5 Jahre Corona

Kontrolle statt Fürsorge

20.03.2025   Lesezeit: 10 min

Autoritäre Maßnahmen prägten den staatlichen Umgang mit der Pandemie. Um ihre Gesundheit und Versorgung kümmerten sich die Menschen vielerorts selbst. Ein Interview mit der Wissenschaftshistorikerin Edna Bonhomme

In diesen Wochen jährt sich die Corona Pandemie zum fünften Mal. Anlass um Bilanz zu ziehen. Mitte März erschien das neue Buch der Wissenschaftshistorikerin Edna Bonhomme "A History of the World in six Plagues". Wir sprachen mit ihr darüber, wie der Umgang mit Epidemien Gesellschaften formt, über Freiheitsentzug als Mittel staatlicher Kontrolle, persönlichem Schutz und warum es mehr progressive Projekte gegenseitiger Gesundheitsfürsorge braucht.

medico: Dein Buch beginnt mit einer sehr persönlichen Reflektion erlebter Krankheiten. Warum war es dir wichtig, ein Buch über die Geschichte von Pandemien und den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen zu schreiben?

Edna Bonhomme: Zu Beginn des Lockdowns während der COVID-19-Pandemie begann ich, wie viele andere Menschen auch, darüber nachdenken, was es bedeutet, eine Pause einzulegen. Ich beobachtete eine neue gesellschaftliche Situation, eine neuartige Krankheit und eine Reihe neuer und international geltenden Vorschriften im Bereich der öffentlichen Gesundheit. Außerdem hatten viele einfach das Gefühl, dass sie körperlich Abstand halten mussten, um andere vor einer Ansteckung zu schützen. Das brachte mich dazu, nicht nur über die aktuelle Situation, die wir erlebten, nachzudenken, sondern auch über meine frühesten Kindheitserinnerungen. In gewisser Weise wandte ich mich Sigmund Freud zu und dachte über das Unbewusste nach und warum der erste Lockdown für mich unangenehm war. Ich versuchte, die tiefgreifende Beziehung zwischen Kindheitserinnerungen von krankheitsbedingten Einschränkungen und dem Zustand, in dem ich als Erwachsener lebte, zu verstehen.

Dennoch war es nicht nur im Zusammenhang mit dem Buch und dem Schreibprozess, sondern auch historisch notwendig, eine differenzierte Perspektive auf Formen von Beschränkungen und Quarantäne zu entwickeln und darauf, wie sie mit der Ausbreitung und Behinderung von Epidemien zusammenhängen. Beim Nachdenken über dieses heikle Gleichgewicht zwischen Einschränkung und Ansteckung wollte ich den Bogen von Epidemien im 19. Jahrhundert bis heute spannen und wie dies mit der Industrialisierung und der Entwicklung von uns Menschen zusammenhängt. Zusätzlich interessiere ich mich dafür, wie wissenschaftliche Diskurse auch dazu beigetragen haben, zu beeinflussen, ob Menschen die Wissenschaft und ihre vielen Formen akzeptieren und ihr vertrauen oder ob sie sich in einigen Fällen dagegen wehren, und dies politisch instrumentalisiert wird.

Du vertrittst die Ansicht, dass Freiheitseinschränkungen und Quarantäne historisch verankerte Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens bei Pandemien sind - warum machst du diese begriffliche Unterscheidung?

Die beiden Begriffe Einschränkung und Gefangenschaft haben je nach Kontext unterschiedliche Konnotationen. Es gibt eine erzwungene Gefangenschaft, die historisch in staatlichen Institutionen verwurzelt ist, wie z. B. die der Sklaverei. Diese unterscheidet sich von verschiedenen medizinischen Formen der selbst- oder in einigen Fällen staatlich regulierten Freiheitseinschränkung, wie zum Beispiel der Quarantäne, bei der es sich um die Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Menschen, Tieren oder Gütern handelt, um die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern. Eine mangelnde Klarheit bei einigen dieser Begriffe hat zu einem Missverständnis der verschiedenen Formen der Einschränkung geführt. Daher versuche ich, verschiedene Arten der Eingrenzung sehr genau zu beschreiben. Wenn ich mir diese verschiedenen Formen der Freiheitseinschränkung ansehe, ob sie nun vom Staat oder von einem selbst auferlegt wurden, wird die Notwendigkeit deutlich, offene und klare Debatten darüber zu führen, was es bedeutet, wenn man sich notwendigerweise in medizinischer Isolation befindet.

