Globale Gesundheit

Patente blockieren Innovationen

21.05.2024   Lesezeit: 6 min

Warum wir die Kontrolle über die Medikamenten-Produktion zurückgewinnen müssen. Interview mit Tim Joye

Im Gründungsjahr von medico international, 1968, wurden in Deutschland erstmals Patente auf Wirkstoffe von Arzneimitteln eingeführt. Seitdem ist der Kampf gegen dieses überaus profitträchtige Instrument der Kommodifizierung von Gesundheit ein Kernthema der politischen Arbeit von medico. Zentrale Organisationen wie Health Action International und die Buko Pharma-Kampagne wurden von medico mitgegründet. Ohne beständigen Druck von unten wären patentgeschützte HIV-Medikamente noch immer für die meisten Menschen weltweit unerschwinglich.

Und auch wenn der Kampf für die Aufhebung von Patenten auf Impfstoffe und Arzneimitteln gegen Covid-19 letztlich nicht erfolgreich war: Der Widerstand gegen Patente ist ungebrochen – das hat auch die von medico mitveranstaltete Konferenz "Public Pharma for Europe" gezeigt, zu der sich Aktivist:innen aus dem Umfeld des People’s Health Movement und progressiver Gesundheitsorganisationen Im März in Brüssel trafen.

Über die Konferenz und die Schattenseiten des Patentsystems sprach die georgische Gewerkschafterin Sopiko Japaridze mit dem belgischen Arzt Tim Joye.

Sopiko Japaridze: Warum habt ihr gerade jetzt eine Initiative für die öffentliche Produktion von Arzneimitteln gestartet?

Tim Joye: Spätestens seit der Corona-Pandemie gibt es ein kritisches öffentliches Bewusstsein über die Rolle multinationaler Pharmakonzerne für die Versorgung mit lebenswichtigen Arzneimitteln und Impfstoffen. Die Hersteller fuhren absurde Gewinne ein, obwohl ein Großteil der Forschung öffentlich finanziert war. Gleichzeitig gibt es in vielen Ländern einen Mangel an Medikamenten, weil die Herstellung von nicht-patentierten Produkten wenig Gewinn verspricht. Die Entscheidung, welche Arzneimittel hergestellt und erforscht werden, sollte aber nicht nach Profitaussicht, sondern nach medizinischer Notwendigkeit getroffen werden. Es muss also darum gehen, die Kontrolle über die Entwicklung und Herstellung unserer Medikamente zurückzugewinnen.

Wie stellt ihr euch den Übergang von der privaten Arzneimittelproduktion zu öffentlichem Eigentum vor? Gibt es Präzedenzfälle, auf die wir zurückgreifen können?

Ja, die gibt es. Während der Konferenz haben wir einige spannende Beispiele öffentlicher Pharmaindustrie kennengelernt. Valentin Veron Toma aus Rumänien erklärte, so wie es in vielen europäischen Ländern auch der Fall war, wie Impfstoffe in seinem Land früher von öffentlichen Einrichtungen hergestellt wurden. 30 Jahre Neoliberalismus haben davon nichts übriggelassen. Es gibt auch Beispiele aus anderen Teilen der Welt. Ein Forscher aus Brasilien berichtete, wie dort Arzneimittel derzeit von öffentlichen Pharmalaboren hergestellt werden.

Und eine Forscherin der Universität Barcelona sprach über CAR-T-Zell-Therapien zur Behandlung von Krebs, die dort entwickelt werden. Das ist ein besonders eindrückliches Beispiel, da die Forscher:innen nun dafür kämpfen müssen, ihre Entwicklungen öffentlich zu halten und eine Privatisierung durch Pharmakonzerne zu verhindern. Patente spielen eine herausragende Rolle zur Aufrechterhaltung des profitorientieren Systems. Während sie in der Theorie dazu gedacht sind, Innovationen zu fördern, behindern sie diese in der Praxis oft.

Kannst du genauer erklären wie das System der Patentierung funktioniert?

Die meisten neuen Medikamente sind durch Patente geschützt. Patente kann man als Unternehmen oder Forscher:in beantragen, wenn man ein neues Produkt oder eine neue Technologie hat, die einen Mehrwert zu dem bietet, was es bereits gibt. Die Idee besteht darin, privaten Unternehmen Schutz zu bieten, damit sie in neue Forschung investieren können, da sie wissen, dass sie durch das Patent zwanzig Jahre lang ein Verkaufsmonopol haben. Nun entsteht aber ein großer Teil der Innovation durch Grundlagenforschung mit öffentlichen Geldern in Universitäten.

