Der Fetischcharakter der Kinder

Kritische Bemerkungen zum Weltkindergipfel der Vereinten Nationen

01.06.2002   Lesezeit: 7 min

»Ein erbärmliches Leben führen Straßenkinder. Dennoch scheint es um ihre körperliche Verfassung besser zu stehen als vorher angenommen. Zu dieser paradoxen Erkenntnis sind US-Forscher der University of Buffalo bei der Untersuchung von 5 – 15jährigen guatemaltekischen Straßenkindern gelangt. Der Body-Mass-Index der Probanden, ein Prognosefaktor für gesundheitliche Gefahren und Sterberisiko, glich demjenigen von gleich groß gewachsenen US-Kindern. Diese Straßenkinder entwickeln spezielle Kräfte, sie passen sich physisch an die schwierigen Bedingungen eines Lebens ohne Heim und Familie an.«
(SPIEGEL, 17 / 2002)

Vor 13 Jahren wurde die UN-Konvention über die Rechte des Kindes von der Vollversammlung der Vereinten Nationen angenommen.

Keine andere Menschenrechtskonvention ist bislang so schnell von so vielen Staaten ratifiziert worden. Damit wurden erstmals in der Geschichte Kinderrechte auf dem Papier als völkerrechtlich verbindlich eingestuft. Im Mai 2002 ereignete sich die neueste UN-Sondergeneralversammlung »Zur Lage der Kinder« in New York, die kurz vor ihrem bereits erklärten Scheitern durch einen Kompromiß »gerettet« werden konnte.

Gerettet wurden nicht die Kinder dieser Welt, sondern unter Dach & Fach gebracht wurden die hochaufwendigen, teuer-kostspieligen jahrelangen Vorarbeiten der beteiligten großen internationalen staatlichen wie nichtstaatlichen Kinderhilfsorganisationen, die ohne einen minimalen Konsens eine ergebnislose Verfahrens-Katastrophe hätten erklären müssen. Es ging um ihre Resolutionen, Anträge, Vorbehalte, Klauseln, Verfügungen und Gesetze – nicht um die Kinder. Und es ging um die präformierten Bedürfnisse und Mythen von Mittel- und Oberschichten, die hartnäckig ein stereotypes Bild von Kindheit & Jugend projizieren, das nur eingebildet ist.

Weit kritischer als manche Kinderfreunde & Freundinnen formuliert die wissenschaftliche Schriftenreihe ausgerechnet des Bundeskriminalamtes (1996) eine krass gegenläufige Einsicht: »Sprechen wir lieber davon, was die Kindheit wirklich ist, nicht darüber, was in den Köpfen von Erwachsenen und Institutionen spukt. Der Mythos der Kindheit blüht nicht deshalb so üppig, weil er die Bedürfnisse der Kinder befriedigte, sondern weil es um Ausbeutung der Juvenilität durch die Gesellschaft geht. In einer Kultur von entfremdeten Menschen ist der Glaube, daß jeder zumindest einmal im Leben eine von Sorge und Plackerei freie Zeit erlebt haben soll, nur schwer auszurotten. Es dürfte wohl einleuchten, daß wir nicht erwarten, das Alter würde diese Zeit bringen. Also muß es bereits hinter uns liegen. Daher die nebulöse Sentimentalität, die jede Diskussion über Kinder oder die Kindheit umgibt. Im Namen der Kinder wird illusionär ausgebeutet, was nur im Traum zu haben ist. Noch im größten Elend der Kinder, ihrer ganzen Wirklichkeit, soll phantasmatisches Glück behauptet werden, das allen zu erfahren real versagt ist.«

Wir wissen heute kaum noch, daß die Kindheit eine relativ neue Erfindung ist, daß Kinder vor 200 bis 300 Jahren tatsächlich als kleine Erwachsene behandelt und dargestellt wurden. Ausgedrückt gut erkennbar in der früheren bildenden Kunst, wo Kinder wie Erwachsene in Miniaturausgaben gemalt wurden, während man später dann Kinder in der naiven wie populären Darstellung in ein »Kindchenschema« preßte. Im Laufe der gesellschaftlichen Verkindlichung wurde das Kind verschult und entmündigt.

