Am 22. März 2020 begann in Deutschland der erste Lockdown infolge der Corona-Pandemie. Schulen und Kindergärten wurden geschlossen, eine Maskenpflicht eingeführt, Homeoffice und Kurzarbeit wurden verordnet, Flieger blieben auf dem Boden. Aus der Paralyse des Ausnahmezustands verfolgten wir die Meldungen zu der neuen Lungenkrankheit SarsCov2 und bekamen eine Ahnung davon, wie sie unser Zusammenleben im Kleinen wie im Großen verändern sollte.
Global gesehen war die Gesundheitskrise längst schon da, verursacht unter anderem durch die Privatisierung von Gesundheitssystemen und dem Abbau einer flächendeckenden Basisgesundheitsversorgung. Gerade die verschuldeten Länder des globalen Südens wurden von der Weltbank und durch unfaire Handelsverträge gezwungen, die öffentliche Daseinsvorsorge einzuschränken. Auch Medikamente wurden und werden nicht entwickelt, wenn sie medizinisch notwendig sind, sondern wenn sie profitabel sind.
Dass der Markt im Krisenfall keine geeignete Instanz ist, um gesellschaftliche Grundbedürfnisse zu regeln, war bereits zu Beginn von Corona auch in Deutschland breiter gesellschaftlicher Konsens. Lange konnte sich dieser Konsens jedoch nicht behaupten. Angstgetrieben verfielen Regierung wie breite Teile der Bevölkerung einem Sicherheitsdenken, unter dem auch weitere europäische Staaten schnell jegliche Solidarität, Fürsorge und Gemeinsinn zu einem bloßen Lippenbekenntnis verkommen ließen.
In den darauffolgenden Jahren starben mindestens sieben Millionen Menschen an oder mit Covid-19 und Millionen Menschen leiden weltweit bis heute unter den gesundheitlichen, sozialen und politischen Langzeitfolgen. Es sind Tote, die hätten verhindert werden können.
Impfstoff als globale Almende denken
Für die Länder des globalen Südens waren die Konsequenzen einer Pandemie allzu schnell klar. Die Erinnerung an AIDS ließ sie Schlimmes erahnen: Millionen Menschen in den arm gehaltenen Ländern starben, bevor sie nach jahrelangem juristischem Tauziehen und dem Druck von Gesundheitsaktivist:innen die Versorgung mit bezahlbaren Medikamenten durchsetzen konnten. Die Befürchtungen bewahrheiteten sich auch im 21. Jahrhundert – es begann ein beispielloser Wettlauf um Masken, Medikamente und Impfstoffe.
Südafrika, Indien und andere Länder forderten gemeinsam mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine global nach medizinischen und sozialen Kriterien orientierte Versorgung in der Pandemie und forderten die Weltgemeinschaft auf, die Fehler vorangegangener Epidemien nicht zu wiederholen. Sie schlugen die Aussetzung der Patente auf Impfstoffe vor, um im Interesse aller die Produktion zu beschleunigen und die Kosten so niedrig wie möglich zu halten. Unterstützt wurden sie dabei von mehr als 80 Staaten des globalen Südens, von tausenden Wissenschaftler:innen, zivilgesellschaftlichen Gruppen überall auf der Welt, dem Papst und vielen weiteren. Auch medico war Teil der weltweiten Kampagne für eine Freigabe der Patente.
Die reichen Industriestaaten torpedierten alle diese Vorschläge und sicherten das Recht auf Gewinn für Pharmaunternehmen ab, gegen die Verwirklichung des Menschenrechts auf Gesundheit nach einem gerechten und gleichen Zugang zu den Impfstoffen. Es war ein klares Signal an die Ränder der Welt: Multilateralismus hat nur dann einen Stellenwert, wenn die reichen Ländern die Gleicheren unter den Gleichen sind. Das Gemeinsame hätte sich hier zeigen müssen. Statt einer gemeinwohlorientierten Politik auf Globalebene, erlebten wir ein Handeln in alten Mustern, welches der von Verteidigung kapitalistischer Grundprinzipien entsprach.
Nach dem Ende der Pandemie zeigten Leaks enge Absprachen zwischen Regierungsvertreter:innen und Pharmaindustrie zur Aufrechterhaltung der Patente. Bundesregierung und EU-Kommission machten sich das Argument der Pharmaindustrie zu eigen, dass nur Patentschutz die Forschung an neuen lebensrettenden Medikamenten sicherstellen könne – ein hartnäckiger Irrglauben. Schließlich wird nicht nur die Grundlagenforschung, sondern auch die Entwicklung von Impfstoffen und vielen Medikamenten größtenteils aus öffentlichen Mitteln finanziert. Der Covid-Impfstoff AstraZeneca wurde sogar zu 97 Prozent aus öffentlichen Mitteln finanziert.
Die Politik ermöglichte der Pharmaindustrie Milliardengewinne und privatisierte damit de facto öffentliche Errungenschaften. Das Wahlversprechen von SPD und Grünen, die Patente auszusetzen, wurde 2021, wenige Tage nach der letzten Bundestagswahl, gekippt: man habe sich von der Pharmaindustrie belehren lassen hieß es im grünen Wirtschaftsministerium.