So gab es unzählige Menschen, deren Angehörige verstorben sind, und sie die Toten durch Rituale ehren wollten. Wenn man ihnen dies verwehrt, verwehrt man den Menschen so die Möglichkeit, nach ihren Bedürfnissen zu trauern und Schmerz zu empfinden. Vielleicht hätte es sogar eine Möglichkeit geben können, die Ausbreitung einer Infektionskrankheit zu verhindern und gleichzeitig den Menschen die Möglichkeit zu geben, um ihre Angehörigen zu trauern. Es ist wichtig, das richtige Gleichgewicht zu finden, um zu lernen, wie man sich an eine neue Situation anpasst, und gleichzeitig den Menschen Raum zu geben, über die Ausbreitung von Infektionskrankheiten nachzudenken. Solch ein Umgang gibt den Menschen mehr Spielraum, den Gesundheitsbehörden zu vertrauen, insbesondere während eines Ausbruchs.

2014 hatten wir Partnerorganisationen in Sierra Leone, die mit Gesundheitsarbeiter:innen der Gemeinden zusammenarbeiteten. Das waren hauptsächlich Frauen, die sich um Kranke kümmerten, aber auch Informationen und emotionale Unterstützung für deren Angehörige und Freunde gaben. Das war die Vertrauensbasis, auf der die Menschen öffentlichen Gesundheitsmaßnahmen zustimmten, aber gleichzeitig kritisch gegenüber den sehr harten Ausgangsbeschränkungen sein konnten, die ihnen auferlegt wurden.

In der Tat, es ist wichtig, zuzuhören und über die echten Bedenken der Menschen gegenüber medizinischen Einschränkungen nachzudenken. Genauso wichtig ist es Gespräche über eine Infektionskrankheit zu führen, wie sie sich ausbreitet und wie man die Ausbreitung so weit wie möglich reduzieren kann. Wenn wir sagen, dass wir die bestmöglichen Lebensbedingungen für die Menschen wollen, bedeutet das, dass wir die Medizin so anpassen müssen, dass wir so viele Menschen wie möglich versorgen können. Das ist der Zweck und der Grund für die öffentliche Gesundheit. Im Moment sehen wir, dass die Masern in den USA wieder auf dem Vormarsch sind, insbesondere in Texas, wo Impfskepsis sehr weit verbreitet ist. Auch hier müsste eigentlich das Gleichgewicht, das ich bereits erwähnte, im Zentrum der Debatte stehen.

Was ist der Zusammenhang zwischen diesen Anti-Impfkampagnen, wie wir sie während der COVID-Pandemie erlebten, und den jüngsten Angriffen der extremen Rechten - sei dies gegen das Menschenrecht auf Gesundheit oder die gesundheitliche Selbstbestimmung von Frauen?

Ein Teil der Antwort ist, dass es bei Fragen rund um die eigene Gesundheit sehr stark um körperliche Autonomie geht. Von Links wird körperliche Autonomie in der Frage der reproduktiven Rechte und des Zugangs zu Abtreibungen betont. Die extreme Rechte verweigert schwangeren Menschen das Recht auf körperliche Autonomie. Im gleichen Atemzug sagen sie dann jedoch, dass jede Form von körperlichen Eingriffen in Bezug auf Impfungen oder medizinische Isolation ein Angriff auf die körperliche Autonomie sei. Daran sehen wir, es geht nicht um reale Selbstbestimmung, sondern um die Kontrolle der einen über die anderen.

