Weltkindergipfel & Bewegungen arbeitender Kinder

von Manfred Liebel

01.06.2002   Lesezeit: 9 min

Der »Weltkindergipfel« der Vereinten Nationen (Mai 2002) sollte dazu beitragen, die Welt für Kinder gerechter zu machen. Neben 74 Staats- und Regierungschefs und zahlreichen NGO‘s durften erstmals auch 300 Kinder teilnehmen. Ihre Rolle blieb marginal. Die Beschlüsse konnten sie kaum beeinflussen. Obwohl es auch um Fragen der Kinderausbeutung ging, waren die davon in erster Linie betroffenen arbeitenden Kinder auf dem »Kindergipfel« kaum vertreten. Es blieb unbeachtet, daß in der »Dritten Welt« geschätzte 250 Millionen Kinder eigene soziale Bewegungen hervorgebracht haben. Um sie geht es im folgenden Beitrag.

Arbeitende Kinder organisieren sich selbst

In den Organisationen der arbeitenden Kinder finden sich vornehmlich Jungen und Mädchen im Alter von 12 bis 16 Jahren. Die meisten arbeiten im Informellen Sektor der großen Städte, auf Straßen und öffentlichen Plätzen, aber auch als Hausangestellte wohlhabender Familien oder auf Exportplantagen. Viele sind mit ihren Eltern, Geschwistern oder allein vom Land in die Stadt emigriert oder als Kinder von Emigranten in der Stadt geboren. Die Kinderorganisationen entstehen seit den 80er Jahren, meist mit Unterstützung humanitärer Organisationen Erwachsener. Aber ihre raison d‘être besteht darin, daß sie von den Kindern selbst geleitet werden, eigene Strukturen und Normen besitzen und eigene Vorstellungen, Forderungen und Handlungsformen entwickeln, die sich aus der Lebens- und Arbeitssituation ihrer Akteure ergeben. Nicht immer handelt es sich um Organisationen im nationalen Maßstab, in Afrika und Indien sind es vor allem Zusammenschlüsse in einzelnen Städten. Mitunter schließen sich auch Kinder bestimmter »Berufsgruppen« (Schuhputzer, Lastenträger) zu Assoziationen zusammen, deren Aktionsradius auf die eigenen Arbeitsplätze konzentriert ist. In Westafrika kommt es auch häufig vor, daß sich Kinder aus demselben Dorf oder Land, aus dem sie emigriert sind, in Gruppen zusammenfinden. Bei aller Verschiedenheit der Organisationsformen, der Herkunft und des kulturellen Kontextes der sich organisierenden Kinder lassen sich einige Gemeinsamkeiten erkennen.

»Wir haben eigene Rechte«

Die Kinderorganisationen berufen sich auf die weltweite Verbindlichkeit der Menschenrechte. Teilweise werden diese Rechte sprachlich umformuliert und auf die eigene Situation hin konkretisiert, teilweise durch neue Rechte ergänzt. Als Beispiel können die »12 Rechte« gelten, die 1994 von westafrikanischen Kinderorganisationen gemeinsam erarbeitet worden sind und deren Erfüllung seitdem jährlich auf Treffen überprüft wird:

  • Das Recht, einen Beruf zu erlernen;
  • Das Recht im Dorf zu bleiben;
  • Das Recht, unsere Arbeiten in vollkommener Sicherheit auszuführen;
  • Das Recht auf rechtliche Gleichbehandlung im Falle von Problemen;
  • Das Recht, sich zu vergnügen und zu spielen;
  • Das Recht, angehört zu werden;
  • Das Recht auf leichte und begrenzte Arbeit;
  • Das Recht auf Respekt;
  • Das Recht auf Krankheitsurlaub;
  • Das Recht zur Gesundheitspflege;
  • Das Recht, schreiben und lesen zu lernen;
  • Das Recht, sich zu organisieren und seine Meinung zu äußern.

In Lateinamerika legen die Kinderorganisationen besonderes Gewicht auf die Rechte, die ihre Partizipation in der Gesellschaft betreffen. Auf ihrem V. Treffen, das unter Beteiligung von Delegierten aus 14 Ländern 1997 in Lima stattfand, wird kritisiert, daß die in der UN-Kinderrechtskonvention vorgesehenen Partizipationsrechte »nicht ausreichend sind, denn sie werden in der Praxis nicht respektiert«. Sowohl in Lateinamerika als auch in Afrika wird immer wieder ein Recht eingefordert, das in der UN-Konvention gar nicht vorgesehen ist: das Recht des Kindes zu arbeiten. Aus den Beispielen, die leicht durch weitere hätten ergänzt werden können, geht hervor, daß es für die sich organisierenden Kinder eine Selbstverständlichkeit geworden ist, sich als »Rechtssubjekte« zu verstehen. Des weiteren, daß die Kinderorganisationen die »zu ihren Gunsten« von Erwachsenen beschlossenen Rechte auf eigene Weise interpretieren. Weiterhin, daß sie die Erfüllung der ihnen zugesagten Rechte nicht dem Wohlwollen von Erwachsenen überlassen.