Die triumphale Feier der Jugend und die überwältigende, also vergewaltigende Liebe zum Kind funktioniert unter anderem durch die Ausnutzung eines evolutionären Reiz-Reaktions-Musters, dem der am Nationalsozialismus orientierte Verhaltensforscher Konrad Lorenz den Namen »Kindchenschema« gab. Dies meint eine Kombination von Merkmalen, die beim Menschen als Auslöser für den »Brutpflegetrieb« wirken. Das Schema gilt nicht nur für Säuglinge und Kleinkinder, sondern auch für Tiere oder Gegenstände, die dem Kindchenschema morphologisch entsprechen. Das bedeutet Claudia Schiffers ganzes Kapital. Komplette Industrien profitieren von der sozialen Segregation und der pädagogischen Bevormundung, mit der Kinder in ihrer Kinderrolle gehalten werden. In der Produktwerbung wird das Schema gern signalfälschend verwendet: alles, was kindlich erscheint, wird als »süß« begehrt und einverleibt.

Das Motto der kannibalistischen Liebe zur Jugend untersteht dem Diktat der warenproduzierenden Ära: »Ihr sollt alles zum Fressen gern haben«. Den VW LUPO, sehr rund, mit großen Rücklichtern wie Kinderkulleraugen. Die Teletubbies, naiv anrührend, E.T. als kosmische Schutzlosigkeit aus dem All, Walt Disneys Figuren mit Kinderstupsnasen. PRO 7 setzte wochenlang aufs Kindchenschema und appelliert ans Gewissen der Zuschauer, den kleinen, runden Technowesen der Dotwins dabei zu helfen, ihre »Heimat« wiederzufinden. Aus allen Werbespots quieken die pokemóns hervor und flehen uns an, sie von ihren unwürdigen Haftbedingungen in McDonalds Restaurants, Shell-Tankstellen und BILD-Zeitungskiosken zu befreien. Das ganze gesamtverlogene »Projekt pro Kind« soll ihren jeweiligen Unternehmenszweck als rein humanitäres Ziel ausweisen – statt als bloße Mehrwert-Interaktion einer depressiven Menschheit.

Niederträchtig subtil wird das Schema in der politischen Propaganda benutzt: Diktatoren bekommen von kleinen niedlichen Kindern Blumensträusse überreicht – und wirken auf der Stelle harmloser. Aber auch anderswo, unter demokratischeren Umständen, geht nichts ohne den Jugendmythos: »Wir haben verstanden!«, antworten die professionellen PR-Abteilungen der Politik, wenn Jugendliche die ihnen in den Mund gelegten Fragen an ihre Kandidaten richten. Kindheit & Jugend kann in grandioser Überforderung phrasenhaft angeblich alles: die Welt retten, die Umwelt schützen, den verlogen schuldbewußten Erwachsenen die Leviten lesen, die ganze Wahrheit sagen. Der Fetischcharakter der Kinder ist das Resultat der Regression der Erwachsenen. Die dem Nazarener dessen Gebot, »so zu werden wie die Kindlein«, im Mund herumdrehten – denn vom »kindischwerden« hatte er ausdrücklich nicht gesprochen. Wir alle – die Experten für das Spendensammeln der Hilfsorganisationen – verlassen uns oft nur ungern auf das Bewußtsein unserer »Kunden«, sondern gründen die Auswahl der Bebilderung der Werbematerialien auf den angeborenen Instinkt des Kindchenschemas, dem »man sich nicht widersetzen kann« (Lorenz). Zwang also soll unter Hinweis auf die phantasierten Kinder beitragen zur Verbesserung der Welt, die als zwanghafte darin nur bestätigt wird.

