30 Jahre medico-Arbeit in Nicaragua und El Salvador oder das sture Beharren auf selbstragende, selbstbestimmte und selbstverwaltete Entwicklung. Von Katja Maurer.
Ortswechsel I: Perquín – vom Überdauern der Revolution
"Wer will Marisol denn sprechen?", fragt das junge Mädchen, das in dem kleinen Café auf der einzigen Hauptstraße von Perquín bedient. "Sag einfach El Vikingo, dann weiß sie schon", antwortet der blonde Hüne und lässt sich an einem der fünf Holztische nieder. Perquín ist ein Nest, malerisch und abgelegen mitten in den Hügeln von Morazán unweit der honduranischen Grenze. Dass der Ort einmal eine der wichtigsten Stützpunkte der salvadorianischen Guerilla war, davon künden heute noch eine Wanderroute zu den ehemaligen Lagern und das Museum der Revolution, in dem man sich in Guerilla-Kluft fotografieren lassen und Che Guevara-Andenken kaufen kann.
Als Marisol erscheint und den großen, kräftigen Mann sieht, erinnert sie sich sofort. Mit Walter Schütz, dem medico-Projektkoordinator für Mittelamerika, hatte sie häufig zu tun. In einer anderen Zeit. Zu Beginn der 80er Jahre. Damals lieferte medico Medikamente in die salvadorianischen Flüchtlingslager in Honduras und in die von der Guerilla kontrollierten Gebiete, auch nach Perquín und Morazán. Marisol Galindo war eine führende Guerilla-Kommandantin und eine wichtige Ansprechpartnerin für Walter – den Wikinger. Heute betreibt Marisol das kleine Café und vermietet ein paar Zimmer an Touristen. Sie ist gut informiert über alle politischen Entwicklungen, besonders über die Entwicklung der Linken in Lateinamerika. Dem gesellschaftlichen Wandel hin zu gerechten gesellschaftlichen Verhältnissen gilt nach wie vor ihre höchste Neugier.
Jeder in El Salvador hat seinen eigenen Umgang mit der jüngeren Geschichte. Marisol ist nach Jahren in der Hauptstadt wieder nach Perquín zurückgekehrt, ans Ende der Welt, in das Café kurz vor dem Dorfplatz. Fast scheint es, als wäre Perquín für sie wieder ein Rückzugsgebiet, ein Ort des Abwartens auf den Moment, da all die Fragen neu zu stellen sind, die Ausgangspunkt ihrer Hinwendung zur Guerilla waren. Politisch interessiert sie sich für die soziale Lage der Kleinbauern, aber auch für die Chancen, die der Tourismus den Leuten hier bieten kann. Und für die moralisch und juristisch ungeklärte und schier unüberwindliche traumatische Hinterlassenschaft aus der Zeit des Bürgerkrieges und der Militärdiktatur: das Erbe von 85.000 Ermordeten und Verschwundenen. Nur noch deren Namen sind geblieben, eingraviert auf einer 50 Meter langen Marmorplatte in einem Park der Hauptstadt San Salvador. Ein Symbol der gezielten Vernichtung.
Walter und Marisol lassen das Schicksal gemeinsamer Bekannter Revue passieren. Angesichts der politischen Wege, die manch einer genommen hat, bleibt Marisol erstaunlich ruhig. Dabei sind einige der früheren Gefährten sogar bei ARENA gelandet, der Partei Roberto D'Aubissons, des einstigen Chefs der Todesschwadronen. Bei den Treffen ehemaliger Kämpfer, die Marisol seit vier Jahren organisiert, gibt es zwei sakrosankte Regeln: Niemandem werden Vorhaltungen wegen vergangener Handlungen gemacht, und niemand darf für seine heutige politische Einstellung "missionieren". Diese Regeln scheint sie selbst zu beherzigen. Differenziert und abwägend spricht sie von den Themen, die die lateinamerikanische Linke heute bewegen und spalten. Dabei geht es um die FMLN, die Partei der Befreiungsbewegung, in der eine Strömung mittlerweile alle anderen herausgedrängt hat, und es geht um das politische Projekt des venezolanischen Präsidenten Chávez. Bei aller Distanz zur FMLN weiß sie, dass die Partei gebraucht wird, um die Rechts-Regierung El Salvadors irgendwann abzuwählen und die Elite des Landes zu zwingen, einer Veränderung der politischen Kultur zuzustimmen. Die Politik von Chávez verfolgt sie mit neugieriger Gelassenheit, auch wenn ihr dessen Personenkult offenkundig unsympathisch ist. "Wenn sich in Venezuela die Frage nach der Vergesellschaftung der Produktion stellt", meint sie, "wird das ein spannender Prozess."
