Im Juni 2000 wurden die menschliche DNA und ihre einzelnen Chromosomen nach zehnjähriger Forschung erstmals vollständig identifiziert. Der Mensch verfügt mit dem entschlüsselten Humangenom jetzt über das Erbgut seiner Spezies und damit über ein Referenzwerk, ein "Buch des Lebens", bestehend aus einer Abfolge von mehr als drei Milliarden genetischen Buchstaben, mit dessen Hilfe er sich nicht nur mit anderen Organismen vergleichen, sondern auch nach den Ursachen der Differenzen innerhalb seiner Spezies suchen kann, Gesundheit, Aussehen und Verhalten betreffend. Der vollständige DNA-Faden gilt als ein Erbgut-Text, ein digitales Programm, das im Prinzip die Anweisungen zum Bau eines vollständigen menschlichen Wesens enthält.
Bereits seit Längerem nutzen Humangenetiker die Familienstammbäume, um neue Erkenntnisse über den Ursprung bestimmter Krankheiten zu erlangen, nun aber schürfen westliche Pharmaunternehmen verstärkt in "genetisch homogenen" Bevölkerungsgruppen nach menschlichen Biodaten, die für die Medikamentenforschung verkauft werden können. Wie im indischen Mumbai regelrechte Bio-Start-ups entstanden, in denen arbeitslose Textilarbeiter mit Billigung des indischen Staates als "Versuchskaninchen" für gentechnische Medikamente eingesetzt werden, beschreibt der Anthropologe Kaushik Sunder Rajan in seinem jüngst erschienenen Buch "Biokapitalismus", aus dem wir hier einen Auszug veröffentlichen.
Die indische Pharmaindustrie ist heute eine der interessantesten der Welt, was vor allem mit dem spezifischen Charakter des indischen Patentrechts zu tun hat. Das entsprechende Gesetz aus dem Jahr 1970 schützte nämlich nicht nur Produkte, sondern auch Herstellungsverfahren. Indische Firmen waren daher im Gegensatz zu ihren amerikanischen Konkurrenten in der Lage, Medikamente zu produzieren, die bereits patentiert waren, sofern sie eigene Verfahren vorweisen konnten. Vor diesem Hintergrund konnten in Indien auf dem Weg des sogenannten „Reverse Engineering“ in großen Mengen billige Arzneimittel hergestellt werden, weshalb die Medikamentenpreise auf dem Subkontinent lange zu den niedrigsten der Welt gehörten. 1995 unterzeichnete das Land dann jedoch die Patentrechtsbestimmungen der WTO, wodurch es sich verpflichtete, die Regeln der Welthandelsorganisation bis 2005 vollständig zu übernehmen.
Diese Umstellung hat in Indien zu einem Paradigmenwechsel geführt, da sich indische Unternehmen nun ebenfalls auf die Erforschung und Entwicklung neuer Substanzen konzentrieren müssen, sodass sich ihre Aktivitäten immer stärker dem amerikanischen Modell annähern. Es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, dass die indische Pharmaindustrie in den achtziger und neunziger Jahren keineswegs eine schwächelnde oder sterbende Branche darstellte, die unbedingt einer Reform oder einer Erneuerung bedurft hätte, im Gegenteil. Vielmehr ging es bei der Übernahme der WTO-Regeln um die Preisgabe des traditionellen ertragsbasierten Geschäftsmodells zugunsten eines potentiell lukrativeren, aber auch weitaus riskanteren, wachstumsbasierten Modells. Auch indische Unternehmen werden nun nicht länger ausschließlich nach der Menge ihrer verkauften Produkte bewertet, sondern nach ihren Wertsteigerungsmöglichkeiten, auf die bekanntlich Investoren spekulieren. Dabei stehen sie nun in einem direkten Wettbewerb mit den mächtigeren westlichen Konzernen.
Während die indische Pharmaindustrie sich zu Beginn des Jahrtausends allgemein in einem sehr guten Zustand befand, steckte die Biotech-Branche auf dem Subkontinent noch in den Kinderschuhen. Das lag unter anderem daran, dass die Arzneimittelkonzerne in der Regel relativ risikoscheu und kaum bereit waren, den Kernbereich der Forschung und Entwicklung auszugliedern. Indische Politiker sind jedoch zunehmend bestrebt, diese Situation zu ändern, da sie in der Genomforschung großes wirtschaftliches Potential für das Land sehen. Die indische Regierung hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten gerade auf dem Gebiet der Genomforschung sehr stark engagiert.
Indien hatte sich in den frühen neunziger Jahren zunächst nicht am Humangenomprojekt beteiligt, was das politische Establishment wenig später bereute, als sich zeigte, welches enorme Potential – an Ruhm und Geld – in dieser Disziplin steckte. Also baute man nun das Centre for Biochemical Technology (CBT), das über 30 Jahre hinweg ein heruntergekommenes Zentrum zur Aufbewahrung biochemischer Reagenzien gewesen war, zu einem hocheffizienten staatlichen Forschungslabor um. Wie bei allen marktorientierten staatlichen Einrichtungen spielen Fragen des geistigen Eigentums auch für das CBT eine große Rolle.