Du schreibst, dass ein gemeinsames Trauma die Opfer des Grippeausbruchs 1918 und die Überlebenden des Krieges miteinander verband. Kann es sein, dass wir zu wenig über individuelle oder kollektive Traumata infolge der COVID-Pandemie sprechen?

Der Schriftsteller C.S. Lewis bemerkte in seiner Textsammlung Grief observed, dass ihm niemand jemals gesagt hatte, dass sich Trauer wie Angst anfühle. Genau das ist vielen Menschen unter der Pandemie passiert, die trauerten und fanden keinen Mechanismus, um diese Trauer zu bearbeiten - weder auf individueller noch auf gesellschaftlicher Ebene. In einigen Fällen verwandelte sich das Fehlen angemessener Trauer in Angst, Sündenbock-Denken und Überlebenskampfmentalität. Einige Menschen trauern noch immer.

Wir müssen uns daher fragen, wie wir nicht anerkannte Formen psychischer Belastung und Traumata untersuchen können. In dieser Hinsicht kann die Linke eine geeignete Alternative bieten, indem sie sagt: Warum haben wir keine kostenlose psychologische Unterstützung und universelle Unterstützung für Menschen, die aus welchen Gründen auch immer verzweifelt sind, und sei es, weil sie im Kapitalismus leben?

Die extreme Rechte hat es geschafft, aus der Not der Menschen Kapital zu schlagen und sie zu nutzen, um jemandem die Schuld zu zuweisen - Einwanderer:innen, ethnischen Minderheiten und so weiter. Die Linke sollte darüber nachdenken, wie sie Formen der gemeinschaftlichen Fürsorge und psychologischen Unterstützung bereitstellen und fordern kann, die nicht imperial sind. Was in linken Kreisen manchmal fehlt, ist der fürsorgliche Ansatz für eine umfassende medizinische Versorgung.

Ist es das, was du meinst, wenn du sagst, dass du dich für Gesundheitskommunismus einsetzt?

Der Begriff „Gesundheitskommunismus“ wird von Beatrice Adler Bolton und Artie Vierkant in ihrem gleichnamigen Buch vertreten. Darin werden Bedenken hinsichtlich der globalen Gesundheit, des Kapitalismus und der derzeitigen Gesundheitsindustrie geäußert. Wenn ich von Gesundheitskommunismus spreche, geht es darum, sicherzustellen, dass Gesundheit und Medizin als Ressourcen nicht privat oder unter kapitalistischen Regimen stehen, sondern weltweit gleichmäßig verteilt sind. Ob Sie in Berlin oder Kampala leben, die soziale Fürsorge oder Dinge, die wir als Teil davon betrachten, wie Mutterschaftsurlaub, Zeit zum Heilen nach der Geburt, Dinge wie Impfstoffe oder sogar psychologische Betreuung, all das sollte kostenlos und für Menschen weltweit leicht zugänglich sein. Und es sollte keineswegs an Wohltätigkeit gebunden sein.

Wir sollten mit der Vorstellung brechen, dass man etwas erhält, Gesundheitsversorgung zum Beispiel, was von einer Wohltätigkeitsorganisation großzügig gespendet oder angeboten wird. Stattdessen sollte es als Menschenrecht angesehen werden, dass Menschen Zugang zu eben diesen Ressourcen haben, die eine umfassende Versorgung garantieren. Letztendlich geht es darum, in einer Gesellschaft zu leben, in der Ressourcen umverteilt werden und die Menschen selbst entscheiden können, wie sie diese Ressourcen nutzen. Niemand sollte sich dafür schämen, lebensnotwendige Gesundheitsprogramme in Anspruch zu nehmen.

Es geht nicht nur um Impfstoffe, sondern auch um den Zugang zu sauberem Wasser und sauberer Luft. Wir müssen uns fragen, wie wir ein System schaffen können, in dem Lebensmittel, medizinische Ressourcen und die Natur für alle Menschen zugänglich sind, und was das für die Menschen im globalen Norden bedeutet: Wir müssen vielleicht viel aufgeben, damit der Rest der Welt das bekommt, was ihm zusteht.