Zufrieden Marisol getroffen zu haben, schlendern Walter und ich zum Museum der Revolution. Die Idee, gleich nach dem Ende des Krieges ein solches Museum einzurichten, hat medico damals mitentwickelt und finanziell unterstützt. Ursprünglich befand es sich im Haus der Kultur auf dem Hauptplatz von Perquín. Einer der rechten Bürgermeister hat es an den Dorfrand verlegt. Aber auch hier erfüllt es seinen Zweck, die Erinnerung zu bewahren und vielleicht sogar zum Ausgangspunkt der Reflexion und Debatte über Wohl und Wehe sozialer Umbrüche werden zu lassen. Im "Raum der internationalen Solidarität" finden wir das Plakat zur Salvador-Demonstration in Frankfurt am 31. Januar 1981, an deren Vorbereitung Walter und ich einst beteiligt waren.
Perquín, das klang damals nach Befreiung und Revolution: Je weiter weg man vom eigentlichen Geschehen war, desto größer und bedeutender wurde der Ort. Für die politische Linke im Westdeutschland der 80er-Jahre hatten die Befreiungsbewegungen in Mittelamerika eine ähnliche Bedeutung wie Vietnam für die 68er-Bewegung. Sie waren politisches Fanal und Projektionsfläche zugleich. Wunsch und Wirklichkeit flossen in eine idealisierte Vorstellung von der Guerilla. Anklänge daran findet man heute noch in den blassen Bildern des Perquíner Revolutionsmuseums. medico international gehörte damals zu den wichtigsten Akteuren der Solidaritätsbewegung. Die Projektarbeit organisierte Walter Schütz, der 1981 deshalb selbst nach Mittelamerika ging. 26 Jahre später besuche ich mit Walter alte und neue Projektpartner. Perquín ist die erste Station unserer Reise.
Ortswechsel II: El Tanque – vom Weiterleben nach der Katastrophe
Everz ist der Vorsitzende der Kooperative von El Tanque. Schon in seinem Händedruck liegt so viel Sicherheit und Selbstbewusstsein, dass einem dieser bäuerliche Stolz eine ordentliche Portion Respekt abnötigt. Zu seinen Aufgaben gehört auch die Verwaltung des Kreditfonds, der den Bauern und der Kooperative zur Verfügung steht, bei Investitionen in die gemeinsamen Ländereien wie beim Ankauf von Saatgut. Der Fonds ist der letzte Bereich, den medico in El Tanque noch regelmäßig unterstützt. Am Anfang, während und nach der Gründung der Gemeinde, war das anders. Da hatte auch Walter Schütz viel in El Tanque zu tun, das medico-rundschreiben hat damals immer wieder davon berichtet. Das Dorf wurde von Männern und Frauen gebaut, die früher als Kleinbauern am Vulkan Casita gelebt hatten. Durch den Hurrikan Mitch hatten sie 1998 ihre Häuser, ihr Land und ungezählte Familienangehörige verloren. Mit der Unterstützung von medico schufen sie sich in El Tanque eine neue Heimat. "Das sollte mein Meisterstück werden", erinnert sich Walter, der diese physisch und seelisch erschütterten Menschen damals mit großem Elan unterstützte. Während er das sagt, sitzt er zwischen Everz und den anderen Mitgliedern der Kooperative im Raum für Fortbildungen.
An den Wänden des Versammlungszimmers hängen noch immer Bilder der Schlammlawine, die 2.500 bis 3.000 Menschen unter sich begrub. Sensationslüsterne Zeitungsfotos der mit Schlamm bedeckten Toten. Langsam verbleichend, wirken sie fast wie beiläufig aufbewahrt. Sie hängen zwischen Fotos von den ersten heißen Wochen auf dem Land, das sie damals besetzten. Fotos, auf denen noch kein Strauch und kein Baum zu sehen ist. Von Männern, die von Trauer gezeichnet sind. Und von der Übergabe der Landtitel. Nicht nur die klimatischen Bedingungen, auch die Zeit kratzt und nagt an der Präsenz der Erinnerung. Vor die Vergangenheit schiebt sich die Realität des heutigen El Tanque. Everz erläutert uns die Zahlen und Fakten einer prosperierenden Kooperative. "Noch drei Jahre, dann stehen wir vor dem nächsten Entwicklungssprung", sagt er, und die Vorstandsmitglieder der Kooperative nicken zustimmend. Neues Land soll gekauft werden, und neue Maschinen. Es geht schon längst um mehr als um die Sicherung der eigenen Subsistenz. Es geht um Entwicklung, um wirtschaftliche und politische Teilhabe im Rahmen einer solidarischen Ökonomie. Everz lässt keinen Zweifel, dass das gelingen wird.
