Überleben zwischen den Fronten

In Kolumbien arbeitet Tierra de Paz inmitten des Konfliktes

20.12.2011   Lesezeit: 8 min

Seit über 60 Jahren dauert der bewaffnete Konflikt in Kolumbien nun an, unter dem besonders die Zivilbevölkerung in den ländlichen Gebieten leidet. Die traurige Folge sind Rekordzahlen der intern Vertriebenen, Kolumbien ist zusammen mit Sudan hier auf den vordersten Plätzen. Aber Kolumbien kann noch mit einem weiteren traurigen Rekord aufwarten: das Land weist mittlerweile weltweit eine der höchsten Minen- und Blindgängerunfallrate auf. Hoffnungen auf eine friedliche Regelung des Konfliktes wurden in der Vergangenheit immer wieder enttäuscht und die Regierung setzt auf eine militärische Lösung des Konfliktes. Die zentralen Gewaltakteure sind in dem Konflikt die Guerillaorganisationen der FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens/Volksarmee) und ELN (Nationale Befreiungsarmee), aber auch die offiziell demobilisierten rechtsgerichteten Paramilitärs sowie die staatlichen Regierungstruppen und die Nationalpolizei. Besonders die Zivilbevölkerung im Departement Cauca wurde dabei zu den Leidtragenden der andauernden Kämpfe, denn in die entlegenen Bergregionen des Departements hat sich die FARC zurückgezogen, so dass Cauca sich zum vorrangigen Zielgebiet der kolumbianischen Regierungstruppen entwickelt hat. Aber auch Paramilitärs und Drogenbarone sind hier als bewaffnete Akteure besonders aktiv.

Die Kampfhandlungen finden dabei im direkten Lebensumfeld der Menschen statt und so ist es kaum verwunderlich, dass ein Drittel der Minenopfer der letzten 10 Jahre Zivilisten waren. In Cauca und inmitten des Konfliktes arbeitet die medico Partnerorganisation Tierra De Paz (TDP), , die mit individuellen und kollektiven Maßnahmen auf den Schutz der Zivilisten hinarbeitet.

Leben im Krieg

2005 wurde Tierra de Paz, was übersetzt Land des Friedens heißt, gegründet, denn obwohl die Menschen schon jahrelang mit den Gefahren von Minen und Blindgängern leben, wissen sie doch kaum etwas darüber, wie sie sich vor einem Unfall schützen können oder welche Unterstützungen ihnen zustehen. Dies wollen die 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von TDP verändern und aktiv die Dorfgemeinschaften stärken. Denn die Folgen des gewaltsamen Konfliktes sind allgegenwärtig und betreffen alle Menschen, Kinder ebenso wie Alte.

Zum Schutz der Menschen klärt TDP die Bevölkerung über die Minengefahr auf. Sie weisen auf die fatale Wirkungsweise von Minen und Sprengfallen hin, verteilen Infobroschüren und laden zu Workshops ein, um die Bevölkerung für die Gefahren der explosiven Kriegshinterlassenschaft zu sensibilisieren. Männer, Frauen, Kinder, die indigene und afrokolumbianische Bevölkerung - für sie alle werden eigene Konzepte ausgearbeitet, die sich an die Lebensrealität der jeweiligen Bevölkerungsgruppen anpassen. Die ganze Gemeinde wird beteiligt, wenn es darum geht, Schutzkonzepte zu erarbeiten, die helfen sollen, die jeweilige Gefahrenlage zu erkennen. So haben auf einem Workshop 2011 die Bewohnerinnen und Bewohner einer indigenen Gemeinde im Norden Caucas eine Gefahrenkarte erarbeitet, auf der die tödlichen Hinterlassenschaften markiert wurden. „Es war erstaunlich“, sagte ein Teilnehmer des Wokshops „wie viel wir eigentlich über die Gefahren wussten, aber wir müssen unser Wissen teilen und in der Gemeinde darüber sprechen.“ Mit der Gefahrenkarte wurden nun zumindest tödliche Gebiete sichtbar gemacht, dennoch heißt das nicht, dass die Gemeinde nun in Sicherheit leben kann, denn Minen und Blindgänger können überall lauern. Schutzzonen gibt es in dem Konfliktgebiet nicht und so wurden auch Schulen zum unmittelbaren Austragungsort des Konfliktes. Aus allen Schulen mit denen TDP kooperiert, etwa 40 sind es, wird berichtet, dass bewaffnete Akteure (d.h. hauptsächlich FARC und Armee) in unmittelbarer Umgebung agieren; 80% der Schüler/innen und Lehrer/innen sind schon bei Gefechten ins Kreuzfeuer geraten, fast alle hatten Blindgänger auf ihrem Schulgrundstück. Über die Hälfte der Schulen sind bereits von bewaffneten Kräften zeitweise besetzt worden, da die Soldaten sich dort ausruhen und Küchen- und Sanitäranlagen benutzen.

