Die Corona-Pandemie legte die Risse in unserer Weltgesellschaft auf unerbittliche Weise offen. Und doch scheint wenig aus dieser globalen Erfahrung gelernt worden zu sein. Noch immer ist das Patentsystem eines der größten Hindernisse für eine weltweit gerechte Versorgung mit Impfstoffen, Medikamenten, Diagnostika und Medizintechnik. An der Frage des geistigen Eigentums drohen die Verhandlungen zu einem globalen Pandemieabkommen zu scheitern. Die Wissensproduktion im medizinischen Bereich ist auf Gewinnmaximierung und Kapitalerträge und nicht auf die Erforschung und Entwicklung lebensrettender Medikamente und deren gerechte Verteilung ausgerichtet. Dabei liegen Alternativen für ein global gerechtes Gesundheitssystem seit Jahren auf dem Tisch.
Trips, Waiver & Covax
Der von Südafrika und Indien im Oktober 2020 vorgeschlagene Waiver – eine global vereinbarte und in der Welthandelsorganisation (WTO) verankerte Verzichtserklärung von geistigen Eigentumsrechten auf Covid-19 Medizinprodukte für die Zeit der Pandemie – kann die Produktion der dringend benötigten Impfstoffe massiv beschleunigen und die Länder des globalen Südens vor Klagen durch die Pharmaindustrie schützen.
Die Versorgung mit Impfstoffen und anderen notwendigen medizinischen Gütern zur weltweiten Bewältigung der Pandemie würde zudem nicht mehr von nur wenigen Pharmakonzernen kommerzialisiert und kontrolliert, sondern wäre viel breiter aufgestellt.
Die Rechte des geistigen Eigentums sind im internationalen TRIPS-Abkommen (Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums) festgelegt. Das bis heute umstrittene Abkommen wurde 1995 auf Initiative der Industrienationen und internationaler Konzernriesen – vor allem aus den USA – im Rahmen der Gründung der Welthandelsorganisation geschlossen. Auch mit dabei: Pfizer, US-Konzern und einer der Hersteller von Covid-19 Impfstoffen. Pfizer mobilisierte seinerzeit zwölf weitere internationale US-Unternehmen für die Bildung eines Komitees für Eigentumsrechte (Intellectual Property Committee). Das IPC sorgte dafür, dass der möglichst weitreichenden Schutz von Patenten und anderen Formen geistigen Eigentums zu einer Top-Priorität der US-Handelspolitik wurde. Explizites Ziel war es, die von Ländern des globalen Südens bei vorherigen Verhandlungsrunden erhobenen Einwände unwirksam zu machen.
Das TRIPS-Abkommen sieht zwar Ausnahmeregelungen vor, die es im Falle eines Gesundheitsnotstandes gestatten, über sogenannte Zwangslizenzen oder Parallelimporte Medikamente oder einen Impfstoff unter Umgehung des Patentschutzes kostengünstig und lokal herzustellen oder zu beschaffen. Diese Regelungen für unilaterale Ausnahmen haben in den letzten Jahren wiederholt ihre beschränkte Wirksamkeit erwiesen. Zudem sind die Prozesse zu langwierig und kompliziert, um im Falle einer Pandemie entsprechend schnell und effizient zu reagieren.
Der „Waiver” geht weiter als die bisherigen Ausnahmeregelungen, und befördert Technologietransfer für einen Produktionsausbau auch in den Ländern des globalen Südens.
Die zeitweise Aussetzung der Patente würde eine schnellere und bedarfsorientierte Produktion von Covid-19 Medizinprodukten durch mehr Hersteller ermöglichen. Es wäre endlich möglich, Engpässe bei der Herstellung und Verteilung medizinischen Materials, Medikamenten und Impfstoffen aufzufangen. Außerdem könnten die derzeit hohen Preise für Medikamente, Impfstoffe und Tests reduziert werden.