Je lauter weltweit die öffentliche Forderung nach Freigabe der Patente wurde, desto radikaler wurden die Abwehrstrategien. In neokolonialer Manier wurde behauptet, selbst wenn man die Produktion ausweiten wollte, es gäbe dafür keine Kapazitäten in den Ländern des globalen Südens. Dieser Mythos hielt sich auch in der medialen Berichterstattung, obwohl er in Studien schnell widerlegt wurde. Diese Verweigerungshaltung kostete zahllose Menschenleben, weil zu wenig produziert wurde und viele Länder sich die hohen Preise nicht leisten konnten.
Später exportiere Europa gönnerhaft Impfdosen, kurz vor Ablauf der Haltbarkeit als „Spende“ nach Kenia und andere Länder – um dann den Ländern Unfähigkeit vorzuwerfen, diese nicht schnell genug zu verteilen .
Lessons learned?
In der Tat hat die Versicherheitlichung von Gesundheitspolitik infolge von Corona und der nachfolgenden geopolitischen Umbrüche zugenommen. Erst vergangene Woche einigte sich die EU auf ein neues Gesetz zum Horten wichtiger Medikamente für Krisen- und insbesondere Kriegszeiten. Und auch im globalen Süden setzen die Länder auf Regionalisierung von Produktion, suchen sich neue bilaterale Verbündete und bauen Forschungszentren auf, um sich vom Globalen Norden unabhängig zu machen. Die Verhandlung eines Pandemievertrages unter Schirmherrschaft der WHO, der internationale Zusammenarbeit und eben nicht Abschottung in Zeiten von Pandemien stärken soll, ist in dieser Entwicklung eher ein Nebenschauplatz.
Die Corona-Pandemie markiert einen nachhaltigen Bruch zwischen vielen Ländern des globalen Südens und Europa. Warum sollten sie Europa vertrauen oder unterstützen? Zahlreiche afrikanische Länder stellten diese Frage auch, als sie aufgefordert wurden für die UN-Resolutionen zur Verurteilung des Russischen Angriffs auf die Ukraine zu stimmen. Sie wandten sich von Europa ab.
Einen nachhaltigen Bruch gab es nicht nur international. Er vollzog sich auch hierzulande zwischen denen, die am meisten unter den Einschränkungen und gesundheitlichen Folgen der Pandemie litten, und denen, die glimpflich davonkamen. Osteuropäische Migrant:innen, die infolge von „Arbeitsquarantäne“ in Fleischfabriken zwangsweise einer Durchseuchung ausgesetzt waren, teilen ähnliche Traumata wie Long-Covid Patient:innen. Beide Gruppen finden gesellschaftlich kein Gehör.
Rückblickend lässt sich konstatieren, dass es auch der linksliberalen Mitte in Europa nicht gelang, all dem mit solidarischen Praktiken und Forderungen zu begegnen. So entstand der Eindruck, dass die Linke sich gedanklich zu verbarrikadieren begann. Weder konnte noch wollte sie sich der Komplexität der Ereignisse stellen. Derweil hatte die politische Rechte im Namen von Grundrechten und Normalität jede Einschränkung zurückgewiesen. Ihnen gegenüber stand ein erheblicher Teil der Linken, der im Namen der Corona-Toten jegliche Diskussion oder Problematisierung des Ausnahmezustands zurückwies.
Letztlich hätten wir von der Erfahrung aus dem globalen Süden lernen können – und auch müssen. Die C19 People’s Coalition aus Südafrika zum Beispiel tat, was getan werden musste: Mehr als 300 Organisationen und Netzwerke aus dem ganzen Land schlossen sich in dieser Koalition zusammen. Gemeinsam setzten sie sich für den Schutz und die Rechte der am Stärksten Betroffenen in Südafrika ein. Sie leisteten Aufklärungs- und Unterstützungsarbeit in den Communities und suchten nach Wegen der Begegnung. Gegenüber der Weltgemeinschaft demonstrierten sie unter dem Motto „black lives matter – vaccines for all“ gegen die Blockade der Patentfreigabe durch reiche Staaten und für globale Impfgerechtigkeit.
Fünf Jahre später zeigt sich mehr denn je: Gebraucht wurde und wird eine an den Gesundheitsbedürfnissen der Menschen ausgerichtete Politik, die Arzneimittel als globale öffentliche Güter behandelt und die Macht von Pharmaunternehmen im öffentlichen Interesse begrenzt - eine Forderung von Public Pharma for Europe. Es braucht Investitionen in eine Gesundheitsversorgung, die zugänglich ist für alle, unabhängig von Geschlecht, sozialer Herkunft oder Wohnort, wie es sich in Deutschland vielerorts die Gesundheitszentren des Poliklinik Syndikats auf die Fahnen geschrieben haben. Wir werden die nächste Pandemie nur bezwingen können, wenn wir die Sorge umeinander als unverzichtbar akzeptieren und unseren Einsatz für die besonders Gefährdeten maximal erhöhen. Und wenn alle Menschen Zugang zu Impfstoffen und guter Behandlung im Krankheitsfall haben.
Die Corona-Pandemie legte die Risse in unserer Weltgesellschaft auf unerbittliche Weise offen. Und doch scheint wenig aus dieser globalen Erfahrung gelernt worden zu sein.