Türkei und Syrien

Katastrophe und Solidarität

06.06.2024   Lesezeit: 6 min

Schwere Erdbeben haben Millionen Menschen im syrisch-türkischen Grenzgebiet alles genommen. Bis heute verhindern die Regime vor Ort, dass Hilfe wirklich allen zukommt. Als umso wichtiger haben sich selbstorganisierte Hilfe und zivilgesellschaftliche Anteilnahme erwiesen.

Von Anita Starosta

In der Nacht auf den 6. Februar 2023 bebte in den syrisch-türkischen Grenzgebieten die Erde. Am frühen Morgen zeigte sich, welche verheerende Wirkung die Erschütterungen verursacht hatten. Offiziell starben 60.000 Menschen unter den Trümmern. Millionen wurden über Nacht obdachlos und unzählige Existenzen zerstört. Es traf Regionen, die ohnehin schwer gebeutelt sind: Die kurdisch geprägten Gebiete in der Südosttürkei leiden seit Jahrzehnten unter politischer Unterdrückung und wirtschaftlicher Vernachlässigung. Der Nordwesten Syriens ist von Bürgerkrieg, Flucht und Vertreibung gezeichnet. Nach Idlib und Afrin, wo UN-Schätzungen zufolge 8,8 Millionen Menschen vom Beben betroffen waren, kam über Tage keinerlei internationale Hilfe. Mit bloßen Händen suchten die Menschen nach Überlebenden.

Gewaltige Zerstörung, beispiellose Resonanz

In der Geschichte von medico hat sich immer wieder gezeigt, dass Katastrophen in der Welt, mögen sie auch noch so viel Leid verursachen, hierzulande mal mehr, mal weniger Aufmerksamkeit finden. Die Resonanz auf dieses Erdbeben indes war beispiellos: Eine enorme Anteilnahme wogte durch das Land. In dem Wunsch, Solidarität zu zeigen, wandten sich viele an medico, darunter Tausende zum ersten Mal. Quer durch Deutschland wurden spontane Spendeninitiativen und Benefizkonzerte organisiert und die Erlöse an medico weitergeleitet. Prominente nutzten ihre Reichweite und verbreiteten unsere Stellungnahmen. Fußballclubs wie Borussia Dortmund, der FC St. Pauli und Werder Bremen sammelten für die medico-Nothilfe. Versandshops bestellten in großer Zahl unsere Spendenaufrufe, um sie ihren Sendungen beizulegen. Das Spektrum der Unterstützung war vielfältig wie nie: Feministische und LGBTIQ-Gruppen engagierten sich ebenso wie große Kultur- und Theaterhäuser, der Späti an der Ecke, Jugendverbände, Klimaaktivist:innen, Bildungs- und Coachinginstitute, Parteiverbände, Community-Initiativen, Cafés und Bäckereien. In all dem zeigte sich auch die Stärke einer postmigrantischen Gesellschaft mit engen Verbindungen in die betroffene Region.

Die vielseitige Zuwendung zu medico war kein Zufall. Seit Jahrzehnten setzen wir uns mit den Entwicklungen in der betroffenen Region auseinander und unterstützen Partnerorganisationen vor Ort in den Bereichen Gesundheit und psychosoziale Hilfe, Flucht und Migration, Nothilfe sowie Frauen- und Menschenrechte. Diese Verbindungen griffen dann auch in der Katastrophe. Unsere Partnerorganisationen begannen unmittelbar nach dem Beben, Nothilfe zu leisten. Sie bargen Menschen aus den Trümmern und versorgten sie medizinisch. In früheren Krisen erprobte Nothelfer:innen fuhren von Diyarbakir aus in zerstörte Dörfer und Provinzen und erkundeten, was wo am dringendsten benötigt wird. So gelang es, Zelte, Kleidung, Nahrungsmittel und Heizmaterial auch in abgelegene Gegenden zu bringen. Dank der Berichte unserer Partner:innen konnten wir hierzulande über die Situation informieren und ihre selbstorganisierte Katastrophenhilfe mit den eingehenden Spendengeldern unterstützen.

Die politische Dimension der Hilfe

Das große Vertrauen in die Arbeit von medico stellte sich auch darüber her, dass wir von Anfang an die politische Dimension des Erdbebens kommuniziert und Stellung bezogen haben. So wurden Menschen buchstäblich unter der Verantwortungslosigkeit staatlicher Behörden und Bauunternehmen begraben. Rasch zeigte sich auch, dass die Regime in Ankara und Damaskus ihre diskriminierende Politik beibehielten. In der Türkei benachteiligte die AKP-Regierung politisch unliebsame Gebiete auch in der Katastrophe. So kam staatliche Hilfe insbesondere in kurdisch-alewitischen Bergdörfern zu spät und zu wenig an. Mehr noch: Die Hilfe, wie sie unsere Partner:innen leisteten, wurde von staatlichen Behörden immer wieder be- oder sogar verhindert. In Syrien dauerte es aufgrund der türkischen Grenzblockade und der Instrumentalisierung der Hilfe durch Diktator Assad Tage, bis internationale Hilfslieferungen den betroffenen Norden erreichten. Auch hier konnte medico schnell lokale Partner:innen darin unterstützen, Notunterkünfte zu errichten, Lebensmittel zu verteilen und bei dem zu helfen, was an notdürftigem Wiederaufbau möglich ist. Beiderseits der Grenze gelang es also, unter widrigsten Umständen das Recht zu verteidigen, dass Hilfe alle erreichen muss.

