche Kriegsverbrecher eingeladen, Waffen verkauft und eingesetzt werden, bis kein Krankenhaus, keine Universität und kein Flüchtlingslager mehr steht? Wenn Geiseln vergessen und verraten werden, Kugeln landen in Köpfen von Kindern, Soldat:innen Videos posten, während sie lachend Wohnhäuser in die Luft jagen und im Hintergrund Menschen von Hunden gefressen werden?

Dass wir in der Lage sind, all dies so hinzuzunehmen und weiterzuleben, als wäre nichts, zeigt, in welchem Ausmaß wir uns in unserer scheinbaren Hilflosigkeit eingerichtet, wie niedrig unsere Ansprüche an demokratisch gewählte Regierungen und eine freie Presse sind, wie sehr wir zugelassen haben, dass Palästinenser:innen entmenschlicht werden. Zivilisiert und unterentwickelt, Menschen, Nummern, Tiere, Erste, zweite, dritte Welt. Wir müssen uns wehren gegen Strukturen, die uns Menschen voneinander trennen und davon abhalten, uns selbst in anderen zu sehen.

Deswegen sind Geschichten Macht.

Ich habe meinen besten Freund aus Gaza gebeten, ob es etwas gibt, von dem er sich wünschen würde, dass ich es erzähle. Ich kenne Iyad seit siebzehn Jahren, habe ihn durch die Bombenhagel von 2009, 2012, 2014 und 2021 begleitet, kenne das Gefühl, ihn nicht erreichen zu können und am Morgen Angst zu haben, dass er die Nacht nicht überlebt hat. Seit Oktober 2023 konnte ich Iyad häufig nicht erreichen. Doch er überlebte. Nach fünf Monaten des Massentötens schaffte er es mit seiner Frau und zwei Säuglingen hinaus aus Gaza, in eine kleine Stadt in Irland. Dies sind seine Worte:

"Es gibt tausend Geschichten, die ich dir erzählen könnte. Aber heute möchte ich dir von Hussam erzählen. Meinem Cousin. Fünfundzwanzig Jahre alt. Ein junger Vater. Ein Ehemann. Ein Mann, der wenig hatte, aber alles gab. Er und seine Frau mussten kämpfen, um zusammen zu sein. Ihre Liebe war nicht einfach – aber hartnäckig. Sie hatten eine Tochter, noch nicht einmal ein Jahr alt. Er vergötterte sie, ihr Name war Aya. Er war arm – so arm, dass er sich keine eigene Wohnung leisten konnte. Also machten sie das Beste daraus. Zogen in ein einzelnes Zimmer im Haus seiner Eltern. Er arbeitete in einem Supermarkt. Das war ihr Leben. Bescheiden. Zerbrechlich. Doch sie waren zufrieden.

Hussam hätte an diesem Tag gar nicht arbeiten sollen. Vier Raketen trafen den Supermarkt. Vier. Keine Warnung, kein Grund, keine Menschlichkeit. Man sagt, Dutzende seien gestorben. Ich kannte vier von ihnen. Einer war Obaida, ein Freund, mit dem ich jahrelang gearbeitet habe. Aber als ich die Explosion hörte, dachte ich sofort an Hussam. Bitte Gott, lass ihn zu Hause geblieben sein. Bitte, lass ihn am Leben sein.

Wir suchten stundenlang. Wir gruben mit bloßen Händen durch die Trümmer. Vielleicht war er zu spät gewesen. Vielleicht hatte er sich hinten im Lager befunden. Vielleicht hatte er es rausgeschafft. Aber bis zum Einbruch der Nacht hatten wir ihn nicht gefunden. Am nächsten Morgen, kurz vor Sonnenaufgang, fanden wir ihn. Ich sah nicht sein Gesicht – nur das Blut, den Staub, hörte die Stille.

Sein Vater brachte ihn allein ins Krankenhaus, füllte allein die Sterbeurkunde aus und begrub ihn… allein. Denn selbst Trauer ist zur Zielscheibe geworden. Abschiednehmen gilt als Gefahr.

Ich konnte nie gut mit dem Tod umgehen. Wusste nie, was ich sagen soll, wie ich für meinen Onkel, für Hussams Frau, für ihr Baby da sein konnte. Welche Worte könnten noch Bedeutung haben, wenn jemand seine ganze Welt verliert? Seine Mutter hörte auf zu sprechen. Wochenlang kein Wort. Seine Frau verließ das Zimmer, in dem sie gemeinsam mit Husam gelebt hatte. Sie konnte dort nicht mehr atmen. Ihre Tochter – wenn sie diesen Krieg überlebt – wird ohne ihren Vater aufwachsen. Wie Zehntausende anderer Kinder. Sie wird in ihrer Einsamkeit nicht allein sein.

Wir alle trauerten auf unterschiedliche Weise. Manche weinten. Manche schrien. Manche sagten gar nichts. Ich trauerte, indem ich wie ein Verrückter durch die Straßen lief, auf der Suche nach Essen, Windeln, Medizin – für meine zwei Monate alten Zwillingsmädchen. Jedes Mal, wenn ich sie ansah, dachte ich: Was, wenn sie ihren Vater nie kennenlernen? Ich war mir sicher, dass ich sterben würde. Also tat ich, was viele von uns tun: Ich verdrängte den Gedanken. Keine Abschiede. Keine Briefe. Keine dramatischen Gesten. Ich sagte mir – denk nicht dran. Überleb einfach.

Aber als der Gedanke nicht ging, fing ich an, mit dem Tod zu verhandeln. Lass es zumindest an einem würdevollen Ort geschehen, dachte ich.

Nicht auf der Toilette.

Nicht auf der Straße.

Lass sie mich finden.

Lass meine Familie die Möglichkeit haben, mich zu beerdigen.

Ich bin in diesem Krieg nicht gestorben. Aber etwas in mir starb in Gaza."

Dies waren die Worte meines Freundes Iyad. Bald werde ich ihn in Killorglin besuchen, auch wenn ich Angst habe vor dem Moment, vor der endgültigen Realisierung, dass all das, was ich auf Bildschirmen sehe, dass all die Geschichten real sind, dass man sie anfassen kann, dass nichts je mehr so sein wird, wie es war.

Zehntausende haben die vergangenen Monate nicht überlebt, vielleicht Hunderttausende. Wir hätten das verhindern müssen, und können. Wir müssen jetzt weiteres Töten verhindern. Es darf keinen Mut erfordern, zu erwarten, dass Menschenleben überall auf der Welt geehrt, respektiert und geschützt werden, es ist nicht tapfer, als Journalist:in Verbrechen klar zu benennen, als Bürger:in laut zu sein gegen Waffenlieferungen, für die Einhaltung des Völkerrechts, es MUSS selbstverständlich sein. Es sind beängstigende Zeiten, doch wir dürfen der Angst nicht nachgeben. Wir müssen uns zusammenschließen und unsere Stimmen erheben, laut und stolz.


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