Klingt das nicht unrealistisch vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Machtverschiebungen, die uns eher in eine Art Verteidigungsmodus versetzen? Nehmen wir nur das Beispiel der Finanzierungsstopps von PEPFAR und USAID, die dazu führten, dass Millionen Menschen ohne grundlegende medizinische Versorgung sind und sich zwischen dem Kauf von Lebensmitteln oder dem Kauf von Medikamenten entscheiden müssen.

Ja, die Kürzung der US-Entwicklungshilfe schafft die Voraussetzungen für Krankheitsausbrüche, insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent. Zum Beispiel ist Ebola kürzlich in Ostafrika und Uganda aufgetreten, und auch MPOX hat im Kongo zugenommen. Die Aussetzung der Auslandshilfe durch die Trump-Regierung hat dazu geführt, dass Menschen, die am verwundbarsten sind, nun überproportional anfällig für Infektionskrankheiten sind. Gleichzeitig war diese Hilfe mit vielen Haken verbunden. Die USAID-Mittel umfassten keine Mittel für Abtreibungen oder für Organisationen, in denen Sexarbeiterinnen diese Mittel offen nutzen konnten. Dies wirft ein Schlaglicht auf eine umfassendere Frage: Welche Bedingungen für Hilfe gibt es und wer legt fest, wie diese aussehen? Wenn die Regierung involviert ist, kann sie auf die konservative Politik eines bestimmten Regimes beschränkt sein. Deshalb halte ich es zum jetzigen Zeitpunkt für wichtig, die Geschichte einiger dieser ausländischen Hilfsorganisationen zu kennen, zu wissen, was sie geleistet haben und was nicht, wie die Bedingungen sind und was die Menschen vor Ort denken. 

Für linke Organisationen heißt das, aktiv über diese Gesundheitsprogramme nachzudenken und darüber, wem sie nützen oder schaden. Sie müssen direkt mit den Menschen vor Ort zusammenarbeiten und langfristige, sinnvolle Beziehungen zu den Menschen im globalen Süden aufbauen. Es muss eine deutliche linke Alternative geben, damit wir die Konservativen und die drakonischen Maßnahmen und Richtlinien, die jetzt ans Licht kommen, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch anderswo, in Frage stellen können.

Um mit deinem Buch zu enden, du schreibst darin, dass es schon immer kollektive Aktionen gegen Ungleichheiten gab, die mit Krankheiten einhergingen.

Das ist richtig. Ein Beispiel dafür aus dem 19. Jahrhundert ist das Freedmen's Bureau. Ehemals versklavte und freie Afroamerikaner:innen versorgten schwarze Amerikaner:innen kostenlos medizinisch und vertraten die Ansicht, dass Gesundheit ein universelles Recht sein sollte. Während des Wiederaufbaus, das heißt nach der Emanzipation der versklavten Menschen in den 1860er- und 1870er-Jahren, wurden also viele Afroamerikaner:innen für kurze Zeit durch selbst initiierte Projekte kostenlos medizinisch versorgt.

Hundert Jahre später vertrat die Black Panther Party die Meinung, dass Gesundheit eine Priorität und etwas frei Verfügbares sein sollte. Deren Aktivist:innen gründeten Gesundheitskliniken, um verschiedene Menschen zu versorgen. Ich führe diese beiden Beispiele als eine Art Vorbild an, aber es gibt so viele andere Projekte, die auf lokaler Ebene auch unter feministischen Gruppen stattfanden. In den 1960er- und 1970er-Jahren bildeten sich Gesundheitskollektive, nicht nur in den USA, sondern auch anderswo. Uns kann das Erzählen über diese linken Bewegungen helfen zu erkennen, was funktioniert hat, was nicht und wie wir Bewegungen aufbauen können, die Raum für gegenseitige Hilfe schaffen.

Das Interview führte Felix Litschauer.


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