In Tacueyó, einem Ort, der in einem Tal zwischen zwei Anhöhen liegt, erläutert Amilvia, die Leiterin einer Grundschule, mit der TDP kooperiert, die Lage. Auf den Hausdächern wehen weiße Fahnen. „Zum Schutz“, erläutert die Lehrerin, „auch wenn es in diesem Ort keinen wirklichen Schutz gibt“. Denn auf der einen Anhöhe befindet sich ein Lager der kolumbianischen Armee, auf der gegenüberliegenden Anhöhe hat die FARC ihre Stützpunkte. Die Kämpfe finden zumeist im dazwischen liegenden Tal statt, dass heißt inmitten der Siedlung. Auch diese Grundschule bleibt von den Kampfhandlungen nicht verschont.

Amilvia zeigt auf ein großes Loch an der Fassade des Schulgebäudes – ein Granateneinschlag, der die Schule traf. Es wird sogar auf dem Schulgrundstück gekämpft, und das während der Unterrichtszeit. Nach den Kämpfen bleiben blutverschmierte Erde und gefährliche Blindgänger zurück. TDP hat eine eigene Methodik für den integralen Schutz von Schulen entwickelt, der u.a. die Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern umfasst, die ihr Wissen über die von Minen ausgehende Gefahr an die Schülerinnen und Schüler weitergeben.

Mit den Lehrern und Lehrerinnen, den Eltern und anderen Gemeindevertretern wird in Zusammenarbeit ein Prozess zum Schutz der Schule angestoßen. Gemeinsam suchen sie nach Maßnahmen, um die Schüler zu schützen. Als ein Ergebnis wurden Schutzräume mit verstärkten Decken eingerichtet, die nicht von Geschossen durchschlagen werden können. Außerdem sind zwischen allen Klassenräumen Durchbrüche gemacht worden, um bei Gefahr die Schüler rasch in die Schutzräume evakuieren zu können. Die Maßnahmen sind nicht immer so drastisch. Manchmal reicht es, die Schule zu umzäunen und zu einer demilitarisierten Zone zu erklären. Da TDP darauf geachtet hat, dass das gesamte Dorf involviert war, wird diese gemeinschaftliche Aktion sowohl von der Guerilla als auch von der Armee respektiert. Seit der Zaun errichtet worden ist, hat kein Bewaffneter mehr das Schulgrundstück betreten – ein kleiner Erfolg im Leben zwischen den Fronten.