»Wir können unser Leben selbst gestalten«

Als Beispiel kann die Erklärung des V. Treffens der arbeitenden Kinder Lateinamerikas & der Karibik (1997) gelten, in der es heißt: »Unsere Organisationen kämpfen täglich für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, für unsere Rechte auf angemessene und qualitativ gute Ausbildung, für bessere Gesundheitsbedingungen, für Möglichkeiten, uns versammeln zu können, um gemeinsame Aktionen durchzuführen, das heißt dafür, in unserem Leben selbst die Protagonisten zu sein und in unseren Gesellschaften als soziale Subjekte anerkannt zu werden.« Die Rede vom »sozialen Subjekt« geht über die Rede vom »Rechtssubjekt« insofern hinaus, als sie auch die Fähigkeit der Individuen und der von ihnen geschaffenen und getragenen Organisationen betont, eine eigenständige Rolle im Leben und der Gesellschaft zu spielen. Dieses Selbstverständnis ist keine Besonderheit der Kinderorganisationen Lateinamerikas, sondern findet sich auch in den Kinderorganisationen Afrikas. In den Stellungnahmen der Organisationen arbeitender Kinder wird immer wieder betont, daß sie für ihre Leistungen soziale Anerkennung verdienen. So heißt es in der Erklärung des 1. Welttreffens der arbeitenden Kinder in Kundapur, Indien (1996): »Wir wollen Respekt und Sicherheit für uns und die Arbeit, die wir leisten.« Die angesprochene »Leistung« bezieht sich sowohl auf die arbeitenden Kinder als Personen, die eine Arbeit vollbringen, die für ihre Familien und die Gesellschaft von Nutzen ist, als auch auf die Organisationen der Kinder, die die für die Gesellschaft wichtige Aufgabe wahrnehmen, zur Verbesserung der sozialen Verhältnisse und zu mehr Gerechtigkeit beizutragen. Nicht alle Kinderorganisationen beanspruchen unter Verweis auf den wirtschaftlichen Beitrag der Kinder für die Gesellschaft das »Recht zu arbeiten«, aber alle stimmen darin überein, daß ihre faktische Arbeit nicht länger abgewertet und diskriminiert werden dürfe, sondern sozial anerkannt werden müsse. In der gängigen Praxis, die Arbeit von Kindern nur unter dem Aspekt ihrer schädlichen Wirkungen zu betrachten, sie zu verbieten und ihre generelle Abschaffung anzustreben (»Abolitionismus«), sehen sie ihre eigenes Subjekt-Sein und ihre Menschenwürde verletzt. Im gleichen Atemzug setzen sie sich für Regelungen ein, die die Bedingungen ihrer Arbeit verbessern und ihnen erleichtern, in Würde zu arbeiten. Die Erklärung von Kundapur endet mit dem Satz: »Wir sind gegen die Ausbeutung unserer Arbeit, wir wollen in Würde arbeiten und Zeit zum Lernen, Spielen und Ausruhen haben.« Die Erklärung des V. Treffens der arbeitenden Kinder Lateinamerikas mündet in den Appell: »Ja zur Arbeit in Würde – nein zur Ausbeutung! Ja zur Arbeit unter Schutz – nein zu schlechter Behandlung und Mißbrauch! Ja zur Anerkennung der Arbeit – nein zu Ausschluss und Ausgrenzung! Ja zu Arbeit unter menschlichen Bedingungen – nein zu unwürdigen Bedingungen! Ja zum Recht, in Freiheit zu arbeiten – nein zur Zwangsarbeit!« Und in der Erklärung des »II. Mini-Weltgipfels der arbeitenden Kinder« von Dakar (1998) heißt es: »Wir wollen, daß alle Kinder dieser Erde eines Tages das Recht haben zu entscheiden, ob sie arbeiten wollen oder nicht.« – Die Organisationen der arbeitenden Kinder beanspruchen in allen Kontinenten ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen. Sie wehren sich dagegen, unter Hinweis auf ihr geringeres Alter geringgeschätzt, untergeordnet und an eigenen Entscheidungen gehindert zu werden. Der Anspruch auf die eigene Selbstständigkeit wird damit begründet, daß Kinder Personen »eigenen Rechts« sind und das Recht auf Menschenwürde haben, daß sie über spezifische Bedürfnisse und Fähigkeiten verfügen und ihre eigene Situation am besten kennen, schließlich, daß dies demokratischen Verhältnissen entspricht. Eine besondere Begründung bezieht sich darauf, daß sie als arbeitende Kinder bereits wirtschaftliche Verantwortung übernommen haben und zur Entwicklung ihrer Gesellschaften beitragen.