Der Forschungsschwerpunkt des CBT ist die Populationsgenetik, da sich die indische Bevölkerung aus zwei Gründen gut für die Gewinnung genetischer Daten eignet. Erstens gelten einige indigene Völker des Subkontinents als genetisch homogen, weshalb man dort Studien durchführen kann wie jene, die DeCode in Island plante. Zweitens ist in Indien das Modell der Großfamilie noch immer sehr weit verbreitet, sodass es hier wesentlich einfacher ist als im Westen, die genetischen Ursachen von Krankheiten anhand der Lebensläufe der Familienmitglieder zu untersuchen. Das CBT treibt daher solche Untersuchungen massiv voran, wobei es seine Proben vor allem von öffentlichen Krankenhäusern bezieht.
Lokale Ökonomien der Verschuldung
Das indische Biotech-Start-up Genomed führt seine Forschungsaktivitäten in zwei sehr unterschiedlichen Umgebungen durch: auf dem Gelände des CBT in Delhi und im Wellspring Hospital in Mumbai, einem Krankenhaus, das dem Pharmaunternehmen Nicholas Piramal India (NPIL) gehört. Diese Orte repräsentieren buchstäblich verschiedene Welten und zeigen sehr anschaulich, welche Bedeutung der Ort für ein komplexes und situationsbezogenes Verständnis der technowissenschaftlichen Produktion hat. Auf den ersten Blick wirkt das Wellspring wie ein "Fünf-Sterne-Krankenhaus". Angesichts der glänzenden Marmorböden, der bequemen Sofas in der Lobby und der hellgelb bezogenen Krankenhausbetten fühlt man sich beinahe wie in einem Hotel. Vor allem unterscheidet sich das Wellspring von "normalen" indischen Krankenhäusern jedoch dadurch, dass fast keine Patienten zu sehen sind, und tatsächlich wird in dem Krankenhaus eher experimentiert als therapiert.
Während die genetische Ätiologie (Ursache, Anm. d. Red.) einer Krankheit überaus komplex sein kann, ist die Erforschung der Reaktion auf bestimmte Medikamente relativ einfach. Solche Untersuchungen fallen in den Bereich der Pharmakogenomik, die sich mit den Zusammenhängen zwischen den Erbanlagen und der Reaktion auf Medikamente befasst, die sich wesentlich leichter ermitteln lassen als die genetischen Ursachen von Krankheiten. Für Pharmaunternehmen bieten diese Studien daher wesentliche Vorteile: Wenn man Patienten nach der Wahrscheinlichkeit einer negativen Reaktion auf einen Wirkstoff in bestimmte Gruppen einteilen kann, wäre es prinzipiell denkbar, gezielt Arzneimittel für das Patientensegment auf den Markt zu bringen, das nicht negativ reagiert.
Unternehmen können jedoch nicht nur Geld sparen, in dem sie die Pharmakogenomik in ihre klinischen Versuche einbeziehen, sondern auch, indem sie diese Versuche in der Dritten Welt durchführen, wo wesentlich niedrigere Kosten anfallen. Während Genomed im Wellspring Hospital während meiner Feldarbeit einerseits die genetische Ursache von Schizophrenie und Diabetes Typ 2 erforschte, bezog sich ein weiteres, wahrscheinlich deutlich lukrativeres Projekt auf die Pharmakogenomik. Solche klinischen Studien wurden auch im Auftrag westlicher Firmen durchgeführt. Doch die Ressourcen, um die es dabei geht, bestehen nicht nur aus gut ausgebildetem Personal und der Infrastruktur, die Indien inzwischen aufgrund der staatlichen Förderung der Biotechnologie zu bieten hat, sondern auch aus der indischen Bevölkerung selbst.
In unseren Gesprächen wies Samir K. Brahmachari, damals noch Direktor des CBT und Vorstandsmitglied von Genomed, darauf hin, dass ein Querschnitt durch die indische Bevölkerung praktisch das gesamte Spektrum der Weltbevölkerung abdeckt. "Wollen sie Weiße, geben wir ihnen Weiße; wollen sie schwarze oder asiatische Versuchspersonen, geben wir sie ihnen." So wird Indien zu einem Melting Pot für klinische Studien.
Allein die Tatsache, dass eine indische Pharmafirma ein hochmodernes Krankenhaus baut, in dem praktisch ausschließlich klinische Versuche stattfinden, zeigt, dass das Wellspring einen Baustein eines übergeordneten, institutionalisierten Genomikprojekts darstellt. Besonders interessant ist jedoch die urbane Ökologie, in die die Klinik eingebettet ist und die sehr gut zeigt, dass man ethische Diskussionen nicht führen kann, ohne sie in ihren politischen, ökonomischen und geographischen Kontexten zu betrachten. Das Wellspring liegt in Parel, einem Gebiet mitten in Mumbai, wo früher die Textilindustrie ansässig war, die über Jahrzehnte hinweg in der Stadt für Wachstum sorgte, die jedoch in den achtziger und neunziger Jahren zusammenbrach.