Für medico ist es eine ermutigende Erfahrung, dass dieses rechtebasierte Verständnis von Hilfe auf solch großen Zuspruch in der hiesigen Zivilgesellschaft stieß. Dieser hat es ermöglicht, die Unterstützung der lokalen Partner:innen auch dann fortzusetzen, als sich das mediale Interesse längst anderen Krisen zugewandt hatte. Denn mit der Aufmerksamkeit ist die Not vor Ort keineswegs verschwunden. Auch ein Jahr später ist die Versorgung der Überlebenden unzureichend. Ohne Perspektive darben Millionen Menschen in provisorischen Container- und Zeltlagern. Die Aufräumarbeiten gehen nur schleppend voran, der Wiederaufbau wird im besten Fall noch Jahre dauern.

Auch an den politischen Verhältnissen hat die Katastrophe nichts geändert, im Gegenteil: In Damaskus hat Diktator Assad den Hebel, den Zugang internationaler Hilfe zu kontrollieren, genutzt und sich politisch rehabilitiert. Nach Jahren des Bürgerkrieges sitzt er wieder fest im Sattel. In der Türkei wurden Mitte Mai noch im Schatten des Erdbebens die Präsidentschafts- und Nationalversammlungswahlen durchgezogen. Die AKP hat sich angesichts der Notlage vieler mit der selektiven Gewährung von Hilfe – bzw. dem Versprechen darauf – Zustimmung erkauft. Trotz des offenkundigen staat-

lichen Versagens bei der Katastrophenvorsorge gewannen die AKP und Erdogan die Wahlen. Damit werden die politischen Mängel und Versäumnisse, die das Erdbeben erst zur unermesslichen Katastrophe gemacht haben, nicht aufgearbeitet werden. Die Repressalien des Regimes gegen Helfer:innen, die sich seiner Kontrolle entziehen, gehen hingegen weiter.

Was bleibt, ist allem zum Trotz weiterzumachen. Das tun die medico-Partner:innen in den Erdbebengebieten, wie die nachstehende Beschreibung laufender Kooperationen zeigt. Auch wir machen weiter, indem wir ihre Arbeit langfristig unterstützen und unsere kritische Öffentlichkeitsarbeit fortsetzen – dies gestärkt dadurch, dass Tausende Menschen in Deutschland eben diesem politischen Handeln ihr Vertrauen geschenkt haben.

Nothilfe und Wiederaufbau

Türkei. In der Region Malatya, wo noch immer Hunderttausende Menschen unter den Folgen des Erdbebens leiden, unterstützt medico den gemeinschaftlichen Wiederaufbau von Häusern und sichert damit Bleibeperspektiven. Damit Familien ein Auskommen haben, hilft medico bei der Gründung landwirtschaftlicher Kooperativen. Damit auch alte und kranke Menschen dort bleiben können, wo sie ihr Leben lang zu Hause waren, organisieren die Gewerkschaft der Gesundheitsarbeiter:innen, die Ärztekammer und der Apotheker:innenverband in den Provinzen Hatay, Kahramanmaras und Adiyaman mobile Kliniken. Diese übernehmen zudem die gesundheitliche Versorgung von Menschen, die noch in Zelt- und Containerlagern leben müssen. Die Gesundheitsarbeiter:innen sind Teil des „Nothilfe- und Solidaritätsnetzwerks“, das sich unmittelbar nach dem Erdbeben in Diyarbakir gegründet hat. Es setzt sich auch für einen besseren Katastrophenschutz und eine engere Abstimmung von Hilfsmaßnahmen ein.

Nordwestsyrien. Die Nothilfe der Vereinten Nationen, die die Region spät und nie in erforderlichem Ausmaß erreicht hat, ist im Laufe des Jahres 2023 immer weiter reduziert worden. Für Millionen von Binnenflüchtlingen gibt es kaum eine Perspektive in den von islamistischen Rebellengruppen kontrollierten Gebieten. Unter diesen Bedingungen sind medico-Partner:innen wie das Frauenzentrum in Idlib umso bedeutsamer. Sie stellen Notunterkünfte bereit, verteilen lebensnotwendige Güter für mehrere Tausend Familien und organisieren psychosoziale Unterstützung.

Nordostsyrien/Rojava. Vielen Widerständen zum Trotz leistet der Kurdische Rote Halbmond, mit dem medico schon über viele Jahre kooperiert, seit Monaten Überlebenshilfe, auch und gerade dort, wo internationale Hilfe kaum hinkommt. Das Spektrum reicht von psychosozialer Unterstützung und medizinischer Versorgung in den zahlreichen Flüchtlingscamps bis zu Perspektiven für den Wiederaufbau. Daneben kümmern sich die Nothelfer:innen um die Verbesserung des zivilen Katastrophenschutzes. Dies ist auch deshalb so wichtig, weil die Region weiterhin unter Beschuss durch türkische Raketen steht. Die Angriffe bedrohen Leben, sorgen für eine permanente Bedrohung, zerstören Infrastrukturen und erschweren damit auch die Hilfe für Menschen, die ohnehin fast alles verloren haben.

Anita Starosta

Anita Starosta leitet die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Außerdem ist die Historikerin für die Kommunikation zur Türkei, zu Nordsyrien und dem Irak zuständig. 

Twitter: @StarostaAnita


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