Die beanspruchte Selbstständigkeit betrifft sowohl das einzelne Kind, als auch die Organisationen der Kinder. In der Abschlußerklärung des »I. Mini-Weltgipfels der arbeitenden Kinder« von Huampaní-Lima (1997) heißt es: »Bis jetzt hat man uns zwar zugehört, aber man hat unsere Meinung nicht berücksichtigt. Man hat uns das Recht gegeben, uns zu organisieren, aber unsere Organisationen wurden bisher rechtlich nicht anerkannt.« Die Organisationen der arbeitenden Kinder beschränken sich nicht darauf, eigenständige Handlungsräume (»Autonomie«) zu beanspruchen, sondern bestehen auch darauf, in der Gesellschaft mitbestimmen und Einfluß ausüben zu können. Erklärung von Kundapur: »Wir wollen bei allen Entscheidungen gefragt werden, die uns betreffen, egal ob diese Entscheidungen in unseren Städten und Dörfern, unseren Ländern oder international getroffen werden.« Der Anspruch auf Partizipation zeigt, daß die sich organisierenden arbeitenden Kinder sich nicht am Rande der Gesellschaft verorten. Sie reflektieren damit die Erfahrung einer doppelten Marginalisierung. Zum einen als Arbeitende, deren Arbeitskraft von der Gesellschaft zwar in Anspruch genommen wird, aber als Leistung nicht anerkannt, sondern abgewertet und negiert wird. Zum andern als Kinder, denen allein deshalb, weil sie ein (von Erwachsenen) bestimmtes Alter noch nicht erreicht haben, das Urteilsvermögen abgesprochen und die (politische) Partizipation bei der Gestaltung der Gesellschaft verweigert wird. Die doppelte Marginalisierung gewinnt besondere Brisanz angesichts einer wirtschaftlichen und politischen Praxis, die mit dem Leben der Menschen auch das Leben der Kinder aufs Spiel setzt. So heißt es am Ende der Erklärung des V. Treffens der arbeitenden Kinder Lateinamerikas: »Wir NATs (= arbeitende Jungen und Mädchen) aus Lateinamerika und der Karibik wie auch unsere Freunde aus Afrika und Asien verstehen uns als Produzenten des Lebens, angesichts der Kultur des Todes, die uns jegliche Rechte und unsere volle Eingliederung in die Gesellschaft verwehrt. Dies nicht anzuerkennen bedeutet, uns noch weiter als jetzt schon auszugrenzen. Uns gleichzeitig von Bürgerrechten zu sprechen, ist ein Hohn.« Die arbeitenden Kinder verstehen ihre Organisationen im doppelten Sinn als ein Mittel, um in der Gesellschaft mehr Einfluß zu erlangen und ein besseres Leben herbeizuführen. In der Erklärung der Kinder Lateinamerikas wird dies so ausgedrückt: »Unsere Organisationen haben sich als die beste Art erwiesen, uns vor Ausbeutung, schlechter Behandlung und der Geringschätzung durch die Gesellschaft zu schützen. Innerhalb unserer Organisationen fühlen wir uns als würdige, fähige und vollwertige Personen und empfinden Stolz für unsere Arbeit. Hier bilden wir uns und finden Raum für Solidarität und für die Erarbeitung von Vorschlägen für Alternativen zum bestehenden System von Armut und Gewalt, das für uns unzumutbar ist.« Vielleicht mehr als im Falle von Erwachsenen-Organisationen bilden die Kinderorganisationen ein soziales Feld, in dem die Kinder neue Erfahrungen gleichberechtigter und respektvoller Beziehungen machen und sich ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten bewußt werden können. Die Kinderorganisationen sind ein sozialer Raum, in dem die Kinder sich als soziale Subjekte erleben und vervollkommnen können und werden so auch zu einem kulturellen Projekt, das der Gesellschaft (der Erwachsenen) einen Spiegel vorhält und neue Visionen und praktische Ansätze eines besseren Lebens hervorbringt.

Lesehinweise:

Manfred Liebel, Bernd Overwien und Albert Recknagel (Hrsg.): Was Kinder könn(t)en. Handlungsperspektiven von und mit arbeitenden Kindern. IKO-Verlag, Frankfurt a.M. 1999.*

Manfred Liebel: Kindheit und Arbeit. Wege zum besseren Verständnis arbeitender Kinder in verschiedenen Kulturen und Kontinenten. IKO-Verlag, Frankfurt a.M. und London 2001.


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