Das größte Verbrechen dieser Zeit

Es gibt das weltweite Massenelend der Kinder und Jugendlichen. 40 000 werden auch an diesem Tag in den armen Ländern beerdigt. 15 Millionen im Jahr. Die Folgen der Politik der Reichen lassen sich in Kinderbeerdigungen hochrechnen. Die Sterblichkeitsrate steigt mit den Zinszahlungen, die von den internationalen Finanzinstitutionen im Süden der Erde eingetrieben werden. Der Akt des Schulden-Eintreibens allein kostet jährlich 500000 Kindern das Leben. Über die Verbrechen an den überlebenden Kindern und Jungen gibt es keine Statistik. Die Zahl der verlassenen und verwaisten Kinder kennt keiner genau: geschätzt werden 100 Millionen. Etwa 140 Millionen Kinder leisten ab dem 6. Lebensjahr weltweit Sklavenarbeit. Werden gemietet, verkauft, vernutzt: in Bergwerken, Ziegeleien und Schwitzbuden und Bordellen. Die Mehrheit dieser Kinder – von den Pflückern auf Kaffee- und Teeplantagen bis zu den Teppichknüpferinnen – helfen, billige Luxus- oder Genußgüter für die Industrienationen zu produzieren. Das Zertifikat »Handgeknüpft« heißt übersetzt vollzogene Folter. In der Sprache der Weltbanker »ein komparativer Kostenvorteil«. – In Mexiko City bucht ein junger Sozialarbeiter die Dinge anders: »Ich denke, es hat nie mehr Reichtum und nie mehr Elend auf dieser Erde gegeben. Man wird später das, was heute den Kindern geschieht, das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte nennen.« Carlos zweifelt daran, daß er den Kindern auf der Straße wirklich helfen kann. Es ist nicht Mitleid, das ihn durchalten läßt, sagt er, sondern Bewunderung für den Lebenswillen der Chancenlosen. Almosengesinnung in den Industriestaaten hilft diesen Kindern nicht. Adoptionen schon gar nicht. Verbot der Kinderarbeit auch nicht. Konsumentenzurückhaltung gegenüber Produkten aus Kinderarbeit nur beschränkt. UN-Konventionen bleiben Eigentum ihrer Stifter, auf dem Papier.

Der Krieg der Kinder

Was könnte helfen? – Vor allem: Keine weiteren Resolutionen! Strengster Verzicht auf den Weichzeichner des Kindchenschemas. Stattdessen aber den Blick auf die Akteure selber richten. Noch bevor nämlich die »Kinderrechte« überhaupt ein Thema wurden, entstand 1978 in Peru die erste Kinderbewegung Lateinamerikas. Die zweite Kinderbewegung wuchs unter dem Namen »Movimento Nacional de Meninos e Meninas da Rua (MnMMR)« in Brasilien: sie klagte die aus der Zeit des Militärregimes in Brasilien überlieferte Unterdrückungs- und Mordpraxis an den Straßenkindern an. Sie alle beriefen sich zwar in der Folgezeit auf die Rechte der späteren UN-Kinderkonvention, reklamieren aber auch Rechte, die darin nicht enthalten sind, oder sie stellen in Frage, wie Regierungen und NGO’s die Konvention auslegen und mit ihr in der Praxis umgehen.

»Kinderbewegungen in diesem Sinne sind soziale Bewegungen, bei denen die Kinder selber den Ton angeben. Im Falle von Initiativen von Personen, die sich für die Rechte der Kinder einsetzen, sollte nicht von Kinderbewegungen, sondern von Kinderrechtsbewegungen gesprochen werden. Es handelt sich auch nicht um Kinderbewegungen, wenn Kindern in pädagogischer Absicht Einflußbereiche eingeräumt werden, oder wenn Kinder zeitweilig mobilisiert werden, um ihrer Stimme mehr Beachtung zu verschaffen (Kindergipfel, Kinderparlamente). Von Kinderbewegung läßt erst dann sich sprechen, wenn Kinder in gemeinsamer Anstrengung und Verantwortung eigene Ziele artikulieren und selbstbestimmte Normensysteme und Strukturen schaffen.« (Manfred Liebel).

Gewiß brauchen die Kinder die Hilfe von den Erwachsenen, von uns allen – aber zu sich selbst und ihren Rechten werden sie wohl nur kommen, wenn auch sie die weltsoziale Frage stellen und sich unmißverständlich vom allgemeinen Wohlwollen für unabhängig erklären.

Hans Branscheidt


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