Wenn man aus dem Fenster sieht, blickt man auch heute noch auf die leeren Hallen der einst florierenden Fabriken. In Parel gibt es deshalb sehr viele Arbeitslose, die früher in der Textilindustrie beschäftigt waren. Sie haben sich zwar in den späten neunziger Jahren gewerkschaftlich organisiert, doch ihre Kämpfe für die Wiederinbetriebnahme ihrer Fabriken sind wohl endgültig gescheitert. Krankenhäuser wie das Wellspring befinden sich insofern exakt an der Nahtstelle zwischen der durch Deindustrialisierung hervorgerufenen Armut (wobei die Armut in Parel ein ganz anderes Gesicht hat als beispielsweise im wenige Kilometer nördlich gelegenen Stadtteil Dhavari, dem größten Slum Asiens) und dem neuen Reichtum, den protzige Bauten und luxuriöse Einkaufszentren repräsentieren, in denen Konsumenten aus der entstehenden Mittelschicht sich mit ausländischen Markenartikeln eindecken. Solche Malls werden, zumindest teilweise, in der Erwartung gebaut, dass die alten Fabrikgebäude irgendwann abgerissen und durch exklusive Wohnanlagen ersetzt werden, denn Parel bietet im Prinzip erstklassige Immobilien in einer Stadt, deren Grundstückspreise zu den höchsten der Welt gehören.
Auch wenn die Beteiligten sich dazu nicht äußern, kann man wohl davon ausgehen, dass das Wellspring nicht zufällig in Parel gebaut wurde, denn hier stehen den Forschern viele arbeitslose Menschen zur Verfügung, die sich leicht für bezahlte klinische Versuche gewinnen lassen. Immerhin wurde hier ein für Mumbai, wo private Krankenhäuser in der Regel in besonders bevorzugten Gegenden angesiedelt sind, typisches Muster durchbrochen. Vor diesem Hintergrund ist es demnach ethisch äußerst fragwürdig, überhaupt von "freiwilligen Versuchsteilnehmern" zu sprechen. Vielmehr zeigt das Beispiel Wellspring/Parel, wie die Widersprüche des Kapitalismus und das Absterben eines ganzen Industriezweigs in Mumbai zur Entstehung einer neuen Kategorie von Subjekten geführt haben, an denen nun pharmakogenomische Versuche durchgeführt werden.
Von Opfern zu Objekten
Das Wellspring zeigt, wie Biopolitik und globale Kapitalströme sich wechselseitig konstituieren und welche Rolle dabei lokale Ökonomien der Verschuldung spielen. In Parel folgen die biopolitischen Herrschaftstechniken dem Modell der Inklusion, das Michel Foucault beschrieben hat. Hier geraten die Angehörigen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe (die der ehemaligen Industriearbeiter) unter die epistemischen Logiken und in die umkämpften Kreisläufe des globalen Biokapitals und verwandeln sich somit von Opfern zu Objekten, zu Körpern, die konsumiert werden können und die als Versuchspersonen (eine neue Kategorie von Subjekten) der Wissensproduktion und Werteerzeugung zur Verfügung stehen.
Ein Forschungsschwerpunkt von Wellspring/Genomed besteht darin, in klinischen Versuchen die pharmakogenomische Reaktion auf Medikamente zu testen, und die wichtigsten potentiellen Kunden sind westliche Biotech- und Pharmaunternehmen. Ich vertrete den Standpunkt, dass die Subjekte, die in Parel für klinische Versuche zur Verfügung stehen, Spekulationsobjekte sind, wobei Spekulation hier zwei verschiedene Dinge bedeutet: Einerseits sind sie den spekulativen Unternehmungen des Kapitalismus unterworfen, andererseits denen des indischen Staates, der globale Märkte erobern möchte. In diesem Sinn ist die Geschichte, die ich über Wellspring erzählt habe, eine alte Geschichte, nämlich die der kolonialen Ausbeutung der Ressourcen der Dritten Welt.
Was diese Vorgänge jedoch von bloßer Ausbeutung unterscheidet, ist die Tatsache, dass es sich hier um Versuchspersonen handelt. Denn der klinische Test ist ein spekulatives Unterfangen mit offenem Ausgang. Die Versuchspersonen von Parel werden buchstäblich zwei ineinandergreifenden Formen der Spekulation einverleibt, von denen die eine mit dem Markt, die andere mit den Lebenswissenschaften zu tun hat. Eine Ahnung von diesem Ineinandergreifen vermittelt der Begriff "Biokapitalismus".
aus: Kaushik Sunder Rajan: Biokapitalismus. Werte im postgenomischen Zeitalter, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009. ISBN: 978-3-518-42049-2. Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags.