Der Durchmarsch der islamistischen Hayat Tahrir al-Sham (HTS) bis Aleppo und Hama kam für alle Beobachter:innen überraschend und hat weitreichende Konsequenzen für die Zivilbevölkerung. Die Reaktion des syrischen Regimes ist brutal – mit russischer Unterstützung werden Luftangriffe vorrangig gegen zivile Ziele geflogen.
Nothilfe aus Rojava
Besonders Kurd:innen und andere religiöse und ethnische Minderheiten sind von der Machtübernahme der islamistischen Milizen im Norden Syriens bedroht. Deshalb versuchten die Syrian Democratic Forces (SDF), der militärische Arm der Selbstverwaltung Nordostsyriens (Rojava), die bedrohte Bevölkerung in Aleppo und das Flüchtlingslager Shehba in Til Rifat zu schützen. Das gelang nur bedingt – Hunderttausende Menschen werden nun evakuiert. Hunderte Familien aus Aleppos kurdischem Stadtteil Sheik Maqsood verlassen die Stadt, weil unklar ist, ob die SDF sich werden halten können. Erheblich dramatischer ist die Lage in Shehba, wo Hunderttausend Menschen aus dem kurdischen Kanton Afrin seit sechs Jahren ausharren. Damals hatten islamistische Milizen die Region mit türkischer Unterstützung angegriffen und besetzt.
Zuletzt ohne Nahrung und Wasser harrten die Flüchtlinge in Shehba aus, eingeschlossen von den islamistischen Kämpfern im Süden und unter Beschuss der Milizen aus dem besetzten Afrin. Nach Verhandlungen ließen die Belagerer die Menschen aus Shehba heute in Richtung Tabqa ziehen, dem ersten großen Ort auf dem Gebiet Rojavas. Hier werden die erneut Vertriebenen bereits von den Nothelfer:innen des Kurdischen Roten Halbmonds erwartet und in mobilen Kliniken versorgt – wie schon andere flüchtende Gruppen aus dem Westen Syriens, die sich in den vergangenen Tagen bis hier durchschlagen konnten. Die Lage stellt den Halbmond und die Selbstverwaltung Rojavas vor enorme Herausforderungen. Zurzeit bereiten die medico-Partner:innen den Bau eines neuen Camps für die Vertriebenen vor.
Derweil sind alle Projekte in Sheik Maqsood, Shebha und Til Rifaat bis auf weiteres ausgesetzt. medico unterstützte hier den Wiederaufbau nach dem verheerenden Erdbeben 2023. „Ob wir diese Projekte jemals wieder aufnehmen können ist völlig ungewiss“, heißt es vom Kurdischen Roten Halbmond.
Luftangriffe auf Idlib
In der nordwestsyrischen Region Idlib, die in weiten Teilen von der HTS kontrolliert wird, sind 3,5 Millionen Menschen bereits seit vielen Jahren auf humanitäre Hilfe angewiesen – es herrscht eine anhaltende humanitäre Krise. Die russisch-syrischen Luftangriffe in Reaktion auf den Vormarsch der HTS-Milizen verschärfen diese Situation dramatisch. Eines der Lager am östlichen Rand der Stadt Idlib, in dem die medico-Partnerinnen des Women’s Empowerment Center tätig sind, wurde bereits getroffen. Ebenso fielen Bomben auf das Frauenzentrum. „Sie bombardieren hysterisch“, schreibt uns die Leiterin Huda Khathy in einer Nachricht. Huda und ihr Team wechseln nun ständig den Aufenthaltsort, um weiteren Angriffen zu entgehen. Zudem planen sie die Vertriebenen zu unterstützen, mit Nahrung und Notunterkünften - so gut dies unter der eignen Bedrohung durch die Bomben eben geht.
Idlib ist dicht besiedelt, Hunderttausende Menschen aus anderen Teilen Syriens leben seit Jahren in Flüchtlingslagern um die Stadt herum. Sie flohen vor der brutalen Verfolgung und den Angriffen des Assad-Regimes und strandeten in Idlib vor der geschlossenen Grenze zur Türkei. Nun führen die massiven syrisch-russischen Angriffe zu neuen Fluchtbewegungen.
Alle medico-Partner:innen in der Region tun ihr Möglichstes, um den neuerlich vertriebenen Menschen beizustehen – in Idlib und in Rojava. Sie benötigen dringend unsere Unterstützung.