Zudem könnte durch den Waiver eine globale Zusammenarbeit in den Bereichen Forschung und Entwicklung, Herstellung und Bereitstellung von Covid-19-Produkten befördert werden, da nicht mehr die Patenthalter gegeneinander konkurrieren. Dass dies der richtige Weg ist betonte auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits kurz nach dem Ausbruch der Pandemie.
Die Kontrolle über die Versorgung mit Impfstoffen muss in den Händen von verantwortlichen Regierungen liegen, Produktion und Verteilung müssen global koordiniert werden und darf nicht dem Marktinteresse unterworfen werden.
Überraschend hat sich vor kurzem die Biden-Administration zumindest für die zweitweise Aussetzung von Patenten für Covid-19 Impfstoffe ausgesprochen und damit die aktuelle Debatte weiter beflügelt und den Druck erhöht. Mehr als 100 Staaten, fast alle aus dem globalen Süden, sprechen sich mittlerweile für den Waiver aus. Doch die Bundesregierung und auch die EU lehnen die Freigabe von Patenten weiterhin kategorisch ab.
Auch die Pharmaindustrie untergräbt vehement jeden Versuch, Impfstoffpatente oder das technologische Wissen für die Herstellung auch anderen Forschenden oder Produzenten zugänglich zu machen, trotz des weltweiten und dringlichen Bedarfs. Dabei haben die Erfahrungen aus dem Kampf gegen HIV schon in den 1980er Jahren gezeigt, wie verheerend es sich auswirkt, wenn die globale Gesundheitspolitik den Marktinteressen von Big Pharma folgt. So trieben die Hersteller von Aids-Medikamenten die Preise exorbitant in die Höhe und argumentierten, dass nur durch einen starken Patenschutz Innovation gefördert werden könne. Millionen Menschen starben aufgrund der viel zu hohen Kosten für Aids-Medikamente. Jahrzehntelang musste jede Kostensenkung mit hohem politischem Druck und international vernetzen Kämpfen durchgesetzt werden. Erst Anfang der 2000er Jahre konnte die Freigabe von Lizenzen erstritten und kostengünstige Nachahmerprodukte (Generika) – vor allem in Indien – hergestellt werden, was dann auch den Menschen im Globalen Süden zugutekam. Dies hat zu einer deutlichen Eindämmung von HIV/Aids geführt. Doch weiterhin sterben jedes Jahr eine halbe Million Menschen an den Folgen von Aids.
Sollte der Waiver beschlossen werden, würde damit ein Präzedenzfall geschaffen, was sicher dem Ruf nach einer grundsätzlichen Abschaffung von Patenten auf lebensnotwendige Medikamente und Impfstoffe weltweit Nachdruck verleihen würde.
Dies ist vor allem deshalb so relevant, weil das marktorientierte Patentsystem gerade keine Anreize bietet für die Erforschung von Krankheiten, die vor allem arme Menschen im Globalen Süden betreffen. Geforscht wird da, wo sich Geld verdienen lässt. Patentinhaber können sich so ein Monopol auf lange Zeit sichern.
Alternative Vorschläge für das bestehende Patentsystem liegen seit Jahren auf dem Tisch. Deshalb muss jetzt über die Pandemie hinausgedacht werden. Jetzt ist die Zeit einen internationalen Vertrag einzufordern, in dem sich Regierungen zu Transparenz und einer koordinierten Forschung und Entwicklung für neue unentbehrliche Medikamente, Diagnostika und Impfstoffe verpflichten. Das in den Köpfen verankerte Mantra der Pharmaindustrie – ohne Patente keine Innovation – hat sich einmal mehr und so deutlich wie nie als falsch erwiesen.
Und es ist jetzt auch die Zeit den Aufbau von öffentlichen und frei zugänglichen Gesundheitssystemen wieder auf die globale Agenda zu bringen und Lebens- und Arbeitsbedingungen einzufordern, die das Recht auf bestmögliche Gesundheit zu gewährleisten.