Entschädigung für Zivilisten

Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit von TDP ist die juristische Begleitung von den unmittelbar Betroffenen des Konfliktes, jene, die durch die Kampfhandlungen verwundet oder deren Familienmitgliedern zum „Kollateralschaden“ wurden. Ihnen wurden zwar mit Gesetzen Rechte eingeräumt bspw. Entschädigungszahlungen, diese sind in der Praxis jedoch nur schwer durchsetzbar. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von TDP leisten daher Rechtsbeistand, wie im Fall der Familie der 40-jährigen Maria, die auf dem Weg nach Hause von bewaffneten Akteuren erschossen wurde. Maria war am 14. Mai 2011 mit dem Bus unterwegs, als dieser plötzlich von einer bewaffneten Gruppe angehalten wurde, die Maria zwang aus dem Bus auszusteigen. Diese eröffnete das Feuer und erschossen Maria mitten auf der Strasse. Zwar standen der Familie Entschädigungsleistungen zu, die Verfahren zur Anerkennung als Opfer des Konfliktes sind jedoch kompliziert und kaum jemand in den ländlichen Gebieten von Cauca kennt seine oder ihre Rechte oder es fehlt an den finanziellen Möglichkeiten zur Durchsetzung der Rechte. Tierra De Paz leistete der Familie Rechtshilfe, so dass diese innerhalb von wenigen Monaten zumindest ihr Recht auf finanzielle Entschädigung durchsetzen konnte. Oder im Fall der Familie Rodriguez, dort verletzte der Einschlag einer Granate am 23. Mai 2011 ins Wohnhaus der Familie die drei jüngsten Kinder im Alter von 11 Jahren, 10 Jahren und 6 Monaten schwer. Auch hier leistete TDP Rechtsbeistand und stelle damit die Behandlung der Kinder im Krankenhaus der Hauptstadt des Department Popayan sichern. Neben individuellen Unterstützungsleistungen bemüht sich TDP um kollektive Maßnahmen und die Förderung aktiver Gemeindestrukturen; dazu zählt auch die Erstellung der Gefahrenkarte. Mit der Initiierung von Freizeitveranstaltungen wie dem Fußballturnier „Für ein Leben in Würde“ ,stärkt TDP die Beteiligung aller Betroffenen und unterstützt die Menschen dabei, aus ihrer Opferrolle heraus zu treten.

Wege aus der Rechtlosigkeit. Ein Beispiel.

Daniel ist 13 Jahre alt und geht in die 6. Klasse der Sekundarschule von Tacueyó. Bis vor kurzem lebte er zusammen mit seiner Mutter und seinen drei jüngeren Schwestern in Buena Vista, einer Siedlung am Hang einer Anhöhe, auf deren Gipfel sich ein Militärcamp befindet. Im Mai 2010 wurde er von seiner Mutter in den Laden geschickt, um Kaffee zu kaufen. Als er den Laden betrat, hörte er eine gewaltige Explosion. Das nächste, woran es sich erinnert, ist das Krankenhauszimmer, in dem er aufwachte. In das Geschäft war eine Granate eingeschlagen, die Daniel schwer verletzte. Er wurde zunächst ins Bezirkskrankenhaus eingeliefert, musste dann aber in ein Krankenhaus in der Hauptstadt des Bundesstaates Cauca verlegt werden. Fünfmal wurde er operiert. Sein Leben hing an einem seidenen Faden. Aber er hat es geschafft und zeigt seine Operationsnarbe, die vom Brustbein bis unter den Hosenbund reicht. Seine Mutter Liliana arbeitet als Köchin in der Grundschule von Tacueyó. Als Daniel ins Krankenhaus musste, hat sie ihn begleitet. Fast drei Monate lang konnte sie deshalb nicht arbeiten, hatte in dieser Zeit kein Einkommen. TDP hat die Familie finanziell unterstützt und ihr Beistand geleistet. Nachdem Daniel aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hat er in seinem alten zu Hause keine Ruhe mehr gefunden. Die Erlebnisse ließen den Jungen und seine Familie nicht los. Liliana ist deshalb mit ihren vier Kindern aus Buena Vista weggezogen. Jetzt wohnt sie mitten in Tacueyó, kann zwar wieder Geld verdienen, muss aber eine teure Miete zahlen. Der Antrag auf staatliche Opferhilfe für Daniel ist abgelehnt worden, da er von einer Granate verletzt wurde und somit kein Minenopfer ist. Fidel Martínez von Tierra de Paz ist Anwalt, er kennt die juristischen und bürokratischen Fallstricke, mit denen die Opfer zu kämpfen haben und berät die Familie. Die meisten geben auf, weil sie das System nicht verstehen; zudem sind viele von ihnen Analphabeten. TDP versucht, solchen Menschen juristisch beizustehen, sie zu beraten. Im Fall von Daniel und seiner Mutter gibt es noch Hoffnung. Zwar können sie sich nicht als Minenopfer anerkennen lassen, aber unter Umständen als desplazados, als Binnenvertriebene, denen andere Rechte und so eine Entschädigung zustehen.

Projektstichwort

Tierra de Paz geht es nicht allein um Aufklärung, juristische Beihilfe und einen Solidarfonds für Minenopfer, sondern auch um die Stärkung des Gemeindelebens. Wir bitten um Spenden unter dem Stichwort "Minenopfer".


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