Für den Schritt von der Forschung zum marktreifen Produkt braucht es viel Geld für klinische Versuche und Studien mit Patient:innen. Da kommen die Pharmaunternehmen ins Spiel. Sie finanzieren die klinischen Studien und lassen die Produkte dann patentieren. Es ist ein System, in dem die Innovation durch öffentliche Gelder gefördert wird, aber das Ergebnis ist privatisiert und in den Händen von zehn bis zwölf großen Pharmakonzernen, die nicht an unserer Gesundheit interessiert sind. Sie versuchen, so viel Profit wie möglich zu machen.

Hast du ein Beispiel, inwiefern ein Patent auf ein neues Medikament das Recht auf Gesundheit unterläuft?  

Es gibt ein neues Medikament gegen Mukoviszidose namens Trikafta, patentiert vom US-Konzern Vertex. Menschen mit dieser Krankheit brauchten bisher in vielen Fällen eine Lungentransplantation, bevor sie 30 Jahre alt sind. Mit Trikafta gibt es nun erstmals eine medikamentöse Behandlung, die große Heilungschancen verspricht. Die Forschung für Trikafta wurde mit Hilfe von Spendengeldern von Patient:innenenverbänden in den USA ermöglicht. Aber nun sind das gesamte Wissen, die Technologie und das Monopol für den Verkauf im Besitz des amerikanischen Konzerns Vertex, der das Medikament in verschiedene Länder verkauft.

Sie verkaufen es für 200.000 Euro pro Jahr. Aber von einem Gesundheitsökonom, der die jährlichen Finanzberichte von Vertex analysiert hat, wissen wir, dass die Herstellung des Produkts nur drei Prozent dieses Preises kostet. Der Verkaufsreis ist also übermäßig hoch. Warum? Sie haben ein durch das Patent geschütztes Monopol. Einerseits belasten die in Europa erhältlichen Medikamente mit ihren Mondpreisen unsere Gesundheitssysteme. Es kostet Millionen und Abermillionen, um alle Patient:innen mit Mukoviszidose zu versorgen. Andererseits können sich die allermeisten Menschen in Afrika, Lateinamerika und Asien das Medikament nicht leisten. Weder in Indien noch in Südafrika oder in Brasilien ist es erhältlich – auch weil Vertex sich weigert, Trikafta dort zu verkaufen. Es gibt derzeit eine internationale Kampagne, um Druck auf Vertex auszuüben. Es kann nicht sein, dass Menschen an den Folgen von Mukoviszidose sterben, weil ein Pharmakonzern seine Gewinnmarge bedroht sieht.

Die Konferenz wollte erstmals Initiativen für eine öffentliche Pharmaproduktion zusammenbringen. Was tut sich da gerade in Europa?

Es gibt eine beträchtliche Anzahl von Initiativen in ganz Europa, die öffentliche Alternativen zu privatisierter Arzneimittelproduktion voranbringen. Darunter ist zum Beispiel eine Volksinitiative in der Schweiz, die für einen jährlichen 70 Mio. Euro starken Forschungsfonds wirbt. Es gibt außerdem eine Initiative auf EU-Ebene für eine European Medicines Facility (EMF), die dort Forschungs- und Entwicklungsprojekte fördern soll, wo der private Sektor dies nicht tut. In Frankreich wiederum gibt es eine Gruppe, die ein internationales Netz von Arzneimittelfabriken als Public-Common-Partnerships schaffen will, um Arzneimittel für den öffentlichen Bedarf herzustellen.

Wie geht es jetzt weiter?

Wir wollen das Thema auf die politische Tagesordnung setzen. Dazu wollen wir eine Koalition der öffentlichen Pharmaindustrie in Europa ins Leben rufen. Wir werden Webinare und weitere Auftaktveranstaltungen organisieren. wir wollen auch die Beschäftigten in der Pharmaindustrie und im Gesundheitssektor mitnehmen, die Apotheker:innen und die Patientenverbände erreichen. Wir wollen die Wissenschaftler:innen erreichen, die an neuen Medikamenten forschen, aber in einem System feststecken, in dem ihre Forschung von der großen Pharmaindustrie abhängt.

Tim Joye ist Allgemeinmediziner und arbeitet bei Médicine pour le Peuple, einer belgischen Vereinigung solidarischer Zentren für medizinische Grundversorgung. MPLP entwickelte die Idee eines europäischen Instituts für die Erforschung und Herstellung neuer Medikamente.

Das Interview erschien zuerst bei LeftEast.


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