Woran aber hängt das Gelingen eines solchen Projektes, was sind die Ingredienzien für ein solches "Meisterstück"? Walter und ich sitzen im Garten von Luisa Rueda und Luis Guzmán, zwei alteingesessenen Tanqueros. Luisa gehört zu den Aktivistinnen der ersten Stunde. Ich erinnere mich, wie sie mir vor 6 Jahren ihren vollen Silo mit Mais zeigte. "Den werde ich ganz alleine verkaufen. Ohne die Kooperative", sagte sie mir damals voller Stolz. Sie war misstrauisch, dass man sie hintergehen könnte. Später hat Luisa, die Bäuerin und Mutter von 8 Kindern, dazugelernt. Im Kurs für Erwachsenenbildung holte sie die Schulbildung nach, lernte nicht nur lesen und schreiben, sondern auch Bilanzen zu verstehen. Das Misstrauen gegen die Kooperative ist längst verschwunden.
Ist das ein "Erfolgsrezept" – Erwachsenenbildung? "Den Erfolg von El Tanque kann man nicht nach der Logik von Ursache und Wirkung erklären. Auch wenn ich in meinen Projektanträgen so tue, als ob das ginge." Hing der Neubeginn von El Tanque an der psychosozialen Arbeit, in der die Leute versuchten, sich ihren traumatischen Erinnerungen zu stellen? Oder gab ihnen die erste Maisernte die Hoffnung zum Weiterleben? Für manche jedenfalls war es die Rechtssicherheit, die ihnen der Landtitel gab. "Wenn man Armut wirklich bekämpfen will", sagt Walter, "braucht man integrierte Entwicklungsmaßnahmen." Hinter dem technischen Begriff verbirgt sich eine politische Haltung. Das macht den Unterschied. Das gilt so auch von den WHO-Strategien zur "Gesundheit für alle" aus den 70er-Jahren und von der Grundbedürfnis-Theorie des chilenischen Entwicklungsökonomen Max Neef, die für Walter zur theoretischen Stütze der Arbeit in El Tanque wurden. Zu den Grundbedürfnissen, deren Erfüllung erst eine nachhaltige Entwicklung ermöglicht, zählt Neef neben der durch Nahrungsmittel und Wohnraum gesicherten Subsistenz und dem Zugang zu Gesundheit auch Sicherheit, Teilhabe und Identifikation. "Das haben wir in El Tanque berücksichtigt", sagt Walter. Und: "Da lässt sich eine Linie ziehen von unseren revolutionären und basisdemokratischen Idealen zu unserer heutigen Arbeit."
Ortswechsel III: La Palmerita – vom Saisonarbeiter zum Bauern
Allerdings hat Walter nicht damit gerechnet, dass El Tanque eine ungeahnte Fortsetzung finden würde. Eines Tages tauchten dort landlose Kaffeearbeiter auf. Sie schauten sich den Ort an, trafen sich mit der Kooperative und erklärten nach einem langen Tag voller Gesprächen, dass auch sie genau so ein Dorf errichten wollten. Sie baten Walter Schütz und medico um ihre Unterstützung.
Für Walter war das eine schwierige Entscheidung: "Es ging um 153 arbeitslos gewordene Tagelöhner-Familien, die von der Regierung Land zugewiesen bekommen hatten. Im Gegensatz zu den Kleinbauern von El Tanque gehörten die Leute von Palmerita zu den allerärmsten Schichten. Sie lebten von weniger als einem Dollar am Tag. Ich war mir sehr unsicher, ob sie in der Lage sein würen, ihre ganze Lebensweise zu ändern und Kleinbauern zu werden." Eine Machbarkeitsstudie nicaraguanischer Psychologen kam zu einem positiven Ergebnis – mit Einschränkungen. Psychosoziale Arbeit, so hieß es, wäre eine Grundvoraussetzung für das Gelingen. "Im Grunde bestätigte das nur meinen Verdacht, dass ein solches Projekt mit großen, vielleicht zu großen Risiken behaftet sein könnte."
Die Psychologin Margarita Espinoza von der Frauenorganisation María Elena Cuadra hat schon die psychosoziale Arbeit in El Tanque betreut und erzählt uns von den nahezu katastrophalen Anfängen in La Palmerita. "Unentwegt stießen wir auf Schwierigkeiten. Viele Bewohner kamen mit ihren Macheten zu den Sitzungen. Die Stimmung war aggressiv. Es gab massive Proteste gegen uns und unablässig Klagen um mehr Hilfe von medico. Manche hätten uns gern ganz aus dem Ort verbannt." Mit der Zeit aber änderte sich die Stimmung. "Ich merkte das daran, dass die Leute plötzlich ohne Machete zur Sitzung kamen", erinnert sich Walter Schütz. Und: "Auch hier kann man keine Kausalkette herstellen, um zu begründen, warum die Wende glückte. Auch wir haben dabei viel gelernt. Wir mussten verstehen, ihrer bisherigen Überlebenskultur mit Respekt zu begegnen. Denn was wir an den Leuten ändern wollten, ihre Aggressivität, ihre Bindungslosigkeit, ihre Promiskuität, die fehlende Lebensplanung – all das waren Fähigkeiten, die es ihnen ermöglichten, ihr Leben als Saisonarbeiter überhaupt zu bewältigen."
Juan Ochoa kann von diesem Leben erzählen. Seit seinem fünften Lebensjahr kennt der Mittdreißiger nichts anderes als die Arbeit auf den Plantagen, das Wohnen in Massenunterkünften, das Umherziehen von Saisonarbeit zu Saisonarbeit. Juan hat niemals eine Schule besucht. Ein solches Leben produziert und braucht Bindungs- und Planungslosigkeit, die Fähigkeit, aus den kleinen Siegen, den kurzfristigen Vorteilsnahmen im Alltag den eigenen Selbstwert zu schöpfen. Da fiel es schwer, sich auf einmal in Alphabetisierungskursen und in agrartechnischen Fortbildungsmaßnahmen bewähren zu müssen oder aufgenommene Kredite tatsächlich zurückzuzahlen. Sich eine bäuerliche Kultur der Verlässlichkeit, der Sesshaftigkeit und Beständigkeit anzueignen. Juan Ochoa und ein Teil der Leute von Palmerita haben diesen kulturellen Wandel auf sich genommen. Juan hat einen Alphabetisierungskurs absolviert, einen Kleinkredit aufgenommen und sich davon einen Karren und ein Pferd gekauft. Von den paar Córdobas, die er damit verdient, kann er jetzt seine beiden Kinder zur Schule bringen. Sie gehören zu den besten Schülern des Jahrgangs.
Gern hätte er uns seinen Schimmel gezeigt, doch ist das Pferd zum Grasen weit draußen im Feld hinter dem Haus. Sein Pferd und sein Karren sind Juans ganzer Stolz, die Erfüllung seiner kühnsten Träume. Das sagt etwas über die Spielräume von 25 Prozent der Nicaraguaner, die wie Juan Ochoa in extremer Armut leben. Die nächste Generation, seine Kinder, meint Walter, werden ein anderes Leben führen und anderen Träumen folgen. Projekte wie El Tanque oder Palmerita setzen auf individuelle und soziale Ressourcen und auf ein soziales Handeln, das nur in Maßen berechenbar ist. "In den klassischen Armutsbekämpfungsprogrammen", so Walter, "wird die extreme Armut gar nicht mehr berücksichtigt, ist der Einschluss der Marginalisierten nicht mehr vorgesehen. Zu diffizil und vielleicht auch nicht gewollt. Man will risikofreie, betriebswirtschaftlich berechenbare Projekte."
Ortswechsel IV: Río San Juan oder die nackten Füße Nicaraguas
Der Weg in die Provinz Río San Juan ist noch immer nicht besser geworden. 170 Kilometer im Schritttempo über eine nicht asphaltierte Piste – es gibt offenbar Winkel auf dieser Welt, um die sogar die Globalisierung einen Bogen macht. "Die nackten Füße Nicaraguas" nannte der Schriftsteller Sergio Ramírez die Provinz Río San Juan zwischen den noch ärmeren Provinzen der Atlantikküste und dem begüterten Nachbarland Costa Rica. Unsere Fahrt zieht sich endlos. Die Nacht ist tiefschwarz und die Gegend scheint menschenleer, weil die Dörfer hier nicht einmal Strom haben. Vor zehn Jahren war Walter Schütz zum letzten Mal hier. Hinterm Steuer unseres Wagens erinnert sich der medico-Projektkoordinator an die Jahre der Aufbauarbeit. Für medico hatte er das Gesundheitssystem der Provinz organisiert. "Als wir anfingen, gab es in der ganzen Region zwei Ärzte und ein nicht funktionstüchtiges Krankenhaus." Mit Spendengeldern und öffentlichen Mitteln, darunter einer hohe Summe von der ersten rot-grünen Regierung in Hessen, half medico ab 1983 beim Aufbau des Gesundheitswesens, in Kooperation mit der sandinistischen Regierung. "Es sollten möglichst viele Menschen und Ressourcen aus der Region selbst mobilisiert werden. Im Ergebnis einer zehnjährigen Arbeit entstand in der Region eine neue, dezentrale Gesundheitsinfrastruktur. Durch Aus- und Fortbildung machten sich Hunderte von jungen Leuten Inhalte der Basisgesundheitspflege zu Eigen und trugen sie in ihre Dörfer.
Es war die Zeit eines großen Umbruchs, der alle erfasste und in Bewegung brachte. "Damals war es ungleich einfacher als heute, mit den Menschen grundlegende Veränderungen durchzusetzen." Man sieht es Walter Schütz an: Er denkt an die Arbeit mit den Leuten in Palmerita und daran, wie risikoreich für sie das Aufgeben der alten Überlebensregeln ist. Das wäre damals einfacher gewesen. Doch heute zielt auf einen umfassenden Umbruch nur noch der Neoliberalismus. In der erzwungenen Arbeitsmigration und der Sklaven-Arbeit in den zollfreien Zonen der Maquilas geht es allerdings nicht um Max Neefs Ideen von Sicherheit, Teilhabe und Identifikation, die Walter bewegen.
Die Arbeit in Río San Juan hatte einen eminenten politischen Grundgedanken: Sie sollte die sandinistische Regierung im Bürgerkrieg unterstützen. Río San Juan war als Grenzgebiet auch Kampfgebiet. "Schade", meint Walter, "dass die Sandinisten damals zunehmend auf eine militärische Bekämpfung der 'Contra' setzten. In Río San Juan haben die sichtbaren sozialen Erfolge wie der erfolgreiche Aufbau des Gesundheitssystems den Sandinisten bis zum Schluss die Mehrheit gesichert. Wir haben die Contra, die Rebellen um Eden Pastora, mit Sozialprogrammen, nicht mit Waffen besiegt." Río San Juan war die einzige Provinz, in der die Sandinisten bei ihrer Abwahl 1990 noch die Mehrheit der Stimmen hielten.
Was ist heute von dieser Arbeit noch zu sehen? In der Provinzhauptstadt San Carlos besuchen wir eines der großen Projekte, die Walter Schütz über viele Jahre betreut hat: das Krankenhaus. "Hier hat sich so viel verändert", murmelt er immer wieder vor sich hin, und das keineswegs mit Bedauern. Das Krankenhaus wurde erheblich erweitert, neue Operationsräume und Krankenbetten sind hinzugekommen. Geblieben aber ist die klimatisch angepasste, offene und luftige Architektur.
Das Gesundheitswesen in Río San Juan ist ein Beispiel für Nachhaltigkeit. Wohin wir auch kommen, überall (in Río San Juan) funktionieren die Gesundheitseinrichtungen noch, die medico einst errichtete. Viele wurden erweitert und ausgebaut. Bei allen Problemen ist eine für alle zugängliche öffentliche Gesundheitsfürsorge hier nach wie vor der geltende Standard. Das ist übrigens auch ein Verdienst von lokalen Politikern, die sich solchen Ideen noch verpflichtet fühlen.
In der bescheidenen und abgeschiedenen Idylle des Río San Juan fällt denn auch die entwicklungspolitische Zwischenbilanz von El Vikingo nicht schlecht aus. Sein beständiges Ringen, in konkreten Projekten deutlich zu machen, dass eine den Menschen zugewandte, selbstbestimmte Form von Entwicklung möglich ist, findet hier zurück zu den revolutionären Wurzeln. Die wachsende soziale Kluft, die Unruhe über die systematische Ausgrenzung von immer mehr Menschen und die Utopie eines anderen, besseren Lebens der Marginalisierten werden ihn weiter bewegen und bleiben die treibende Kraft seines Nachdenkens und Handelns. Walter Schütz geht zum Ende des Jahres 2007 in den Ruhestand. Ganz sicher werden wir weiter von ihm hören. Auch in dieser Publikation.
Projektstichwort
Alphabetisierung, Aufbau einer kleinbäuerlichen Existenz, Entwicklung einer Gemeindeselbstverwaltung, Gesundheitsförderung, Traumabearbeitung – das sind die Eckpunkte des integralen Entwicklungsprojektes mit 153 Familien im nicaraguanischen Palmerita. Mit Ihrer Spende können Sie eine beispielhafte Arbeit zur Bekämpfung der extremen Armut unterstützen. Online-Spenden.