Ende Mai fand in Genf die jährliche Weltgesundheitsversammlung (WHA) statt. Neu im 77. Jahr des Zusammentreffens von Delegationen aus allen Mitgliedsländern war die Präsenz der Impfgegner:innen und Verschwörungsideolog:innen, die der Weltgesundheitsorganisation den Griff nach der Weltherrschaft durch den Pandemievertrag unterstellen. Mit einem UN-blauen Reisebus haben sie die Sitzungswoche über mobil gemacht und am letzten Tag der WHA mit einigen Hundert Menschen auf dem Place des Nations direkt vor dem Fahnenmeer des UN-Palastes in Erinnerung gerufen, dass die gemeinsame Anstrengung einer globalen Pandemiebekämpfung keineswegs die Zustimmung aller findet.
Nicht ganz neu, aber doch eine sich verfestigende Tendenz sind die (geo)politischen Manövern in den Sitzungen der Weltgesundheitsversammlung. Zu Beginn der Covid-Pandemie schürte die Trump-Regierung hier das Misstrauen gegenüber China mit Debatten über den Ursprung des Virus in einem Forschungslabor. Über Monate prägte der Vorwurf die Debatten und hatte wohl seinen Anteil an der seitdem zunehmenden Skepsis gegenüber der WHO als dem globalen Gemeinwohl verpflichteten Akteurin.
Geopolitisches Lagerdenken
Seit zwei Jahren sind es Resolutionen zum Ukraine-Krieg, deren Abstimmung zum Lackmustest der Loyalitäten werden. Sinnbildlich für die neue multipolare Weltordnung sind dabei vor allem die zahlreichen Enthaltungen vieler Länder des globalen Südens, die sich diesem geopolitischen Lagerdenken nicht anschließen wollen, weil sie oft zu beiden Seiten enge wirtschaftliche und finanzielle Verbindungen haben.
Aktuellstes Beispiel und prägend für die diesjährige WHA: Der Krieg in Gaza, die Angriffe auf medizinische Einrichtungen und die katastrophale humanitäre Lage der Bevölkerung. Der Konflikt kulminierte in einem Schlagabtausch und Kampfabstimmungen bei den Verhandlungen über die Resolution „Health conditions in the occupied Palestinian territory, including east Jerusalem, and in the occupied Syrian Golan“.
Erst nach zeitraubenden Debatten und Abstimmungen über vier ergänzende Forderungen sowohl von der israelischen Delegation (bedingungslose Freilassung der israelischen Geiseln und Ende der Nutzung humanitärer Einrichtungen durch bewaffnete Gruppen) wie auch von den arabischen Delegationen (Unterstützung des Internationalen Gerichtshofs und Ende der israelischen Angriffe auf medizinische und humanitäre Ziele) konnte sie verabschiedet werden. Aufgewertet wurde die palästinensische Delegation, die einen Status als „observer state“ mit Rede- und Antragsrecht bekam – ein Schritt vor einer Vollmitgliedschaft, die anerkannten Staaten vorbehalten ist.
Gravierend ist auch die Auseinandersetzung um eine gender-inklusive, sexuelle Minderheiten nicht-diskriminierende Ausrichtung der Arbeit der WHO. Seit einigen Jahren stellt eine Gruppe von Staaten aus dem afrikanischen und arabischen Raum, mit deutlicher Unterstützung Russlands und anderer konservativer Staaten, die sexuellen und reproduktiven Gesundheitsrechte in Frage, die seit den 1990er Jahren zum festen Kanon der Vereinten Nationen gehören. Besonders im Fokus steht hier das Recht auf Abtreibung. Zu befürchten ist, dass eine gender-inklusive und anti-diskriminierende Orientierung zunehmend aus Dokumenten und am Ende auch der Arbeit der WHO verschwinden könnte, um die wachsenden Konflikte in Zukunft zu vermeiden.
Auch bei einem weiteren Schwerpunkt der diesjährigen WHA erwiesen sich die Gräben zwischen den Mitgliedern tief und das Misstrauen groß. Bereits seit zwei Jahren laufen die Verhandlungen zu einem Pandemievertrag, der die existierenden Internationalen Gesundheitsvorschriften (IHR) ergänzen soll. Die IHR regeln Informations- und Kooperationspflichten auf globaler Ebene, den Umgang mit Reisenden und Gütern im Fall einer „Public Health Emergency of International Concern“.
Erstmals gelang es, Gerechtigkeitsforderungen in den Text einzuschreiben und einen globalen Finanzierungsmechanismus zur Erkennung, Prävention und Bewältigung von grenzüberschreitenden Krankheitsausbrüchen für Länder festzuschreiben, die nicht über ausreichende eigene Mittel verfügen.
Umstrittene Eigentumsrechte
Keinen abschließenden Konsens fanden die Ländervertreter:innen in den Verhandlungen zum Pandemievertrag, in dem unter anderem die Sicherung einer gerechten Verteilung von neu entwickelten Medikamenten und Impfstoffen im Pandemiefall enthalten sein sollte. Die für die Verhandlungen angesetzten zwei Jahre erweisen sich als äußerst knapp für einen internationalen, rechtlich bindenden Vertrag. Die Zeitvorgabe orientierte sich eher an der Befürchtung, nach einer möglichen Rückkehr von Donald Trump ins Präsidentenamt 2025 kein Ergebnis mehr erreichen zu können, als an der erwartbaren Länge der Verhandlungen.
Besonders umstritten ist wie schon in der Pandemie die Aussetzung geistiger Eigentumsrechte auf Medikamente. Damals hatten die Debatten bei der Welthandelsorganisation zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt. Auch benachteiligte der hohe Zeitdruck die Delegationen kleiner Länder des globalen Südens, die mit beschränkten Mitteln parallel den Pandemievertrag und die Gesundheitsvorschriften verhandeln mussten. Eine nun beschlossene Verlängerung der Verhandlungen um ein Jahr erhöht die Chance auf einen Abschluss immerhin.
Ein Hoffnungsschimmer in einer Zeit, in der die zunehmende Geopolitisierung der WHO zu einem immer größeren Problem für ihre Handlungsfähigkeit wird. Ohne Zweifel, Gesundheit ist immer politisch und es hängt maßgeblich von politischen Entscheidungen ab, ob sich Gerechtigkeitsperspektiven und gesunde Lebensbedingungen für alle realisieren lassen. Die WHO darf sich also nicht auf eine rein technische Funktion reduzieren lassen. Ihre Stimme im Interesse der Gesundheit aller Menschen wird gebraucht, wenn nationale Egoismen und Profitorientierung dieses Menschenrecht auf Gesundheit mit Füßen treten.
Zweifel bestehen jedoch, ob die WHO heute noch in der Verfassung ist, diese historische Orientierung gegenüber den starken und divergierenden Interessen ihrer eigenen Mitgliedsstaaten und der vielen externen Akteure, die ebenfalls mit am Tisch sitzen, durchzusetzen. Eine starke und vernehmbare Stimme einer kritischen Zivilgesellschaft an diesen Orten ist darum unerlässlich.
medico ist seit den 1980er Jahren in den Debatten um Zugang zu Medikamenten, Gesundheitsversorgung für alle und gerechte Weltwirtschaftsbeziehungen, die eine Finanzierung öffentlicher Gesundheitsdienste erst ermöglichen, engagiert. Über Allianzen wie das People’s Health Movement und den Geneva Global Health Hub bringen wir uns hartnäckig in Genf ein.